Nadia Brönimann: «Ich hätte niemals transitionieren dürfen»
Über Labels und Schubladen, Detransition und Reue
Als Nadia Brönimann vor bald 27 Jahren ihre Transition zur Frau durchlief, liess sie die ganze Schweiz daran teilhaben. Heute befindet sie sich in der Detransition, spricht öffentlich darüber und stösst damit einem Teil der queeren Community vor den Kopf. Eine Entdeckungsreise in drei Akten.
Wenn sich Nadia Brönimann eine neue Frisur zulegt, dann ruft gleich die Presse an. Nicht irgendein Boulevardblatt, sondern eine der grössten Tageszeitungen der Deutschschweiz. Der Tages-Anzeiger wertet den Kurzhaarschnitt als Bekenntnis zur Männlichkeit. «Die bekannteste trans Frau der Schweiz will zurück zu ihrem alten Ich», so die Schlagzeile. Nadia hatte aber nur Lust auf einen Pixie-Cut.
Richtig ist jedoch, dass die weibliche Identität für Nadia nicht mehr ganz stimmig ist – ein Gefühl, das sie schon länger begleitet. Die Reise zurück auf dem Spektrum in Richtung Männlichkeit ist aber schleichend und keine kurzfristige Entscheidung wie beim Friseur.
Der Kurzhaarschnitt macht Nadia nicht mehr Mann und nicht weniger Frau. «Es ist krass, wie sehr die Gesellschaft lange Haare mit Weiblichkeit assoziiert», sagt Nadia. Wir treffen uns an einem angenehmen Oktober-Nachmittag in Lachen am Zürichsee und sprechen fast anderthalb Stunden über ihren Weg. Über Labels und Schubladen, über Detransition und Retransition und über Reue.
Für diesen Artikel verwenden wir mit Nadias Einverständnis ihren weiblichen Namen und weibliche Pronomen. «Nadia war seit fast 30 Jahren Jahre ein Teil von mir und ist es auch heute noch. Aber Chris ist es eben auch», sagt sie.
Akt 1: Die Entfremdung Nadias von sich selbst
Nadia signiert ihre E-Mails mit Chris/Nadia und lässt sowohl männliche als auch weibliche Pronomen zu. Chris als Kurzform von Christian, ihr Geburtsname. Auf die Frage des Fotografen, welchen Namen sie bevorzugt, sagt sie lachend: «Das ist mir egal. Nenn mich einfach nicht Michael, weil dann reagiere ich nicht.»
Fragen hatte auch ihr Umfeld. Ob sie denn jetzt wieder Christian sei, will man wissen. Nadia verneint. Nicht-binär? Auch das passt nicht. Das Geschlecht ist kein Schalter, den man einfach umlegt. Nadia will nicht zurück zu Christian, sondern verortet sich irgendwo dazwischen. Sie weiss, dass das für eine Mehrheit der Gesellschaft nicht einfach nachzuvollziehen ist: «Menschen mögen Schubladen, das gibt ihnen ein Gefühl der Sicherheit. Aber zurück in eine Schublade möchte ich nicht.»
Der Weg, den ich gehe, ist wie eine neue Transition, nach vorne im Leben, hin zu etwas Neuem
Chris/Nadia Brönimann
Nadias Geschichte fällt unter Detransition. Diese Bezeichnung wird verwendet, wenn eine trans Person eine Geschlechtsangleichung rückgängig macht. Oft identifiziert sich diese dann wieder mit dem Geschlecht, das ihr bei der Geburt zugewiesen wurde. Aber nicht immer.
Wenn Nadia von ihrer eigenen Geschichte erzählt, zieht sie die weniger gängige Bezeichnung «Retransition» vor. «Der Weg, den ich gehe, ist wie eine neue Transition, nach vorne im Leben, hin zu etwas Neuem – einer anderen Geschlechterrolle», sagt sie. «Detransition nehme ich persönlich als ein Zurück wahr. Daher trifft dieses Wort meine persönliche Empfindung nicht.»
Nadias Entfremdung von sich selbst äusserte sich unter anderem frühmorgens mit einem Gefühl der Schockstarre. Der Gedanke ins Bad zu gehen und sich im Spiegel zu sehen, beschreibt sie als lähmend. Sich als Frau zu frisieren, schminken, kleiden und sich auch so zu verhalten wurde zu einem Korsett, das ihr allmählich die Luft abschnürte. Der Selbsthass, ein alter Bekannter Nadias, machte sich bemerkbar, kroch in ihr auf. Sie realisierte, dass sie einen Schlussstrich ziehen musste.
Jahrelang erhielt sie Komplimente zu ihrem Passing, Bemerkungen wie «Du siehst aus wie eine richtige Frau» spornten sie an. So sehr, dass sie mit diesen Bestätigungen ihr eigenes Gefängnis baute. Heute hat sie keine Lust mehr, diese Ansprüche zu erfüllen.
«Die Gesellschaft erwartet von trans Frauen Perfektionismus – viel mehr als von cis Frauen», sagt sie. Ein Beispiel dafür sei die Körperbehaarung. Während viele cis Frauen natürlich behaarte Unterarme haben oder sich im Zeitalter der Body Positivity gegen eine Rasur der Achsel- und Beinhaare entscheiden, wird eine solche Behaarung bei trans Frauen als Makel gesehen, als Indiz einer nicht kompletten Weiblichkeit. «Die Leute sehen diese Makel als Beweise, dass man ‹eben einmal ein Mann war›.»
Es ist jedoch nicht nur ihre Psyche, die mit ihrer Identität als Frau ins Hadern gekommen ist. Ihr Körper machte 16 Operationen durch. Nadia hat Osteoporose und kardiovaskuläre Probleme, die sie als Langzeitfolge ihrer Hormontherapie erachtet. Studien belegen, dass eine Abnahme der Knochendichte und eine Entwicklung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei trans Personen vermehrt auftreten können. Seit ihrer operativen Transition 1998 ist ihr Lustempfinden gestört, das Erleben von körperlicher Sexualität nahezu unmöglich.
Akt 2: Christian hätte Christian bleiben müssen
Mit dem Selbsthass machte Nadia bereits als Kind Bekanntschaft, im Jugend- und frühen Erwachsenenalter wurde er zu ihrem Begleiter. Schon in jungen Jahren war sie seelischen Misshandlungen ausgesetzt.
«Ich kriegte nie zu hören, dass man mich gern hatte, dass es okay ist, wie ich bin», erinnert sich Nadia. Sie kam ins Kinderheim, mit sieben Jahren wurde sie adoptiert. «Irgendwann kam das Gefühl, dass ich mit einem anderen Körper jemand Neues werden konnte. Dass mein Leben endlich beginnen würde.»
Die Identität als Frau wurde für den damaligen Christian zur Rettung aus dem alten Leben. Mit 29 Jahren liess er sich 1998 im Universitätsspital Zürich operativ angleichen – oder, wie man damals sagte, «zur Frau umoperieren». In dieser Zeit galten in der Schweiz noch andere, strikte Regelungen für trans Personen.
Damit Christian auch rechtlich als Nadia anerkannt werden konnte, mussten invasive und aus heutiger Sicht menschenunwürdige Behandlungen durchgeführt werden: Neben einer vollständig geschlechtsangleichenden Operation war auch eine irreversible Sterilisierung vorgegeben.
Erst ab den 2010er-Jahren legten Gerichte in der Schweiz die Vorgaben für den Wechsel des amtlichen Geschlechts lockerer aus. Für Signalwirkung sorgte ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte 2017, das Zwangssterilisationen und -operationen als Verstoss gegen das Recht auf das Privatleben einstufte.
In der Schweiz können trans Personen seit 2022 mit einer einfachen Erklärung ihr Geschlecht in ihren Dokumenten ändern lassen, in Deutschland seit dem 1. November 2024 (MANNSCHAFT berichtete). In Österreich sind dafür weiterhin psychiatrische Gutachten nötig.
Für Nadia ist heute klar: Christian hätte Christian bleiben müssen. «Ich hätte niemals transitionieren dürfen», sagt sie. Während für viele trans Menschen eine Geschlechtsangleichung ein Mittel zur wahren Identität darstellt, war es für Christian eine Flucht. Doch in den 90er-Jahren mangelte es an Ressourcen, an geschultem Fachpersonal. «Ich hatte niemand, der mich beriet, und mir fehlte es an Möglichkeiten, mich zu informieren», sagt sie.
«Ich hätte an meiner Seele arbeiten sollen, statt zum Skalpell zu greifen»
Chris/Nadia Brönimann
Nadia war Pionierin. Sie gehörte zu den ersten Personen, die der Transidentität in der Schweiz ein Gesicht gaben. Sie wurde zur «berühmtesten trans Frau der Schweiz» und war beliebtes Fotomotiv der Klatschpresse. Sie veröffentlichte zwei Bücher, in denen sie ihre schwierige Kindheit und Jugend und ihren neuen Alltag als Frau beschrieb. 2004 war sie Protagonistin von «Sex-Change. Wie Christian zu Nadia wurde», ein Dokumentarfilm des Schweizer Fernsehens.
«Rückblickend finde ich es krass, wie viele Auffälligkeiten in meiner Biografie deutlich machen, dass die Transition völlig falsch war», sagt Nadia. «Ich hätte an meiner Seele arbeiten sollen, statt zum Skalpell zu greifen.»
Akt 3: Chris/Nadia geht in die Zukunft
Nadia bereut ihre Transition – bereut, was sie Christian und seinem gesunden Körper angetan hat. Wer ihre Geschichte kennt, weiss, weshalb sie nicht zurück zu Christian kann, weshalb sie von Retransition statt von Detransition spricht. Sie will als Chris/Nadia in die Zukunft gehen. Nadia bleibt Pionierin.
Heute geht es Nadia manchmal gut, manchmal weniger. Gut geht es ihr, wenn sie sich im Alltag befindet. Wenn sie in der Natur sein kann oder im Café am Zürichsee arbeitet, in dem wir unser Interview führen. Eher weniger gut geht es ihr, wenn sie körperliche Schmerzen hat oder wenn Fragen und Ängste sie plagen. In solchen Situationen will Nadia nach vorne blicken. «Ich will weiter vorwärts gehen, jetzt habe ich eine Abzweigung hinter mir und schaue, wohin mein Weg als Chris/Nadia mich führt», sagt sie.
Die Abzweigung steht einerseits für einen Abschied von Nadia, vom Frausein, andererseits für ihr zweites Coming-out, das sie mit einem Haarschnitt losgetreten hat. «Der erste Schritt war schwierig, denn du trägst es ewig mit dir rum. Danach kommt die Erleichterung», sagt sie.
«Das diagnostische Verfahren wird sorgfältig durchgeführt»
Im Interview spricht Raphaël vom Checkpoint Bern über die seltene, aber wichtige Begleitung von Menschen in der Detransition. Er erklärt, warum Geschlechtsidentität ein dynamischer Prozess ist, welche Faktoren eine Detransition beeinflussen können und weshalb die Bedürfnisse dieser Menschen mehr Anerkennung und Unterstützung verdienen – sowohl in der Fachwelt als auch in der Community.
In der Schweiz gibt es keine etablierte Anlaufstelle oder offizielle Organisation für Detransition. Nadia ist in Kontakt mit Personen, die in einer ähnlichen Situation sind wie sie und betreibt die Instagram-Seite «detrans_schweiz». Damit will sie ihre Geschichte erzählen und dazu beitragen, dass andere nicht denselben Fehler machen wie sie. Sie setzt sich dafür ein, dass nur Personen mit einer gefestigten psychischen Gesundheit und einer klinisch abgesicherten Diagnose einen Zugang zu medizinischen Massnahmen für eine Geschlechtsangleichung erhalten.
Von Trans-Organisationen in der Community fühlt sich Nadia nicht gehört und nicht verstanden – eine Steilvorlage für Medien, um die Thematik mit der gegenwärtigen Gender-Debatte in Verbindung zu bringen, teils mit reisserischen Behauptungen.
Uneinigkeit besteht unter anderem über die von Nadia unterstützte ROGD-Theorie. Rapid-onset gender Dysphoria (ROGD) ist wissenschaftlich umstritten und besagt, vereinfacht ausgedrückt, dass eine Geschlechtsinkongruenz von aussen herbeigeführt werden könne. Bestärkt durch Social Media seien Jugendliche «plötzlich aus dem Nichts überzeugt», trans zu sein.
Am 7. November sprach Nadia vor dem Grossen Rat der Menschenrechtskommission in Genf und plädierte für ein Verbot von Hormonen und Pubertätsblockern bei Minderjährigen mit möglichen Ausnahmen. Einige Kinderärzt*innen und Fachpersonen teilen ihre Meinung und fordern neue Leitlinien. Andere widersprechen ihr, darunter Transgender Network Switzerland TGNS. Ein Pauschalverbot würde denjenigen Jugendlichen schaden, die auf gezielte Massnahmen angewiesen seien, so der Tenor in verschiedenen Medien.
Schliesslich könne auch die fortschreitende Pubertät bei gewissen trans Jugendlichen irreversible Schäden zur Folge haben. Und: Sich für eine medizinische Geschlechtsangleichung zu entscheiden und sie anschliessend zu bereuen, habe nichts mit dem Alter zu tun.
Nadia will Detransition sichtbar machen und offen darüber mit der Community diskutieren. Wichtig ist ihr aber, dass sie nicht als transphob oder als Gegnerin von Geschlechtsangleichungen wahrgenommen wird.
«Ich kenne trans Menschen, bei denen die medizinische Massnahme richtig war und bei denen gesundheitlich alles rund läuft. Das ist wunderbar. Ich kenne aber auch andere, die viele Probleme mit den Langzeitfolgen ihrer Transition haben», sagt sie. «Beides ist real und findet statt. Wenn ich kritisch rede, dann tue ich das, weil ich auch mögliche negative Seiten thematisieren will.»
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