Er schuf ein anderes Bild schwuler Männer: Neue Doku würdigt Jimmy Somerville

«Der Unruhestifter» ist eine Homage an Bronski Beat

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Jimmy Somerville (Bild: picture alliance / dpa / Soeren Stache)

Sänger, Aktivist, schwules Vorbild. Arte erinnert an die grossen Erfolge des Bronski-Beat-Sängers Jimmy Somerville, betont seinen politischen Kampf und zeigt, wie aktuell viele seiner Texte noch immer sind.

Als schwules schottisches Arbeiterkind auf die Tanzfläche der Londoner Discos und an die Spitze der britischen Charts. Wer hätte das gedacht? Jimmy Somerville selbst sicher nicht. 1979 setzte er sich in einen Zug nach London, ohne Rückfahrtkarte. Er wusste, dass er inmitten der Fabriken und der toxischen Männlichkeit in Glasgow nicht würde leben, vielleicht überleben, können. Wohin er genau wollte, wusste er nicht. Irgendwie nach London, das war erstmal alles.

Er strandete an einem Londoner Bahnhof und übernachtete dort für einige Zeit. Erst so langsam fand er sich in der Stadt zurecht. Er ging zu der queeren Selbsthilfegruppe «London Gay Teenage Group». Sie wollten eine Doku drehen über ihr Leben, konnten sich aber kein Copyright für Songs leisten, daher schrieb Jimmy selbst welche. Daraus entstand das heute weltberühmte «Smalltown Boy».

So begann die Karriere eines der grössten Popstars der 80er Jahre. Zwei andere junge schwule Musiker sahen die Doku und wollten mit Jimmy zusammen Musik machen. Einer davon hiess Bronksi, der Namesgeber ihrer Band «Bronski Beat». Es folgte ein atemberaubender Aufstieg. TV-Auftritte, grosse Konzerte, Plattenverkäufe. Das alles war aber nicht nur ein Erfolg einer Popband. Es war viel mehr. Denn das, was Jimmy da zeigte, war nichts, was in irgendwelche Schubladen passte. Er erfüllte nicht die Klischees, die damals schwule Männer bedienen sollten.

Jimmy Somerville
(Bild: Photo News/Gamma)

Er war nicht muskulös, er hatte eine hohe Singstimme. Er trug keinen Oberlippenbart, trug auch keine Drag-Kleidung und schminkte sich nicht. Als schwul galten damals George Michael oder Boy George. Jimmy Somerville trug ein Flanellhemd und Doc Martens Boots. Gleichzeitig tanzte er zu Disco-Beats. Diese Kombination war neu. So schuf er ein anderes Bild schwuler Männer.

Dies galt für sein Auftreten, aber für seine Texte. «Alone on a platform, the wind and rain on a sad and lonely face (Allein auf dem Bahnsteig, Wind und Regen auf einem traurigen und einsamen Gesicht)» sprach vielen queeren Menschen aus der Seele. Ebenso wie sie Zeile: «The answers you seek will never be found at home (Die Antworten, die du suchst, wirst du niemals zu Hause finden)». Wo gab es das vorher, das einer von Tausenden umjubelt singt: «And the sweetest thing of all is: men loving men loving men loving men (Das Schönste von allem ist: Männer, die Männer lieben, die Männer lieben, die Männer lieben)».

Was Jimmy Somerville ebenfalls ganz neu zusammen brachte, war sein politisches Engagement und sein Interesse an Party und Spass. Er tanzte nachts in Clubs und verbrachte die Tage auf Demos gegen queerfeindliche Gesetzte in Grossbritannien. So sollte das Plattencover des ersten Albums seiner Band «Bronski Beat» eigentlich ein rosa Dreieck zieren, in Anlehnung an den Rosa Winkel der Nazis. Es kam dann zwar aufs Cover aber etwas kleiner und mit anderen Figuren zusammen. Was aber dann doch ganz offen auf der Rückseite der Platte zu lesen war: eine Übersicht mit den gesetzlichen Bestimmungen europäischer Länder zur Homosexualität. Er wollte zeigen, wie schlecht Grossbritannien hier abschnitt. Deswegen nennt ihn sein ehemaliger Plattenproduzent Colin Bell auch heute noch den «Unruhestifter der 80er Jahre».

Als er immer mehr Erfolg hatte, spürte er, dass dies sich ihn von seiner sozialen Klasse, aus der er stammte, entfremden liess. Er war mittlerweile ein reicher Mann und passte nicht mehr in die Arbeiterklasse, wo man arm war und in Fabriken arbeitete. Zu den Reichen fühlte er sich aber auch nicht zugehörig; so beschrieb er sich selbst als «klassenlos». Er machte das, auch in seinen Songs, zum Thema. Und zwar, 30 Jahre bevor Édouard Louis damit bekannt wurde.

Jimmy kämpfte weiter für Gerechtigkeit für queere Menschen und auch für andere sozial benachteiligte Personen. In diesem Kampf kam er in Kontakt mit Mark Ashton, dem Gründer der «Lesbians and Gays Support the Miners», auf denen der Film «Pride» von 2014 beruht. Ashton setzte sich für Grubenarbeiter ein, da in der Thatcher-Äre in Grossbritannien viele Minen geschlossen werden sollten. Ashton war der Meinung, dass man auch für bedrängte Menschen kämpfen sollte, die selbst anders lebten als die eigenen Freunde. Das imponierte Jimmy.

Der baldige Tod von Mark Ashton war es auch, der das Thema Aids in die Band und in Jimmys Leben hinein trug. Er engagierte sich immer mehr für queere Rechte, kämpfte auch im Ausland, in den Niederlanden und in Frankreich, dafür. Die Plattenfirmen rieten ihm von solch eindeutigen Statements ab, Jimmy interessierte das nicht.

Musikalisch gab es in diesen Jahren viele Umbrüche, aber der Erfolg blieb bestehen. Nach nur zwei Jahren, als er sich bei «Bronski Beat» nicht mehr wohl fühlte, gründete er mit Richard Coles die «Communards». Bekannt ist daraus heute vor allem noch die Single «Don’t leave me this way». Auch hier brach er mit bis dahin Bekanntem: Die Band bestand zum grössten Teil aus Frauen. Viele der Rollen, die im klassischen Rock von Männern übernommen wurden, besetzten hier weibliche Bandmitglieder, erinnert sich die damalige Schlagzeugerin June Miles-Kingston.

Anfang der 90er Jahre zog Jimmy sich aus dem Star-Rummel zurück. Auch sein Bandkollege Richard Coles hielt es nicht mehr aus. Jimmy habe eine ziemliche Diva sein können, sei unzuverlässig geworden, zu proben nicht erschienen, erklärt Richard in der Doku. Eigentlich habe Jimmy am liebsten Shirley Bassey sein wollen, heisst es in der Doku. Jimmy und Richards trennten sich, verfolgen seitdem nun ihre eigenen Wege und haben damit aber ihren Frieden gemacht.

The Communards
(Bild: Pop Films 13 Prods)

Heute, knapp 40 Jahre später, vermittelt Jimmys Musik vieles gleichzeitig, so wird es in der Doku über ihn deutlich. Einerseits einen grossen Abstand zur den Sounds der 80er Jahre. Andererseits sind mache Songs noch immer so eingängig, als wären sie gerade erst geschrieben worden. Vor allem manche sozialkritische Songtexte sind im gegenwärtigen Rechtsruck in Europa und den USA aktueller denn je. Das betont auch das ehemalige Bandmitglied Sarah Jane Morris, wenn sie sagt: «Dieselben Übel erheben heute wieder ihre Häupter.»

Es lohnt sich also, Jimmy Somerville wieder, oder ganz neu, zu entdecken. Gerade auch deswegen, weil er bei manchen mittlerweile vergessen sein dürfte, oder andere ihn nur als Gefangenen seiner Hits kennen. Deswegen ist die Arte-Doku schon ein Gewinn.

Da Jimmy es schon immer unangenehm fand, Interviews zu geben, taucht er auch konsequenterweise in der Arte-Doku nicht auf – nur im Abspann sieht man ihn kurz. Ob er es in Ordnung fände, wenn seine Freunde bei der Doku mitmachten, fragte ihn die ehemalige Schlagzeugerin June. Aber klar doch, meinte er. Und wenn sie alle sagen würden, er sei eine Bitch, fragte sie scherzhaft – kein Problem, sagte Jimmy.

Hier ist die Arte-Doku über Jimmy Somerville zu sehen.

Mehr: «Drama Queens»: Ein Film zeigt der Heteronormativität den Mittelfinger (MANNSCHAFT berichtete)

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