Detransition: «Das diagnostische Verfahren wird sorgfältig durchgeführt»
Interview mit dem Trans-Berater beim Checkpoint Bern
Raphaël Guillet erklärt, warum Geschlechtsidentität ein dynamischer Prozess ist, welche Faktoren eine Detransition beeinflussen können und weshalb die Bedürfnisse dieser Menschen mehr Anerkennung und Unterstützung verdienen.
Raphaël, habt ihr beim Checkpoint Bern bereits Menschen in der Detransition betreut?
Es kommt vor, aber nicht häufig. In der Beratung hatten wir bereits Personen, die eine Transition entweder abbrachen, unterbrachen, rückgängig machten oder sich allgemein neu orientierten. Wichtig anzumerken ist, dass nicht alle sich als detrans oder ihren Weg als Detransition beschreiben. Wir beim Checkpoint wollen auch für diese Menschen da sein, denn es gibt eine grosse Versorgungslücke.
Was kann dazu führen, dass eine trans Person den Wunsch einer Detransition äussert?
Häufige Gründe sind Diskriminierung und mangelnde Unterstützung nach der Transition. Oft hängt dies mit der Realisation zusammen, dass sichtbares Trans-Sein zu Gewalt, Ausgrenzung, Schwierigkeiten bei der Jobsuche oder zu Konflikten in der Beziehung oder in der Familie führen kann.
Neben diesen externen Faktoren gibt es auch interne, zum Beispiel Behandlungen, die nicht das erhoffte Ergebnis erzielen, oder eine Unverträglichkeit mit Medikamenten. Schliesslich gibt es auch strukturelle Faktoren: fehlende Ärzt*innen, Wartelisten oder zu teure Behandlungskosten. Oder die betroffene Person hat neue Prioritäten, um die sie sich kümmern muss. Oder sie erlebt eine Weiterentwicklung ihrer Geschlechtsidentität.
Wie meinst du das?
Wie die sexuelle Orientierung ist die Geschlechtsidentität nicht konstant – sie kann sich im Verlauf des Lebens ändern. Facetten und Nuancen kommen hinzu, andere fallen weg. Manchmal bleibt sie stabil, manchmal schlägt sie komplett um. Wir erachten die Geschlechtsidentität als bio-psycho-sozial, das heisst, sie entwickelt sich nicht nur im Zusammenspiel mit dem Körper und der Psyche, sondern auch mit der Gesellschaft und der Umwelt.
Wir erachten die Geschlechtsidentität als bio-psycho-sozial. Sie entwickelt sich nicht nur im Zusammenspiel mit dem Körper und der Psyche, sondern auch mit der Gesellschaft und der Umwelt
Raphaël Guillet
Ein Beispiel: Vor 50 Jahren gab es den Begriff der Nicht-Binarität nicht. Viele Menschen wussten nicht, dass sie nicht-binär waren. Erst, nachdem sie das Wort gehört hatten, sagten sie: «Das drückt aus, wie ich mich fühle.» Niemand kann wissen, wie sich die Geschlechtsidentität einer Person weiterentwickeln wird.
Wichtig ist, dass man diesen Prozess nicht als Bedrohung, als Täuschung oder gar als Scheitern wahrnimmt. Eine Auseinandersetzung mit dem Geschlecht ist ein gesunder Prozess, ein Weg zum authentischen Geschlecht und zu sich selbst.
Rapid-onset gender dysphoria (ROGD) beschreibt eine «plötzlich auftretende Gender-Dysphorie». Die Theorie wird wissenschaftlich kontrovers diskutiert. Wie stehst du dazu?
Die Theorie beruht auf einer Studie, die methologische Mängel und Biases aufweist und wissenschaftlich nicht bestätigt ist. Die Autorin, die Ärztin Lisa Littmann, definiert ROGD als sozial bedingte Geschlechtsdysphorie und als medizinische Diagnose. In meiner beruflichen Praxis hat sich das nicht bestätigt.
Ich betreue sehr viele Jugendliche. Bei keiner einzigen jungen Person kam die Geschlechtsdysphorie von aussen, so wie das von ROGD postuliert wird. Ich kann aber nachvollziehen, weshalb es für das Umfeld der Person so aussieht.
Wie denn?
Jugendliche machen sich lange Gedanken über ihre Geschlechtsidentität, trauen sich aber nicht, darüber zu sprechen. Sie recherchieren im Internet, sprechen mit Gleichgesinnten und haben dann ihr Coming-out.
Die Familie stellt jedoch eine Kausalität her: «Mein Kind ist zu dieser LGBTIQ-Gruppe gegangen oder hat diese Website besucht und ist jetzt trans.» Wenn man die Jugendlichen jedoch bittet, ihre Geschichte zu erzählen, dann beginnen sie immer mit den Fragen, die sie sich gestellt haben, und ihrer Suche nach Antworten.
Viele Eltern haben Angst vor medizinischen Eingriffen.
Mir ist die Klarstellung wichtig, dass im Umgang mit Trans-Identität heute ergebnisoffen gearbeitet wird. Kindern, die sich als trans beschreiben oder Geschlechtsvarianz zeigen, soll die Möglichkeit gegeben werden, die Geschlechtsidentität zu erkunden, zum Beispiel mit sozialen Rollen – gerade im Wissen, dass sich vieles ändern kann. Medizinisch wird nichts gemacht, das ist auch gar nicht möglich.
Selbst bei Jugendlichen und Erwachsenen kann medizinisch nicht interveniert werden, sofern keine diagnostischen Abklärungen getroffen wurden. Ein Kernkriterium für die Diagnose ist die Persistenz der Geschlechtsidentität über eine gewisse Zeit, mindestens sechs Monate. Dazu muss gesagt werden, dass in der Schweiz derzeit ein derart grosser Engpass in der medizinischen Betreuung für trans Menschen besteht, dass sich die Wartezeiten oft über ein Jahr erstrecken. Die Prozesse gehen sehr langsam vorwärts.
Nadia Brönimann kritisiert, dass die Transition der falsche Weg war. Wie stehst du zu ihrer Kritik?
Nadia Brönimanns Geschichte berührt mich sehr und ich bewundere ihren Mut, damit an die Öffentlichkeit gehen. Zu unterscheiden ist jedoch zwischen der Kritik an ihrer eigenen Transition und zwischen der Kritik an der medizinischen Versorgung von trans Personen allgemein.
In Nadias Fall haben Ärzt*innen sie offenbar zu wenig zur Reflektion animiert und sind ungenügend auf unterliegende psychische Faktoren eingegangen. Ich verstehe ihre Vorwürfe. (Hier kannst du Nadias Geschichte lesen)
Aus meiner beruflichen Praxis kann ich sagen, dass ihre Erfahrungen eine Ausnahme sind. Ich stelle fest, dass das diagnostische Verfahren sorgfältig und fachgerecht nach internationalen Richtlinien durchgeführt wird.
Es stimmt, dass sich hinter einem Transitionswunsch eine andere Ursache als Transidentität verstecken kann. Es gibt jedoch klare Richtlinien für den diagnostischen Umgang damit.
Wie stark kann man sich auf eine Trans-Diagnose verlassen?
Auf die Diagnose kann man sich verlassen. Man kann aber die Verantwortung für die Folgen der beschlossenen Massnahmen nicht den Fachpersonen abschieben. Psychiater*innen können nicht garantieren, dass eine Geschlechtsdysphorie auch in zehn Jahren noch besteht oder dass die Entscheidung für eine medizinische Transition die richtige ist. Diese Fragen sind eine grosse ethische Herausforderung für alle Beteiligten. Was aber klar ist: Nichtstun kann genauso verheerende Folgen haben wie das Tun.
Wie haben sich die diagnostischen Verfahren zu den 90er-Jahren verändert, als Nadia Brönimann transitioniert ist?
Es hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Früher gab es vorgegebene Schritte, die man für eine Transition absolvieren musste. Davon ist man komplett weggekommen. Heute stehen die Selbstbestimmung und die individuellen Bedürfnisse im Vordergrund.
Welche Massnahmen sind in welcher Reihenfolge und in welcher Kombination hilfreich? Wie kann man das Wohlbefinden einer Person mit Geschlechtsdysphorie optimieren? Aus einem Mann eine Frau zu machen und umgekehrt ist heute nicht mehr das Ziel.
Ist es möglich, das Risiko einer Detransition zu minimieren, bevor eine Person eine medizinische Transition beginnt?
In der Beratung, Begleitung und Diagnostik muss die Person zur Reflektion angeregt und kritisch hinterfragt werden: «Kann man deine Aussagen anders interpretieren? Lassen sich deine Gefühle mit etwas anderem in Verbindung bringen?» Diese Fragen müssen gestellt werden. Unsicherheiten, Zweifel und Ambivalenzen müssen Raum bekommen und normalisiert werden, denn sie sind Teil von wichtigen Lebensschritten.
Ich bin ein Befürworter des Entscheidungsfindungsmodells «Shared Decision Making»: Fachpersonen orientieren sich am Wertesystem der Person und fällen den Entscheid gemeinsam mit ihr. Beide tragen die Verantwortung mit allen Konsequenzen. Shared Decision Making führt vermutlich nicht zu weniger Detransitionen, aber sicherlich zu weniger Fällen von Reue.
In den Medien kritisierte Nadia Brönimann, dass die Schweizer Trans-Community ihr Anliegen nicht ernst nimmt.
Sie hat absolut Recht, wenn sie sagt, dass Personen, die eine Transition abbrechen oder rückgängig machen, nicht gehört oder gar zum Schweigen gebracht werden. Diese Personen finden nirgends Anschluss oder Unterstützung, weder im eigenen Umfeld, in der Community oder bei Fachpersonen. Das macht mich wütend und traurig. Menschen, die detransitionieren, sind genauso Teil der Community wie alle anderen auch. Es ist wichtig und dringend, dass wir Vorurteile abbauen, denn wir können voneinander lernen und haben viele gemeinsame Anliegen.
Vor ein paar Monaten wurde in Zürich das Haven99, das erste Deutschschweizer Schutzhaus für Queers, eröffnet. Die Casa Resistencias, eine analoge Institution in Rio de Janeiro, existiert bereits seit zwei Jahren. Unterschiedliche Kulturen, gleiche Mission: Menschen aus der Community ein (vorübergehendes) Zuhause bieten (MANNSCHAFT+).
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