Anohni and the Johnsons: Die Rückkehr zu den Wurzeln
Ein metaphysisches Meisterwerk der Identitätsforschung
Anohni, Aktivistin, kreatives Multitalent und Sichtbarkeitspionierin für trans Menschen, präsentiert mit «My Back Was A Bridge For You To Cross» ein Album, das diese Woche erscheint.
Bei den Inuit gelten trans Personen – so genannte Sipiniq – als weise und sehend. Hört man Anohni and the Johnsons «My Back Was A Bridge For You To Cross», dann versteht man sofort, warum die tiefgreifende Auseinandersetzung mit der eigenen Identität, das Hinterfragen von genetisch-determinierten Begebenheiten und der Lesart anderer, durchaus etwas Metaphysisches an sich hat. Die Platte lädt ein, innere Widerstände zu erforschen, sich an ihnen zu reiben und schlussendlich Versöhnung zu finden.
Wie beschreibt man Anohni am besten? Als Aktivistin? Als kreatives Multitalent? Als Sichtbarkeitspionierin für transidente Menschen oder als intellektuelle Performance-Künstlerin? Wenn man verstehen will, was die gebürtige Engländerin zum Phänomen macht, sollte man all diese Facetten ihrer Persönlichkeit bedenken.
Schon früh begann Anohni Hegarty, Sprachrohre für queere Menschen zu installieren, indem sie mit unterschiedlichsten trans, schwulen, nicht-binären und lesbischen Künstler*innen kollaborierte und sie einlud, durch Musik, Kunst und Poesie auf die Gefühls- und Gedankenwelten von LGBTIQ aufmerksam zu machen.
Im New Yorker Underground der späten Neunziger und frühen Nullerjahre verhalf ihr dieses Vorgehen dazu, zu einer der wichtigsten Fürsprecher*innen der Community aufzusteigen.
Ihr gemeinsames Projekt mit dem Ensemble The Johnsons, das selbstbetitelte Debüt «Antony and the Johnsons» sowie spätere Zusammenarbeiten mit Hercules and Love Affair taten ihr Übriges und etablierten die Stimme einer Sängerin, die klanglich wie thematisch für Gänsehautwellen bei Zuhörenden auf der ganzen Welt sorgte.
Nach insgesamt vier Alben mit The Johnsons und zahlreichen Gastauftritten auf den Platten geschätzter Kolleg*innen (u.a. Björk, Rufus Wainwright, Yoko Ono, CocoRosie, Bryce Dessner oder sogar Herbert Grönemeyer) entschied sich Anohni im Zuge der Veröffentlichung ihres Solo-Debüts «Hopelessness» (2016), öffentlich Abstand von ihrem Geburtsnamen Antony zu nehmen und der Welt ihre wahre Identität zu enthüllen.
Privat hatte sie dies schon in ihrer Jugend getan. Musikalisch unterstrich die heute 51-Jährige ihre Identitätsmetamorphose, idem sie für «Hopelessness» neue stilistische Wege beschritt. Sie kehrte dem experimentellen Chamber-Pop, der sie berühmt gemacht hatte, den Rücken zu und erschuf gemeinsam mit den Produzenten-Koryphäen Hudson Mohawke and Oneohtrix Point Never ein avantgardistisches Electro-Meisterwerk. Ein Wagnis, das sich auszahlte und dank der EP «Paradise» (2017) sowie einer Reunion mit Andrew Butlers Hercules and Love Affair für die LP «In Amber» (2022) zwei beeindruckende Zugaben erhielt.
«My Back Was A Bridge For You To Cross» ist das erste Album mit den Johnsons seit »Swanlights» (2010) und stellt Anohnis Rückkehr zu ihren Wurzeln als Songwriterin dar. Statt Synthesizern und computerprogrammierten Beats nutz sie klassische Instrumente zur Untermalung ihrer Gesänge. Anohni wäre jedoch nicht Anohni, wenn nicht gleichzeitig politische Statements und ihre Sicht auf die Welt einstreuen würde.
Schon die erste Single-Auskopplung «It Must Change» machte klar, dass es Veränderungen in unserer Gesellschaft braucht, um der Menschheit – aber auch dem Planeten als Ressourcenquelle – eine Zukunft zu ermöglichen. Akribisch recherchierte Hegarty für ihre Lyrics und entdeckte, dass Marvin Gaye bereits Anfang der Siebziger auf «What’s Going On» ähnlich mahnende Worte benutzt hatte, um auf die Gefährdung unserer Umwelt aufmerksam zu machen. Kein Wunder also, dass – inspiriert vom Vermächtnis des 1984 verstorbenen Gayes – Soul-Einflüsse Einzug in die neuen Stücke Anohnis fanden.
Anders als früher, als sie sämtliche Songs allein geschrieben und produziert hatte, griff sie für «My Back Was A Bridge For You To Cross» auf die Unterstützung von Jimmy Hogarth (Amy Winehouse, Duffy, Tina Turner) zurück, um ihre Überlegungen hinsichtlich der Vielschichtigkeit der menschlichen Psyche, hinsichtlich Weiblichkeit, Feminismus und Spiritualität mit jazzig-souligen Impulsen anzureichern.
Folglich lässt sich auf dem Album eine akustische Fusion aus sanften Schlagzeugbeats, verträumten E-Gitarrenriffs und Anleihen aus dem opulenten progressiven Vermächtnis früherer Arbeiten von Anohni and the Johnsons beobachten. Im Resultat steht ein Gemisch, das – genauso wie seine Schöpferin – keinesfalls einfach zu begreifen ist. Es braucht Zeit, sich einzulassen und all die Feinheiten aufzuspüren, die die Britin behutsam in die zehn Tracks eingewoben hat.
Queere Musik für deinen Sommer: Es gibt was Frisches auf die Ohren, die heissesten unter den aktuellen queeren Alben – und obendrauf unsere MANNSCHAFT-Playlist für einen schwungvollen Sommer.
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