Schutzhäuser für Queers: Nur nicht kleben bleiben
Über das Zürcher Haven99 und die Casa Residencica in Rio de Janeiro
Vor ein paar Monaten wurde in Zürich das Haven99, das erste Deutschschweizer Schutzhaus für Queers, eröffnet. Die Casa Resistencias, eine analoge Institution in Rio de Janeiro, existiert bereits seit zwei Jahren. Unterschiedliche Kulturen, gleiche Mission: Menschen aus der Community ein (vorübergehendes) Zuhause bieten.
Es ist nicht einfach, als Reporter über Schutzhäuser zu berichten, zumal es sich um sensible Objekte handelt, deren Koordinaten unbekannt und deren Bewohner*innen anonym bleiben müssen. So auch im Fall des Haven99, das sich irgendwo im Kanton Zürich befindet und momentan fünf Personen beherbergt, die alle zwischen 18 und 25 Jahre alt sind.
Alle stehen mit ihrer Queerness im privaten Umfeld irgendwie im Konflikt. Sie können im Schutzhaus ein Schlafzimmer nach eigenem Gusto einrichten und teilen alle weiteren Räumlichkeiten mit den anderen jungen Erwachsenen. Die Idee ist, dass zusammen gekocht, geputzt und gewaschen wird. «Sie sollen sich hier wohl, aber nicht zu sehr zuhause fühlen», fasst es der Vereinspräsident Samuel Farinato zusammen. Er spricht damit an, dass die Aufenthaltsdauer – im Idealfall – auf ein Jahr beschränkt ist. Spätestens dann wird mit den Gästen das Gespräch gesucht über künftige Optionen.
Das Haus möchte nicht als Klinik oder «betreutes Wohnen» angesehen werden, sondern als organisierte und geschützte Wohngemeinschaft. Im Konzept ist nicht von Betreuungspersonal, sondern von Bezugspersonen die Rede. Diese arbeiten – wie der Rest des Vereins – freiwillig, remote und je nach Bedürfnis der zugeteilten Bewohner*innen.
Professioneller Anspruch
Der Verein Haven99 wurde letztes Jahr von fünf jungen Freund*innen gegründet; die Zahl im Namen entspricht dem Geburtsjahr der meisten von ihnen. Als allererstes holten sie sich Feedbacks und Erfahrungswerte von etablierten LGBTIQ-Organisationen. Diese waren einerseits begeistert über Initiative und Tatendrang des Vereins, andererseits skeptisch gegenüber des grossen Vorhabens, das ausschliesslich auf Freiwilligenarbeit bauen soll. Samuel, dessen Idee am Anfang stand, vermisste jedenfalls ein Angebot für Queers in der Schweiz, die sich zuhause nicht wohl fühlen.
Ich treffe ihn zusammen mit Barbara Ivisic, einem weiteren Teammitglied, im Zürcher LGBTIQ-Café Kweer. Es ist ein heisser Sommertag, wir setzen uns in den Schatten eines Baumes und bestellen Eisgekühltes. Das Haus stecke noch in Kinderschuhen, da es erst im Februar dieses Jahres eröffnet worden sei, verrät uns der gelernte Polymechaniker, der jetzt als Gate Agent am Flughafen arbeitet. Barbara hingegen ist gerade als Barista tätig und beginnt bald ein Praktikum im Bereich Soziokultur.
Auch sie habe sich immer gewundert, dass es in der Schweiz (bis auf ein Haus in Genf) keine vergleichbaren Angebote gebe. Als sie dann über Instagram auf das Haven99 stiess, meldete sie sich unverzüglich bei Samuel. Seither kümmert sie sich um die Administration und ist im engen Austausch mit den Bezugspersonen.
«Diese sind auf keinen Fall Ersatztherapeut*innen, sondern unterstützen die Bewohner*innen beispielsweise bei Unsicherheiten im Bezug auf das neue Zuhause oder auch bei der Jobsuche», erläutert Barbara. Diejenigen, die auf Therapie angewiesen seien, hätten bereits einen Therapieplatz. Nichtsdestotrotz hätten die Bezugspersonen alle einen Abschluss im sozialen Bereich, da Professionalität im Umgang mit jungen, vulnerablen Menschen zentral sei.
Prinzip Selbstermächtigung
Denselben Anspruch hat auch das Team der Casa Resistencias, das im Maré, einer Favela im Norden Rio de Janeiros, steht. 2022 von einem lesbischen Kollektiv eröffnet, beherbergt es lesbische, bisexuelle und trans Frauen, die von zuhause vertrieben wurden oder geflüchtet sind. Dieser Ort funktioniert also nach dem Quilombo-Prinzip, einer Art selbstermächtigter Selbsthilfe, die unter Sklav*innen während der portugiesischen Besatzung entstand.
Auch hier arbeiten ausschliesslich Freiwillige, die neben diesem Engagement weiteren Jobs nachgehen; drei von ihnen sind die Sozialarbeiterin Dayana Gusmão, die Psychologin Kimberly Veiga, und die Historikerin Beatriz Virgína. Wir verabreden uns zu einem Videocall zusammen mit Marcos Melo von All Out Brasil, der uns als Dolmetscher unter die Arme greift.
«Für queere Frauen war die Situation in Brasilien nie wirklich rosig», erzählt Dayana, «aber mit der Pandemie hat sie sich noch mehr zugespitzt als zuvor.» In jener Zeit sei es schwieriger gewesen, die eigene Orientierung oder Identität vor der Familie geheim zu halten. Ausserdem habe die häusliche Gewalt zugenommen. «Geoutete Queers werden von den Familien toleriert, solange sie finanziell aushelfen. Aber da viele von ihnen durch Covid ihren Job verloren, könnt ihr euch vorstellen, was passierte.» Sie spricht bedacht und mit klarer Aussprache – fast so, als würde sie wollen, dass ich sie auch ohne Übersetzung verstehe. Ich denke, es ist ihr wichtig, dass ihre dringenden Worte sicher ankommen. «Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir den Bewohnerinnen bei der Jobsuche helfen und sie darüber aufklären, welche berufliche Möglichkeiten sie haben – auch ohne Schulabschluss», meint Beatriz, deren Ressort im Haus die Bildung ist.
Patinnensystem
Den physischen Ort konnte sich das Kollektiv damals durch staatliche Hilfsgelder leisten. Als nach den vier Jahren unter dem ultrarechten Jair Bolsonaro der Arbeiterpartei-Exponent Lula da Silva wiedergewählt wurde, war für die Community und deren Hilfsorganisationen wieder einiges möglich. Das Programm «Acolher+» beispielsweise unterstützt zwölf queere Schutzhäuser (von landesweit total 27), eine Premiere in der Geschichte Brasiliens.
Unterhalt, Nebenkosten und Nahrung finanziert die Casa Resistencias durch private Organisationen und Hilfe sogenannter Patinnen; Frauen aus Politik, Kunst und Kultur, die mehr Privilegien geniessen als die Betreuten des Hauses. Sie alle haben irgendeinen Bezug zur Organisation, viele von ihnen sind selbst im Maré-Quartier aufgewachsen. Es scheint ein ähnliches Prinzip zu herrschen wie in anderen Schwellenländern: Wenn der Sozialstaat bei der Grundversorgung seiner Bürger*innen nicht genug greift, gleichen Privatpersonen die Missstände aus.
«Die Idee ist nicht, für immer hier zu wohnen.»
Paloma, Bewohnerin Casa Resistencias
Ähnlich wie im Zürcher Haven99, ist auch hier der Aufenthalt nicht als langfristige Lösung gedacht; die Bewohnerinnen sollen lernen, auf eigenen Füssen zu stehen. Kelly und Paloma, zwei Frauen aus der Casa Resistencias, scheinen auf gutem Weg dahin zu sein. Die beiden wurden in einem Promovideo von All Out Brasil interviewt. «Die Idee ist zwar nicht, für immer hier zu wohnen – aber wir können hier gut runterkommen, auftanken, uns selbst sein», lächelt Paloma in die Kamera.
Sie fühle sich in diesem Haus mehr willkommen als bei sich zuhause. Kelly ist ähnlicher Meinung: «Weil wir sonst kein Netzwerk haben, ist diese Institution sehr wichtig für uns. Hier können wir jederzeit hinkommen, auch nur, um etwas zu essen zu bekommen.» Dayanas Gedanken passen dazu: Manchmal gehe es nur darum, mit den Betreuten einen Kaffee zu trinken und sie aus ihrem negativen Gedankenkarussell herauszuholen. «Wenn eine unserer Frauen wieder einmal im Selbstmitleid versinkt, weil ihre Familie sie verstossen hat, sage ich zu ihr: Schau mal um dich rum – das ist deine neue Familie», schmunzelt sie.
Lösen vor Flüchten
Im Haven99 hingegen scheinen materielle Grundbedürfnisse nicht im Vordergrund zu stehen: «Unsere Interessent*innen sind im Normalfall schon berufstätig und bewerben sich ziemlich normal auf ein WG-Zimmer, für welches sie dann auch Miete bezahlen», erklärt Samuel. Diese sei allerdings um einiges tiefer als eine durchschnittliche Zimmermiete in der Region. Auch gebe es bei ihnen bis jetzt niemanden, der von Zuhause rausgeschmissen worden sei. Für solche Fälle sei in Zürich normalerweise das Schlupfhaus Nemo zuständig; allerdings habe auch das Haven99 ein Notschlafzimmer eingerichtet, für den Fall der Fälle.
«Einige würden am liebsten für immer von Zuhause flüchten, aber unsere Empfehlung an sie ist jeweils, zu versuchen den Konflikt einvernehmlich zu lösen.» Erst wenn diese Möglichkeit ausgeschöpft sei, würden sie zusammen über langfristige Alternativen nachdenken. Auch das sei dann Aufgabe der Bezugspersonen. Die meisten von ihnen seien selbst queer, und die restlichen hätten einen Bezug zur Community, was für diese Tätigkeit elementar sei, ergänzt Barbara.
Sie würden ihre Arbeit gerne machen, da sie viel Gestaltungsspielraum hätten und froh seien, dass so ein Projekt endlich zustande gekommen sei. «Es gibt aber auch Herausforderungen, wie zum Beispiel jene der Nähe und Distanz: In welchem Rhythmus sollen sie sich mit den Bewohner*innen treffen? Sollen sie sich ein Arbeitshandy anschaffen? Wie schnell schreiben sie zurück?» Zur Absicherung der Bezugspersonen hat sich der Verein zu Beginn mit einem Oberarzt aus dem Bekanntenkreis abgesprochen. Unterstützung ja, Abhängigkeitsverhältnis nein, sei die Devise.
Leben und Leiden in der Favela
Spätestens wenn in Rio die Sonne untergeht, gilt es, die Hausregeln der Casa Resistencias zu befolgen. «Unsere Bewohnerinnen sollen die grösstmögliche Freiheit und Selbständigkeit haben», meint Kimberly, «aber gewisse Regeln wie Nachtruhe und Drogenverbot sind unbedingt einzuhalten.» Letzteres sei in einer Favela leider nicht zu weit hergeholt und führte auch schon zu Konflikten.
Eine der Mitgründerinnen des Kollektivs sei Jahre später auch eine der ersten Hilfesuchenden geworden; sie erlebte Zuhause immer wieder Gewalt, weil sie lesbisch war. Anfangs im Schutzhaus aufgenommen, habe sie begonnen, sich mit Mitbewohnerinnen zu verkrachen und exzessiv Drogen zu konsumieren. Das sei nicht mehr tragbar gewesen und auch für sie selbst emotional schwierig geworden, da sie früher selbst Teil des Kollektivs gewesen sei.
Sicherheitsprobleme gebe es immerhin keine, da die Familien irgendwann von sich aus den Kontakt zu den Frauen abbrechen. «Weil sie die Hoffnung aufgeben, dass ihr Kind nur eine Phase durchläuft», seufzt Dayana.
Allerdings gebe es leider immer wieder Gewaltbereitschaft im Quartier – nicht zuletzt vonseiten der Polizei. Diese führe Operationen und Razzien durch, ohne medizinische Hilfe für allfällige Opfer zu gewährleisten; schiesse massiv auch in der Nähe von Schulen und Spitälern; fahre mit weniger Wagen aus der Favela raus, als ursprünglich rein, um später aus dem Hinterhalt zuzuschlagen. Dabei kämen immer wieder auch unschuldige, vorwiegend schwarze Menschen ums Leben, was mit dem strukturellen Rassismus innerhalb der brasilianischen Polizei zu tun habe. «Wir sehen auch das als Teil unseres Engagements: Daten zu sammeln über queerphobe, häusliche und polizeiliche Gewalt, weil der Staat das nicht wirklich tut», hält Dayana fest. Ausserdem seien sie politisch aktiv und im Dialog mit der Regierung, um bessere, sicherere Bedingungen für Menschen in den Favelas zu schaffen.
Besonders Jugendliche zwischen 15 und 18 Jahren, die auf Hilfe angewiesen seien, würden oft durch alle Maschen fallen, da Brasilien ein sehr strenges Kinder- und Jugendschutzgesetz habe. Viele Organisationen mit wenig Ressourcen würden davor zurückschrecken, den bürokratischen Aufwand und drohende rechtliche Konsequenzen auf sich zu nehmen. Diese Hürden zu reduzieren, sei auch ein erklärtes Ziel des Kollektivs.
Blick nach vorn
Wenn man Samuel und Barbara des Haven99 nach Wünschen für die Zukunft fragt, antworten sie mit klaren Vorstellungen: Mehr Mitglieder, mehr Mitarbeitende, jährliche Beiträge von Stiftungen, eines Tages vielleicht ein zweiter Standort. Ansonsten wirken sie sehr zufrieden und fühlen sich getragen, auch weil die kantonale Opferhilfe und bald auch das städtische Sozialdepartement mit ihnen kooperiert. «Wir konnten schon einigen jungen Erwachsenen helfen, mehr Selbstvertrauen zu gewinnen und ein besseres Verhältnis zu ihrer Familie zu bekommen», sagt Simone stolz. Abstand von zuhause könne Dinge wieder ins Lot bringen, das sei bei seinem Coming-out ähnlich gewesen: «Nachdem ich längere Zeit den Kontakt zu meinen Eltern abgebrochen hatte, fingen sie irgendwann an, mich zu vermissen – unabhängig von meiner Queerness.»
Auch Beatriz, Kimberly und Dayana sind stolz auf ihre Errungenschaften. Dennoch gebe es noch viel zu verbessern, angefangen bei den finanziellen Möglichkeiten. Es fehle immer wieder an Geld für Anschaffungen, Renovationen, Tickets für den öffentlichen Verkehr. «Ausserdem soll psychologische Betreuung nicht der Oberschicht vorbehalten sein», sagt Kimberly nachdenklich.
Unser Gespräch will Dayana mit einer positiven Geschichte beenden. Vor einiger Zeit sei ihr eine Bewohnerin sehr ans Herz gewachsen; diese sei die jüngste Bewohnerin in der Geschichte der Casa Resistencias und eine quirlige, sympathische Persönlichkeit gewesen. Als sie schon nach wenigen Wochen eine Stelle bei einer Imbissfirma gefunden habe, sei sie wieder ausgezogen und habe sich nie mehr blicken lassen. Als Dayana sie eines Tages hinter einer Theke angetroffen habe, habe sie von der jungen Frau wissen wollen, weshalb sie ihre Nachrichten nie beantworte – worauf diese kurz und bündig meinte: «Ich mache nur das, was du mir damals beigebracht hast: auf eigenen Füssen stehen und nicht bei euch kleben bleiben!»
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