Biopic «Cranko» ehrt den früh gestorbenen schwulen Ballettstar
Bevor John Cranko in Stuttgart eine Tanzrevolution lostrat, musste er wegen seiner Homosexualität gegen ein Arbeitsverbot kämpfen
Rastlos war er und kreativ, ein Menschenverführer, aber auch ein Künstler, der privat immer wieder an sich selbst scheiterte: Ein Spielfilm setzt Stuttgarts Ballett-Legende John Cranko (1927-1973) ein Denkmal.
Von Martin Oversohl, dpa
Es sind nur wenige Meter vom Büro des Stuttgarter Ballett-Intendanten Tamas Detrich in den Proberaum am Ende des Flurs im Staatstheater. Seit vielen Jahrzehnten werden dort die Schritte und Sprünge für die grosse Bühne einstudiert. Der Raum mit seinem überdimensionalen Spiegel, den alten Ballettstangen und dem Klavier ist die Herzkammer des Stuttgarter Balletts. Hier formte der legendäre Tanz-Direktor John Cranko in den 1960er Jahren aus einem Provinzballett eine weltweit gefeierte Truppe.
Meisterhaft war er und melancholisch, beseelt und besessen – das Biopic «Cranko» erinnert nun im Kino an den gefeierten, den geliebten und auch den geschmähten Lebemann und Künstler, der nach seinem frühen Tod bleibende Spuren nicht nur, aber vor allem in Stuttgart hinterlassen hat.
«Cranko lebt auch weiterhin in den Tänzerinnen und Tänzern von damals und heute in Stuttgart», sagt der britische Schauspieler Sam Riley («Control»), der den Protagonisten in dem neuen Streifen von Regisseur Joachim A. Lang («Führer und Verführer») interpretiert. «Sie sind wie seine Jünger, die sein Werk und seine Methode weitertragen. Sein Wille ist im Stuttgarter Ballett allgegenwärtig.»
Er pushte die Truppe leidenschaftlich an die Weltspitze Über das Stuttgarter Haus muss Cranko in den frühen 1960er Jahren gefegt sein wie ein Orkan. Zunächst nur als Gast-Choreograph eingeladen, dann vom damaligen Intendanten Walter Erich Schäfer als Ballett-Direktor engagiert, pusht er die Truppe akribisch, leidenschaftlich zur Weltspitze.
In seinen Interpretationen soll es um Liebe gehen, um Freundschaft, Vertrauen, aber auch um gesellschaftliche Fragen wie Ungerechtigkeit. «Cranko wollte Geschichten erzählen, die mit Menschen zu tun haben, Geschichten, die bewegen», sagt Intendant Detrich. «Er wollte auf die Bühne bringen, was er immer gesucht hat auch in seinem Leben.»
In Deutschland kann sich der gebürtige Südafrikaner der Kunst und auch dem Rausch des Lebens hingeben, nachdem er in England wegen seiner Homosexualität gedemütigt und mit einem Arbeitsverbot bedacht worden war. Er lebt für den Tanz und seine Entfaltung und erwartet das auch von seinem Umfeld. So stellt Cranko eine Compagnie zusammen, die über Jahrzehnte für das «Stuttgarter Ballettwunder» stehen sollte.
«Ich bin auf der Suche nach einer Familie» Er setzt auf die damals weitgehend unbekannte Brasilianerin Marcia Haydée, die ihn später beerben sollte, auf Richard Cragun und Birgit Keil. Er holt Egon Madsen nach Stuttgart und schafft Stücke für sie wie die Interpretationen von «Romeo und Julia» und «Onegin», «Der widerspenstigen Zähmung» und «Carmen».
«Ich bin auf der Suche nach einer Familie», sagt der fragile Cranko im Film. Beim Ballett findet er sie (MANNSCHAFT berichtete über ähnliche Beispiele). Viele seiner Weggenossen versammeln sich am Ende des Lang-Films am Grab ihrer Choreographen-Legende, im Film werden sie von aktuellen Mitgliedern des Stuttgarter Balletts verkörpert.
In schnellen Schnitten und Zeitsprüngen setzt der Film einerseits dem künstlerischen Schaffen Crankos ein Denkmal, die Ballettszenen sind berauschend und mitreissend inszeniert. Kameramann Philipp Sichler fängt die Bilder aus betörenden Perspektiven ein. «John Cranko hat das Menschliche ins Ballett gebracht und die grossen Bilder, das Leben und das Sterben, die Liebe», sagt Lang. Tiefen Emotionen habe er in Bewegungen Ausdruck verliehen, jede Drehung habe einen Inhalt, alles erzähle eine Geschichte.
Cranko litt unter den Schattenseiten des Lebens Andererseits aber zeigt der Film in oft etwas langen Dialogen auch die Menschlichkeit und Wärme Crankos, seine Zerbrechlichkeit und seine tiefe Melancholie, die er, stets eine Kippe im Mund oder in der Hand, in Alkohol ertränkt.
Es wird deutlich, wie er unter den Schattenseiten des Lebens in einer Gesellschaft leidet, die ihn als Homosexuellen aufgenommen, die ihn aber nach all den Erfolgen wegen eines Stücks über die Gräuel von Auschwitz als Volksverräter schmäht. «Wie viele Genies in der Welt, ist auch Cranko betroffen gewesen von Lebenskrisen, von Melancholie, von der Angst vor dem Scheitern», sagt Ballett-Intendant Detrich.
Er steht für die Popstars, die zu früh gestorben sind Und zuletzt ist Langs Werk über Cranko auch ein Zeitdokument. Sein Aufstieg fiel in eine wilde, kreative, anarchistische und geradezu liebevolle Phase deutscher Kulturgeschichte. Durchzechte Nächte in Schwulenbars und griechischen Tavernen, Tobsuchtsanfälle in Proberäumen und ein kettenrauchender Menschenverzauberer, der sich auf seinem Weg immer wieder selbst verliert.
«Cranko steht für andere, die ähnlich genial und verzweifelt waren», sagt Lang. «Für die Popstars, die zu früh gestorben sind.» Mitten im Leben stirbt Cranko 1973 auf dem Rückflug nach einer erfolgreichen Amerika-Tournee.
Doch nach wie vor ist sein Geist zu spüren bei einem Besuch der Ballettsäle der Württembergischen Staatstheater, beim Blick auf Werbeplakate alter Premieren und auf schwarz-weissen Fotos aus vergangenen Tagen. Ein wenig scheint es, als sei Cranko immer noch da in den Fluren, rastlos, zerstreut und sprühend vor Kreativität.
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