Vom Pulse-Gedenken bis «Love, Simon»: Wer darf queere Themen nutzen?

In Orlando wurde die Aufführung eines Stücks für die Opfer des Pulse-Attentats abgesagt, weil der Komponist ein weisser Heteromann ist. Und die «Love, Simon»-Autorin outet sich als bisexuell, nachdem ihr als Hetera «Ausnutzung» der LGBTIQ-Community vorgeworfen wurde

Nick Robinson
 als Simon (l.) mit den anderen Hauptdarsteller*innen der Verfilmung von Becky Albertallis «Love, Simon» (Foto: 20th Century Fox)
Nick Robinson als Simon (l.) mit den anderen Hauptdarsteller*innen der Verfilmung von Becky Albertallis «Love, Simon» (Foto: 20th Century Fox)

Der Streit darüber, «wer» über «was» etwas sagen «darf», ist nicht neu und wird auch innerhalb der LGBTIQ-Community heftig ausgefochten. Die neuesten Höhepunkte der Debatte: ein Gedenkkonzert in Orlando für die Opfer des Pulse-Anschlags und das Coming-out als bisexuell von «Love, Simon»-Autorin Becky Albertalli.

Doch der Reihe nach; fangen wir mit Orlando an. Das dortige philharmonische Orchester hat soeben sein für November geplantes Konzert abgesagt, das den Opfern des Anschlags auf den Pulse-Nachtclub von 2016 gewidmet sein sollte. Grund: Online-Kommentartor*innen hatten sich erregt, dass an dem Abend eine Komposition gespielt werden sollte, die aus der Feder eines weissen heterosexuellen Mannes stammt und nicht von einer queeren Person oder jemandem aus der Latinx-Community. (Das Wort «Latino» wird nicht verwendet, weil es mit einer männlichen Endung als sexistisch und ausgrenzend angesehen wird.) Demnach sei ein weisser heterosexueller Mann nicht «berechtigt» eine Komposition über das Leid der 49 Pulse-Toten zu schreiben. (MANNSCHAFT berichtete über das Attentat.)

Der russisch-amerikanische Komponist Ljova (Foto: Mark Gurevich / AGMA Photography / www.ljova.com)
Der russisch-amerikanische Komponist Ljova (Foto: Mark Gurevich / AGMA Photography / www.ljova.com)

Der Komponist, um den gestritten wird, heisst Ljova, er ist ein russisch-amerikanischer Einwanderer, dessen Geburtsname Lev Zhurbin lautet. Verschiedenen Zeitungsberichten zufolge habe er sein Stück rund um 49 «musikalische Ideen» gebaut, jeder Abschnitt beginne mit der klanglichen Illustration eines Herzschlags und ende mit einer Trauerglocke, schreibt Orlando Sentinel.

Ljova habe das Stück geschrieben, um seine Trauer und sein Entsetzen auszudrücken über das Pulse-Attentat. Als das Orchester in Orlando von dem Werk hörte, wollte es dieses unbedingt aufführen und sicherte sich sogar eine finanzielle Unterstützung von 6.000 Dollar von der Organisation New Music USA.

Queer Voices of Color  Als das Orchester das Konzert unlängst auf Facebook ankündigte, begannen Social-Media-Aktivist*innen, wütende Kommentare zu hinterlassen und entsprechende Nachrichten auch an New Music USA zu schicken. Wobei laut Zeitungsberichten auffiel, dass viele der Kommentator*innen «keinerlei Verbindung mit Orlando oder dem Orchester zu haben scheinen». Aber das war für die Aktivist*innen kein Hinderungsgrund bzw. hat einen Twitter-Mob noch nie gestoppt. Schliesslich geht es um einen globalen Kampf für mehr Gerechtigkeit!

«Cancel Culture»: Ein «Fehltritt» und du bist raus

Eine der Nachrichten kam von der freischaffenden Musikerin Isabel Castellvi. Sie schrieb: «Ich habe nichts gegen Lev, aber das ist eine unglückliche Wahl und eine verpasste Gelegenheit von Seiten des Orlando Philharmonic Orchestra, dass sie nicht eine*n queere*n Komponist*in of Color ausgewählt und unterstützt haben, um die Erinnerung an die tragischen Ereignisse zu repräsentieren, die diese Community so tief getroffen haben. Es ist eine Schande, dass ihr alle das nicht verstanden habt oder beschlossen habt, es sei nicht wichtig, besonders in Zeiten wie diesen, wo Menschen auf die Strasse gehen damit Voices of Color und Queer Voices gehört werden.»

Zum Hintergrund sollte man wissen, dass das Orchester Ljova vor vier Jahren für die Aufführungsrechte bezahlte – aber nie einen Kompositionsauftrag vergab. D. h. die Idee zum Stück war seine eigene.

Der Pulse-Nachtclub in Orlando mit einem Memorial-Zaun drumherum, nach dem Attentat von 2016 (Foto: Michael Rivera / Wikipedia)
Der Pulse-Nachtclub in Orlando mit einem Memorial-Zaun drumherum, nach dem Attentat von 2016 (Foto: Michael Rivera / Wikipedia)

Er sagt auch, dass er einen direkten Kompositionsauftrag nicht angenommen hätte: «Ich hatte gerade angefangen, an dem Stück zu arbeiten und fragte beim Orchester nach, ob es Okay wäre, wenn ich es den Opfern des Anschlags widmen würde», heisst es in einem Statement von Ljova. «Ich wollte mit dem Werk Aufmerksamkeit für die Opfer erzeugen und den Familien so etwas wie Trost spenden. Als Komponist ist es meine Aufgabe, musikalische Antworten zu finden [auf die Themen der Zeit, Anm.]. Ich schrieb ein Stück für Orlando und das Orlando Philharmonic Orchestra – und letztlich auch für dieses Land. Wir alle befinden uns in einem Trauerzustand, den ich nicht ignorieren konnte.»

Wir alle befinden uns in einem Trauerzustand, den ich nicht ignorieren konnte

Das Orlando Philharmonic Orchestra hat in der Vergangenheit viele Aufführungen «gespendet» und immer wieder bei privaten Trauerfeiern sowie Community-Erinnerungsveranstaltungen gratis gespielt, in den Jahren seit 2016 haben Orchestermitglieder auch jeden Juni direkt vorm Pulse gespielt, um an die Opfer zu erinnern.

Dennoch wurde nun das grosse Symphoniekonzert für November abgesagt, die Fördermittel zurückgezahlt, und es ist im Moment offen, ob das Ljova-Stück jemals (irgendwo) zu hören sein wird.

Weisse freie Meinungsäusserung und weisse kreative Freiheit Einen ähnlichen Streit gab es 2017 in der Musemswelt, als ein Gemälde der weissen Künstlerin Dana Schutz bei der Whitney Biennale gezeigt wurde: es trägt den Titel «Open Casket», also «Offener Sarg». Man sieht den mutilierten Teenager Emmett Till, der 1955 in Mississippi brutal gelyncht wurde. Das Foto, auf dem dieses Schutz-Gemälde basiert, wurde damals auf Drängen von Tills Mutter veröffentlicht, um der Welt zu zeigen, wozu Rassismus führt.

«Als Schwarzer wird man eher übersehen»

Schutz sagte im Rahmen der Whitney Biennale, sie haben in Zeiten von Rassismus-Debatten und von Trumps Amerika an Emmett Till erinnern und mahnen wollen, was die Konsequenzen der Spaltung eines Landes und von Ausgrenzung seien.

Viele afro-amerikanische Aktivist*innen warfen Schutz jedoch vor, sie würde mit dem Bild ein «Black Death Spectacle» veranstalten. Die in Berlin lebende schwarze britische Künstlerin Hannah Black verlangte sogar, dass das Werk aus der Ausstellung im Whitney Museum entfernt werden und vernichtet (!) werden müsse.

Auf Facebook schrieb Black damals: «Dieses Thema gehört nicht Schutz. Weisse freie Meinungsäusserung und weisse kreative Freiheit basieren auf der Unterdrückung von anderen, und das sind kein Naturrechte. Das Gemälde muss weg!» Sie ergänzte, dass zeitgenössische Kunst im Grund eine «White Supremacist Institution» sei, trotz «all unserer netten Freunde».

Die Debatte, die klein und verstreut in sozialen Medien begann, entwickelte sich schnell zu einem solchen globalen Orkan, dass schliesslich sogar The New York Times darüber berichtete, sämtliche Kunstzeitschriften – und das Bild schlussendlich wirklich entfernt wurde. Genau wie nun das Konzert in Orlando nach dem Online-Entrüstungsstürm abgesagt wurde; auch wenn diesmal die New York Times nicht berichtete. (Sie hat zuletzt 2012 über Ljova geschrieben.)

Man könnte in diesem Kontext fragen, ob der Österreicher Arnold Schönberg 1947 sein Stück «Ein Überlebender aus Warschau» hätte schreiben «dürfen»? Oder der Brite Richard Addinsell 1941 sein berühmtes «Warsaw Concerto»? Wem steht was thematisch offen?

Simon vs the Homo Sapiens Agenda Die Diskussion kennt man auch aus dem Filmbereich, wo vielfach gefordert wird, dass speziell trans Rollen nur von trans Darsteller*innen gespielt werden «dürfen» oder Homosexuelle entsprechend nur von Homosexuellen. Wobei seltsamerweise kaum darüber diskutiert wird, ob LGBTIQ-Schauspieler*innen auch hetero- geschweige denn heteronormative Rollen spielen «dürfen». (Und ob nun sämtliche Rock-Hudson-Filme nie wieder gezeigt werden sollten …)

Das Poster für den Film «Love Simon»
Das Poster für den Film «Love Simon»

Derweil hat sich diese Woche auch die Bestseller-Autorin Becky Albertalli – zu deren Hits «Simon vs the Homo Sapiens Agenda» zählt, woraus der Filmerfolg «Love, Simon» und dann die Serie «Love, Victor» wurde – als bisexuell geoutet. (MANNSCHAFT berichtete über die Seriefortsetzung «Love, Victor».) Und das, obwohl sie sich zuvor immer als heterosexuell beschrieben hatte. Deshalb wurde ihr vorgeworfen, sie würde «von Communities profitieren, zu denen sie keinerlei Verbindung hat» und dass sie «ein Paradebeispiel für Unauthentizität» sei. Das beschreibt Albertalli in einem aktuellen Essay für Medium.

Nun hat sie sich in genau diesem Essay als bisexuell geoutet – um ihre LGBTIQ-Kritiker*innen den Wind aus den Segeln zu nehmen?

«Ich bin 37 Jahre alt. Ich bin glücklich seit 10 Jahren mit einem Mann verheiratet. Ich habe zwei Kinder und eine Katze. Ich habe noch nie ein Mädchen geküsst. Mir war auch nicht bewusst, dass ich das wollte», heisst es. «Aber wenn ich weiter zurückdenke, dann bin ich ziemlich sicher, dass ich mein ganzes Leben verknallt war in irgendwelche Jungs und Mädchen. Mir war damals nur nicht klar, dass die Girl Crushes so etwas wie Crushes waren. Immer wieder fühlte ich mich zu Mädchen hingezogen, weil ich sie cool fand oder interessant oder niedlich. Und ich wollte ihre Freundin sein. Mir war nur nicht bewusst, dass diese Gefühle eine [sexuelle, Anm.] Ebene hatten.» (MANNSCHAFT berichtete über Sorgen und Fragen rund ums Thema Bisexualität.)

Die Autorin sagt, sie sei in einem konservativen Südstaatenhaushalt ausgewachsen. Und obwohl sie einige Schwule und Lesben kannte, traf sie erst in der High-School bisexuelle Personen: «Aber ich habe damals den Deckel fest auf diese Büchse gedrückt und vergessen, dass sie jemals offen war.»

Love, Simon: «Der Schwule in der High School war stets nur eine Nebenrolle.»

Coming-out wegen Erschöpfung? Jetzt fragt sie: «Wissen Sie was ein Mindf**k ist? Wenn man in seinen 30ern seine sexuelle Identität hinterfragen muss und wenn jede*r selbsternannte Literaturexpert*in auf Twitter glaubt, er/sie müsse seine/ihre heisse Meinung zum Thema mit anderen teilen. Stellen Sie sich vor, hunderte von Menschen würden behaupten, alles über jede Nuance Ihrer Sexualität zu wissen, nur vom Lesen Ihrer Bücher. Stellen Sie sich vor, dabei noch Platz zu finden für Ihre eigenen Unsicherheiten. Stellen Sie sich vor, Sie hätten so etwas wie einen antiken griechischen Chor von völlig fremden Internetnutzer*innen, die immerzu ihr Hochstapler-Syndrom anprangern.»

Stellen Sie sich vor, hunderte von Menschen würden behaupten, alles über jede Nuance Ihrer Sexualität zu wissen

Sich unter diesen Umständen als bisexuell zu outen, sei nicht das, was sich Albertalli selbst gewünscht hätte: «Es fühlt sich weder gut an, noch empowernd. Nicht einmal besonders safe.» Sie tue es dennoch, weil sie «überprüft, weitergetweetet, verlacht, belehrt, entwertet» worden sei, und zwar «jeden Tag seit Jahren» – sie sei «erschöpft»!

Ob dieses Coming-out nun die Lösung ist? Man sollte schon selbstkritisch fragen, welche Ausgrenzungen und Diskriminierungen von der LGBTIQ-Community gegenüber anderen hervorgebracht werden und ob das wirklich die Art des Umgangs ist, die uns in einer befreiteren und gerechteren Welt vorschwebt, ein halbes Jahrhundert nach Stonewall? Und das gilt selbstverständlich auch für andere Minderheiten bzw. marginalisierte Gruppen, die teils so wild um sich schlagen mit Vorwürfen und Forderungen, dass ein Austausch kaum mehr möglich ist, genauso wenig ein harmonisches Miteinander.

«Es ist wichtig, dass Heteros bei der Pride mitlaufen»

Verweigertes Verstehen macht freudlos und verbissen Wie ein Kommentator beim Deutschlandfunk gerade feststellte, sei derzeit kein kommunikativer Trend so auffällig «wie der sich in den sozialen Medien, in Talkshows und auf Demos austobende Hang zur rechthaberischen Fehlinterpretation». Statements von unliebsamen Personen werden aus dem Kontext geholt, bewusst überzeichnet, gezielt falsch ausgelegt. «Ob man das Cancel Culture oder Political Correctness nennt, ist egal. Traurig ist, dass die Tugend hermeneutischen Wohlwollens dem Laster des hermeneutischen Generalverdachts weicht: Man ist sich stets sicher, und zwar rechts wie links, dass das Gegenüber ein viel schlechterer Mensch ist, als das aus seinen manifesten Äußerungen hervorgeht. Deshalb will man ihn nicht mehr verstehen. Allerdings nimmt man sich damit auch selbst etwas. Verweigertes Verstehen macht freudlos und verbissen.»

Und nur zum Schluss die Erinnerung: Bislang hat kein*e queere Latinx-Komponist*in mit einem eigenen Stück für die Pulse-Opfer auf sich aufmerksam gemacht. Vielleicht erwarten sie einen Kompositionsauftrag und ein gut dotiertes Stipendium, bevor sie etwas schreiben, was sie aus eigenem künstlerischem Antrieb nicht tun würden? (Muss immer erst der Staat von oben eingreifen, als Retter*in der Unterdrückten?)

Auch die Vorwürfe gegen Albertalli könnte man als «verweigertes Verstehen» bezeichnen, denn niemand wird gezwungen, ihre Bücher zu lesen; das tun Menschen freiwillig, weil sie darin offensichtlich etwas finden, was ihnen wichtig ist. Gleichzeitig gibt es hunderte andere Bücher von LGBTIQ-Autor*innen, die andere Seiten des LGBTIQ-Leben beleuchten und beschrieben. Statt Albertalli zu «canceln» oder mit immer neuen Vorwürfen zu überhäufen, könnte man auch ein kreatives konkurrierendes Miteinander zelebrieren.

Aber es scheint, dass zumindest eine sehr lautstarke Gruppe im Internet dieses (zu kapitalistische?) Ideal schon lange hinter sich gelassen hat und sich lieber mit Empörungswellen aus dem Netz zunehmend im nicht-digitalen Leben durchsetzt.

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