50 Jahre neue Schwulenbewegung: Wo ist sie hingekommen?
Seit der Uraufführung von «Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt» hat sich viel getan
Vor 50 Jahren feierte der Film «Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt» von Rosa von Praunheim seine Uraufführung. Seitdem ist viel passiert. Hat sich die Schwulenbewegung totgesiegt? Von Gregor Tholl, dpa
Zwei Jahre nach queeren Aufständen in der New Yorker Christopher Street erwachte Deutschlands Schwulenbewegung wieder: Rosa von Praunheims Film «Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt» feierte vor 50 Jahren (3.7.1971) bei der damals noch sommerlichen Berlinale seine Uraufführung. Danach gründeten sich viele Homosexuelleninitiativen in der Bundesrepublik. Seitdem hat sich viel getan. Eine Frage zum Internationalen Tag gegen Homophobie am kommenden Montag (17.5.) könnte also lauten: Hat sich die Homobewegung zum Beispiel mit der Ehe für alle (2017 von Deutschen Bundestag beschlossen – MANNSCHAFT berichtete) totgesiegt?
In Praunheims Stummfilm mit Off-Stimme im Stil der Sozialkritik wurde vor 50 Jahren provokant formuliert, Schwule seien oft «politisch passiv» – «als Dank dafür, dass sie nicht totgeschlagen werden». Es war nur ein Vierteljahrhundert nach den Verfolgungsexzessen der Nazis und keine zwei Jahre, nachdem praktizierte männliche Homosexualität unter Erwachsenen in der Bundesrepublik überhaupt legal geworden war. Autoren des Dokudramas waren neben Praunheim der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker und Sigurd Wurl.
«Da die Schwulen vom Spiesser als krank und minderwertig verachtet werden, versuchen sie noch spiessiger zu werden, um ihr Schuldgefühl abzutragen mit einem Übermass an bürgerlichen Tugenden», hiess es. Viele Schwule schämten sich ihrer Veranlagung, jahrhundertelange christliche Erziehung habe ihnen eingeprägt, sie seien «Säue». Deshalb flüchteten viele «in die romantische Welt des Kitsches».
Zur beschissenen Arbeit kommt noch die nervenzerreibende Selbstverleugnung
Am Arbeitsplatz sei es für Schwule besonders schwer, denn zur «beschissenen Arbeit» komme noch die «nervenzerreibende Selbstverleugnung». «Sie werden Freizeit-Schwule, die aus der verlogenen Situation am Arbeitsplatz nur allzu gerne in die Welt der Schwulen flüchten, wo sie zwar nicht als Menschen, aber als Schwule anerkannt werden.» Fazit: «Nicht die Homosexuellen sind pervers, sondern die Situation, in der sie zu leben haben.»
Als Geburtsstunde der ersten Homosexuellenbewegung gilt landläufig die Gründung des «Wissenschaftlich-Humanitären Komitees» 1897 in Berlin. Ihr Pionier, der Arzt und Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld, starb 1935 in Nizza. Die Nazis hatten ihn aus Deutschland vertrieben. Es dauerte also fast vier Jahrzehnte, bis im Vorreiterland Deutschland wieder Anschluss an diese Entwicklung gefunden wurde. Das passierte nicht zufällig parallel zur Frauenrechtsbewegung der 70er. Der Kampf um Anerkennung war in.
Vor Hirschfeld und Co. war man bei Lesben und Schwulen kaum von Menschen mit fester Identität ausgegangen, die nun mal so begehren, wie sie es tun. Vielmehr existierte die Vorstellung, jeder könne wegen moralischer Schwäche zur sogenannten Sodomie verführt werden.
Selbst der Begriff «homosexuell» musste erstmal erfunden werden. Der österreichisch-ungarische Autor Karl Maria Kertbeny prägte das Wort 1868 – aus dem griechischen «homos» (gleich) und dem lateinischen «sexus» (Geschlecht). Mit der «Homosexualität» wurde auch erst die «Heterosexualität» benannt. Sie war zuvor kaum erklärungsbedürftig.
So ähnlich entstand in jüngerer Zeit der Begriff «cis» – als Gegenteil von «trans». Er wird derzeit erst geläufiger. «Transgender» ist die Bezeichnung für Personen, deren Geschlechtsidentität nicht mit dem Geschlecht übereinstimmt, das nach der Geburt anhand äusserer Merkmale festgelegt wurde. Es gibt zudem auch Menschen, die die Zuordnung Mann oder Frau ablehnen und sich als non-binär bezeichnen.
Das alles ist einigen viel zu kompliziert. Im Internet ist es ein Lieblingshassthema. Alles Nicht-Heterosexuelle taugt noch immer für Kontroversen – zu besichtigen war das auch kürzlich, als Kritiker der Aktion #actout, bei der sich Anfang Februar 185 Schauspielerinnen und Schauspieler als queer outeten (MANNSCHAFT berichtete), «Kalkül» vorwarfen. Die Gesellschaft sei doch fortschrittlich genug, ein Gruppen-Coming-out kaum notwendig, die Unsichtbarkeit von Queers längst überwunden.
Die Haltung, mit der allen, die vom angeblich normalen Geschlechtsleben abweichen, begegnet wird, lautet nach wie vor oft: Seid wenigstens diskret. Reibt uns das nicht so unter die Nase. Gute Homos oder gute trans Personen sind dann die, die nicht als solche erkennbar sind. Studien belegen, dass auch heute viele Lesben und Schwule am Arbeitsplatz lieber ungeoutet bleiben.
Wo also steht die Schwulenbewegung 50 Jahre nach «Nicht der Homosexuelle ist pervers»? Der Aktivist Dirk Ludigs beobachtet die Szene seit Jahrzehnten. Der Autor («Beziehungsweise Sex: Tipps für Paare») und Fernsehjournalist («Liebe Sünde») hat lange in den USA gelebt und einen in Kalifornien geschulten Blick auf Diskurse.
Seit der Ehe für alle 2017 ist ein Bruch nicht mehr zu übersehen
Er meint: «Schwule Männer waren natürlich schon immer sehr unterschiedlich. Allerdings ist in politischen Fragen seit der Ehe für alle 2017 ein Bruch nicht mehr zu übersehen. Viele bürgerliche Schwule ziehen sich ins Private einer gefühlten Normalität zurück. Einige driften nach rechts, geben einseitig Menschen mit Migrationsgeschichte die Schuld an bestehender Schwulenfeindlichkeit. Und dann gibt es viele, vor allem jüngere, die sich als Teil einer neuen, linken und queeren Bewegung begreifen, feministisch, antirassistisch und ökologisch, die Bündnisse mit anderen sozialen Bewegungen wie Fridays for Future oder Black Lives Matter suchen.»
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