«1899»: Schwules Dreiecksdrama zwischen Ober- und Unterdeck
Miguel Bernardeau und Lucas Lynggaard Tønnesen spielen Ángel und Krester
Im neuen Netflix-Mystery-Thriller geht’s um eine Schiffsreise von Menschen, die ihre traumatische Vergangenheit hinter sich lassen wollen – auch Schikane und Ausgrenzung, weil sie gleichgeschlechtlich begehren.
(Dieser Artikel enthält mögliche Spoiler!) «Teuerste deutsche Serie erobert Netflix» titelte Anfang dieser Woche die Bild-Zeitung und spricht von «1899» als «Geniestreich» der preisgekrönten «Dark»-Macher*innen Bara bo Odar und Jantje Friese.
In einer 50-minütigen Making-of-Doku erfährt von den beiden, dass «1899» als «Period Drama» auf dem Passagierschiff Kerberos mitten auf dem Ozean anfange, auf dem Weg von Europa nach New York, wo die Passagiere ein neues Leben beginnen und auf gar keinen Fall umkehren wollen. Dann wird in den acht Folgen aus der Hyper-Mystery schnell Horror und schliesslich Science-Fiction, wobei bald klar wird, dass nichts das ist, was es zu sein scheint. Die Frage wird dabei immer drängender, was «das», was man auf dieser Reise sieht, stattdessen sein könnte.
Teil des international durchmischten Schauspieler*innenensembles ist der «Élite»-Star Miguel Bernardeau. Er spielt den reichen Spanier Ángel, der mit seinem Bruder Ramiro (gespielt von José Pimentão) an Bord der Kerberos ist. Ramiro gibt sich als Padre aus, der in entsprechendem schwarzem Outfit umherläuft. Ángel und Ramiro sprechen ausschliesslich Spanisch, so wie die anderen Gruppen in der Serie jeweils in ihrer Muttersprache reden (was die Serie in der Originalfassung besonders spannend und abwechslungsreich macht).
Religiöse Fanatiker aus Dänemark Eine dieser anderen Gruppen sind arme fundamental-religiöse Auswanderer aus Dänemark, angeführt von einer fanatischen Frau namens Iben. Sie reist mit ihrem Mann Anker und den drei Kindern Krester, Tove und Ada. Der blonde Krester (gespielt von Lucas Lynggaard Tønnesen) fällt dadurch auf, dass der nicht nur auffallend attraktiv ist – wie einst Tadzio in «Tod in Venedig» bzw. als Lookalike von Louis Hofmann aus «Dark» –, sondern eine markante Gesichtsnarbe hat.
Als Krester gleich zu Beginn von Folge 1 in den Speisesaal der 1. Klasse stürmt und einen Arzt sucht, der seiner hochschwangeren Schwester Tove helfen könnte, ist beim Blickkontakt zwischen dem Passagier vom Unterdeckt und Ángel schnell klar, dass da gegenseitiges Interesse besteht – das auch Padre Ramiro bemerkt. Der eifersüchtig reagiert, als Ángel sich kurz darauf auf den Weg macht, Krester zu suchen.
Statt eines Kate-Winslet-Leonardo-di-Caprio-Moments an der Reling zu «My Heart Will Go On»-Klängen haben Ángel und Krester eine gemeinsame Masturbationsszene – durch ein Trenngitter zwischen den verschiedenen Schiffsabteilen. Aber es ist ähnlich innig wie dereinst bei Rose und Jack. Und es ist der Beginn einer Romanze, die ohne Sprache auskommen muss, weil beide sich nicht verbal verständigen können. Trotzdem sagt Ángel zu Krester bzw. eigentlich zu sich selbst (auf Spanisch), dieser habe ein «gezeichnetes» Gesicht, das nicht verstecken könne, «wer» und «was» er ist. Und genau das bewundere er an Krester.
In den acht Folgen von Staffel 1 wird von allen Charakteren die «Hintergrundgeschichte» erzählt. Auch die von Krester und seiner Narbe, die sehr viel damit zu tun hat, dass er schwul ist und in Dänemark beim Sex mit einem anderen Jungen erwischt wurde. Es ist ein Outing mit Nachspiel. Wobei die Details dieses Nachspiels erst nach und nach enthüllt werden.
Vom Priester des spanischen Dorfes erwischt Erwischt wurde einst auch Ángel mit seinem Liebhaber Ramiro vom Priester ihres Dorfes. Mit ähnlich dramatischen Folgen. So dass beide ihre Heimat Spanien hinter sich lassen müssen, um anderswo als Partner frei zu leben. Ramiro schlüpft dabei in die Kostümierung des Priesters, der ihre geheime Beziehung entdeckt hatte. Er gibt sich als Ángels Bruder aus. Aber wie geht Ramiro mit Krester als neuem Objekt der Begierde seines Lovers um?
Dieses Beziehungsdreieck wird LGBTIQ-Zuschauer*innen vermutlich gleich ab der ersten Folge in den Bann der Serie ziehen, selbst wenn man angesichts der Vielzahl von Charakteren und Geschichten zwischendurch lange warten muss, um zu erfahren, wie es mit Ángel, Krester und Ramiro weitergeht, nachdem ihr Schiff auf hoher See auf das Geisterschiff Prometheus trifft.
Das Portal Hollwood Tramp schreibt, dass sowohl Miguel Bernardeau in der Serie «Herzen höher schlagen» lasse, als auch sein polnischer Kollege Maciej Musiał als Olek, der im Maschinenraum meist oberkörperfrei Kohle schaufeln muss. Das tut Olek zusammen mit etlichen anderen verschwitzten Kollegen – und man kann es bedauern, dass die Kamera meist nur kurz auf den konturierten Körpern verweilt. Man könnte es auch schade finden, dass Musiał als Olek nicht in eine weitere LGBTIQ-Nebenhandlung eingebaut wurde, sondern alle ausser Ángel, Krester und Ramiro strikt hetero sind.
Apropos: Grundsätzlich hat man als LGBTIQ-Zuschauer*in bei acht Folgen à 45 Minuten viel Zeit sich zu fragen, wieso bei einem so sehr auf Diversität setzten Streamer wie Netflix eigentlich «nur» eine dramatische Dreiecksgeschichte zwischen drei schwulen Männern erzählt wird – alle jung, wahnsinnig attraktiv nach konventionellen Massstäben, alle cis. Wäre bei so vielen Charakteren nicht auch eine lesbische Geschichte denkbar gewesen, eine bisexuelle Beziehung, trans oder inter Charaktere, nicht-binäre Figuren? Die Möglichkeiten, all diese Aspekten einzubauen, wäre bei dem Riesen-Cast und einer derart verschachtelten Geschichte problemlos gegeben gewesen.
Kritische Fragen bleiben aus Wieso sind es immer nur schwule Lovestorys mit «hot and heavy gay scenes» (wie Queerty über die Momente mit Bernardeau schreibt)? Die Erklärung bleiben die Macher*innen der Serie auch in der Making-of-Dokumentation schuldig, die es gleichfalls bei Netflix zu sehen gibt. Die meisten LGBTIQ-Nachrichtenportale scheinen sich daran nicht zu stören, vielleicht weil der nackte Bernardeau und der gleichfalls entkleidete Lucas Lynggaard Tønnesen mit perfekten Sixpack-Körpern ihre Wahrnehmung so vernebeln, wie die Geisterschiffe Kerberos und Prometheus auf dem Meer von Nebelschwaden umgeben sind?
Auf alle Fälle kann man festhalten, dass «1899» seit der Veröffentlichung in der vergangenen Woche auf Platz 1 der beliebtesten Netflix-Serien rutschte – und noch vor der Historienserie «The Crown» rangiert, auch in der Schweiz, Deutschland und Österreich. Laut der Analyseseite Flixportal ist «1899» darüber hinaus auch in über 50 weiteren Ländern momentan die meistgesehene Netflix-Serie. Zu diesen weiteren Ländern zählen laut Flixportal u.a. Ägypten, Bangladesch, Jamaika, Katar, Kuwait, Malaysia, Marokko, Nigeria, Oman, Pakistan, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Also Länder, in denen Homosexualität nach wie vor kriminalisiert und gesellschaftlich geächtet wird. So, wie es in «1899» als gesellschaftliches Zeitporträt gezeigt wird, das eigentlich Vergangenheit sein sollte.
Bislang ist aus diesen Ländern keine Zensuraufforderung an Netflix gegangen, wie unlängst geschehen, als ein Golf-Kooperationsrat, dem Bahrain, Katar, Kuwait, Oman, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate angehören, Netflix aufforderte, «anstössige Inhalte» zu entfernen. Der Rat beklagte, dass viele Angebote des Streamingdienstes «islamischen und gesellschaftlichen Werten und Prinzipen» entgegenstünden. Im staatlichen Fernsehen von Saudi-Arabien wurde Netflix sogar als «offizieller Sponsor von Homosexualität» bezeichnet (MANNSCHAFT berichtete)
Ein Fall für die Psychiatrie? Vermutlich ist dem Golf-Kooperationsrat «1899» noch nicht aufgefallen, weil man da erstmal viele Stunden Serie schauen muss, um zu begreifen, was da alles passiert zwischen den unendlichen vielen Charakteren. Die Haupthandlung um Maura (gespielt von Emily Beecham) und Kapitän Eyk Larsen (Andreas Pietschmann) ist schliesslich absolut heteronormativ. Und stellt Heteronormativität auch nicht in Frage.
Umso bewegender ist da ein Moment, wo der falsche Priester Ramiro sich trostsuchend in die Arme des dänischen Puritaners Anker wirft, der als Gottesmann und Kresters Vater unterwegs ist. Wie reagiert ein solcher Glaubensfundamentalist, der ahnt, was zwischen seinem Sohn und den Spaniern passiert? Und wie unterscheidet sich der Vater von seiner erbarmungslosen Ehefrau Iben, die meint, Gottes Stimme zu hören und ihr folgen zu müssen? Ist Religion Wahn? Ein Fall für die Psychiatrie?
Dass es von der in Babelsberg bei Berlin gedrehten Serie eine Fortsetzung geben wird, gilt als sicher. Man darf gespannt sein, ob in Staffel 2 das Thema LGBTIQ breiter behandelt wird als in Staffel 1. Man darf auch neugierig sein, ob Lucas Lynggaard Tønnesen, Miguel Bernardeau und José Pimentão wieder dabei sein werden, sollten sie jemals in der «Neuen Welt» ankommen.
Bernardeau-Fans können sich derweil freuen, dass der 25-Jährige demnächst bei Disney+ als Zorro zu sehen sein wird und in der Serie «The Last One», bei HBO Max ist «Todo lo otro» in Arbeit. Ach so: Sechs Millionen Instagram-Follower*innen hat Bernardeau auch. Auf seinem Insta-Kanal kann man viele Hinter-den-Kulissen-Bilder zu «1899» sehen. Für alle, denen acht Folgen und ein Making-of noch nicht genug sind. Das gleiche gilt für Lucas Lynggaard Tønnesen und José Pimentão, die allerdings nur auf 500‘000 bzw. knapp 8000 Follower*innen kommen. Tendenz: steigend!
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