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«Wir sind ein politisch bunter Haufen»

Frau Prof. de Nève, Sie haben eine Studie zur Frage durchgeführt, wie LGBTIQ-Personen in Wien und Berlin abstimmen und wählen. Was hat Sie daran interessiert?
Die Partizipation der Bürgerinnen und Bürger interessiert mich politisch und wissenschaftlich. Über das Partizipationsverhalten von LGBTIQ haben wir aber nur sehr wenige wissenschaftlich solide Erkenntnisse. Diese Lücke wollten wir mit unserer Studie endlich mal schliessen. Gleichzeitig – das möchte ich nicht verschweigen – haben wir natürlich auch politische Ziele verfolgt: Wenn wir davon ausgehen, dass etwa fünf bis zehn Prozent der Stimmbürgerschaft lesbisch, schwul, bi, trans, intersexuell oder queer sind, dann handelt es sich auch um eine gesellschaftspolitisch relevante Gruppe, die die Aufmerksamkeit von Parteien und Wahlstrategen verdient. Wenn es gelingt, Erkenntnisse über die politischen Präferenzen dieser Community zu gewinnen, dann gelingt es vielleicht auch, die politische Sensibilisierung für die Interessen dieser Minderheit zu fördern.

[perfectpullquote align=“full“ cite=““ link=““ color=““ class=““ size=““]Wenn wir davon ausgehen, dass etwa fünf bis zehn Prozent der Stimmbürgerschaft lesbisch, schwul, bi, trans, intersexuell oder queer sind, dann handelt es sich auch um eine gesellschaftspolitisch relevante Gruppe, die die Aufmerksamkeit von Parteien und Wahlstrategen verdient.[/perfectpullquote]

Wie gingen Sie methodisch vor? 
Die Partizipationsforschung und die Wahlforschung im Besonderen arbeiten in der Regel mit repräsentativen Umfragen. Hierfür benötigt man allerdings klare Angaben zur Grundgesamtheit, aus der die Stichprobe gezogen wird. Dies ist in unserem Fall nicht möglich: Wir wissen schlicht nicht genau, wie viele Menschen sich der Community zuordnen. Diese Daten werden aus guten Gründen – Stichwort Datenschutz und Diskriminierung – nicht erfasst.


Eine repräsentative Studie kann man also nicht machen. Wir haben stattdessen mit einem sogenannten «selbstselektiven Sample» gearbeitet. Wir haben online und offline für die Umfrage geworben und viele LGBTIQ-Menschen dazu bewegen können, sich an der Umfrage zu beteiligen. Auf dieser Grundlage können wir jetzt solide empirische Aussagen über die befragten Mitglieder der Community in Wien und Berlin machen. Das ist schon mal ein guter Anfang, um sich der Thematik wissenschaftlich anzunähern.

Mit der Studie wollten Sie herausfinden, wie die LGBTIQ-Community politisch tickt. Wie würden Sie diese Frage ganz allgemein beantworten?
Sie tickt ganz normal (lacht)! Die LGBTIQ-­Community ist ein bunter Haufen, das bildet sich auch in der Politik ab: Es sind alle politischen Richtungen vertreten.

[infobox maintitle=“Prof. Dr. Dorothée de Nève“ subtitle=“


Prof. Dr. Dorothée de Nève ist Professorin am Lehrstuhl «Politisches und Soziales System der BRD/ Vergleich politischer Systeme» des Instituts für Politikwissenschaft der Justus-­Liebig-Universität
in Giessen. Die Untersuchung zum Wahl- und Abstimmungsverhalten von
LGBTIQ-­Wähler_innen hat sie gemeinsam mit Niklas Ferch von der Justus-Liebig-­Universität sowie mit Dr. Tina Olteanu und Michael Hunklinger von der Universität Wien durchgeführt.

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Sie gingen bei Ihrer Arbeit von drei Grundaussagen aus, die immer wieder zur Beschreibung der LGBTIQ-Gemeinschaft herangezogen werden. Die erste dieser Thesen ist jene, wonach sich LGBTIQ-Menschen nur mit sich selbst beschäftigen und sich um keine anderen Themen kümmern. Hat Ihre Studie diese These bestätigt oder widerlegt?
Genau, das ist eine der gängigen Annahmen – um nicht zu sagen, Klischeevorstellungen –, die im Raum stehen. Die Szene sei eh nur auf Party gepolt und befasse sich politisch nur mit ihren eigenen Partikular­interessen. Die Behauptung ist, dass Schwule und Lesben sozusagen immer nur in ihrem «eigenen Sumpf» baden. Die Studien zu Wien und Berlin haben indes gezeigt, dass das keineswegs der Fall ist. LGBTIQ-­Personen interessieren sich für eine breite politische Agenda – vom sozialen Wohnungsbau bis zum Thema Flucht und Migration.

LGBTIQ sind in diesem Sinne auch überdurchschnittlich intensiv engagiert in zivilgesellschaftlichen Organisationen und Parteien. Die Themen Homo- und Transphobie beziehungsweise Diskriminierung sind den Befragten allerdings weiterhin wichtig, denn leider machen viele in ihrem Lebensumfeld nach wie vor Erfahrungen der Ausgrenzung und Gewalt. Interessant ist hier vielleicht noch ein weiteres Detail: Viele Medien machen ja immer mal wieder einen ziemlichen Hype darum, einzelne Personen zu outen. Für die Community selbst scheint es jedoch gar nicht so wichtig zu sein, dass Politikerinnen und Politiker out sind. Viel bedeutender ist, dass letztere sowie die Parteien sich inhaltlich mit den Interessen der LGBTIQ-­Community solidarisieren.

Die zweite These, die Sie untersuchten, lautet dahingehend, dass wir Parteien bevorzugen, die sich explizit für unsere Anliegen stark machen. 
Wenn man sich die Programme der zur Wahl stehenden Parteien anschaut, so stellt man schon erhebliche Unterschiede fest. Manche Programme treten etwa für eine progressive Agenda der Gleichheit an, was zum Beispiel die Ehe für alle, das Adoptionsrecht und eine besondere Fürsorge für LGBTIQ-Geflüchtete miteinschliesst. Mit einer solchen Agenda gehen in Wien und Berlin etwa grüne und linke Parteien ins Rennen. Auf der anderen Seite gibt es christdemokratische Parteien, die sich zu diesen gesellschaftspolitisch kontroversen Themen lieber gar nicht äussern, oder Rechtspopulisten, die mit einer homophoben Agenda zur Wahl antreten.

Wenn man vor diesem Hintergrund die Parteipräferenzen der LGBTIQ-­Personen anschaut, so erscheint es plausibel, dass grüne Parteien und Parteien wie Die Linke in Berlin einen besonderen Rückhalt geniessen. Aber es gibt auch in unserer Community Personen, die rechtspopulistische Parteien wählen. Dieses Verhalten ist in gewisser Weise widersprüchlich und erklärungsbedürftig. Inhaltlich ergibt es sich – das zeigen unsere Ergebnisse – in erster Linie über den in unserer Gesellschaft weit verbreiteten Islamnegativismus.

«LGBTIQ-Menschen denken progressiv und sind gegen Diskriminierung» – das ist die dritte These, die oft im Raum steht. Diese kann also nicht bestätigt werden.
Nein – offensichtlich ist das eben genau kein Automatismus. Auch Menschen, die selbst Diskriminierungserfahrungen machen, sind nicht davor gefeit, sich selbst diskriminierend zu verhalten, zum Beispiel gegenüber Musliminnen und Muslimen oder Geflüchteten. Es sind sicherlich weitere Untersuchungen nötig, um dieses Phänomen noch genauer zu untersuchen und beispielsweise auch das Verhalten von exponierten Persönlichkeiten wie Alice Weidel zu erklären. Diese lebt als Lesbe in einer Regenbogenfamilie in der Schweiz, macht in Deutschland aber Politik für eine homophobe Partei wie die AfD.

[perfectpullquote align=“right“ cite=““ link=““ color=““ class=““ size=““]«Vor allem jüngere schwule Männer, denen es wirtschaftlich relativ gut geht, interessieren sich für rechtes Gedankengut.»[/perfectpullquote]

Welche  LGBTIQ-Menschen können sich für rechtes Gedankengut begeistern? Sind das wiederum die verschiedensten Leute, oder gibt es hier bestimmte Kategorien, die nach rechts tendieren?
Es sind in erster Linie jüngere schwule Männer zwischen 20 und 39, denen es wirtschaftlich relativ gut geht und die auch oft gut ausgebildet sind. Viele von ihnen leben als Single.

Alles in allem kann man also sagen: Unterschiedliche «Gruppen» innerhalb der LGBTIQ-Gemeinschaft stimmen anders ab als andere.
Ja, es gibt Unterschiede: In unserer Stichprobe ist die Wahlbeteiligung bei schwulen Männern höher. Schwule Männer haben in Wien und Berlin eine klare Präferenz für grüne Parteien. Bei lesbischen Frauen ist diese Präferenz noch stärker ausgeprägt.

Und wie gesagt, es gibt eine Gruppe schwuler Männer, die offenbar rechtspopulistische Parteien wie die AfD beziehungsweise die FPÖ unterstützt. Bei Lesben kommt das nicht vor. Die Zahl der Personen, die bi, trans oder intersexuell sind und an unseren Umfragen teilgenommen haben, ist leider ziemlich gering. Insofern ist es hier kaum möglich, empirisch valide Aussagen zu machen.

Sie haben zuvor gesagt, wir seien «ein bunter Haufen, das bildet sich auch in der Politik ab». Wie beurteilen Sie selbst das Ergebnis? Waren Sie überrascht?
Im Grunde freut mich das Resultat. Es bedeutet, dass wir einfach einen Durchschnitt der Bevölkerung abbilden. Wir haben eine andere sexuelle Identität und leben teilweise andere Beziehungsformen, ansonsten aber sind wir wie alle anderen auch: Viele sind progressiv, links und treten für eine offene Gesellschaft ein.

[perfectpullquote align=“full“ cite=““ link=““ color=““ class=““ size=““]«Auch wenn ich das persönlich nicht verstehen kann oder gutheisse, finde ich es positiv, dass wir letztlich keine homogene, normierte politische Identität haben.»[/perfectpullquote]

Andere wiederum sind fremdenfeindlich und folgen irgendeiner verschrobenen Handlungslogik. Auch wenn ich das persönlich nicht verstehen kann oder gutheisse, finde ich es positiv, dass wir letztlich keine homogene, normierte politische Identität haben. Die progressiven Parteien allerdings sollten sich auch darauf einstellen, dass es keine Garantie gibt, dass die LGBTIQ-­Stimmen eh bei ihnen landen, egal, was sie tun. Und die rechtspopulistischen und konservativen Parteien sollten sich der Tatsache bewusst werden, dass es auch in ihren Reihen und bei ihren Wählerinnen und Wählern LGBTIQ-­Personen gibt.

Haben diese Resultate Auswirkungen auf die Art und Weise, wie Parteien bei LGBTIQ-Menschen auf Stimmenfang gehen könnten oder sollten?
Die Parteien verhalten sich nach wie vor relativ ignorant, und zwar von links bis rechts. Angesichts der Tatsache, dass es sich um eine numerisch relevante Klientel handelt, die man potenziell mobilisieren kann, ist dies erstaunlich. Die Ignoranz hat unterschiedliche Erscheinungsformen: Sie reicht von offener Hetze über unverbindliche Regenbogenfolklore im Wahlkampf bis hin zu Wahlversprechen, die eines nach dem anderen gebrochen werden.

Dies kann man gegenwärtig beim Thema «Ehe für alle» in Deutschland beobachten. Von der LGBTIQ-­Community wird dann Verständnis dafür erwartet, dass es «leider gerade nicht möglich ist», Versprechungen umzusetzen und andere Dinge Vorrang haben – die Koalitionsräson, zum Beispiel. In Bezug auf die Parteien, ihre Strategien im Umgang mit der Wählerschaft und ihre Repräsentationspolitik ist also noch vieles zu tun.

Lohnt es sich für Parteien überhaupt, LGBTIQ als Gruppe zu sehen und diese gezielt anzugehen und zu «umgarnen»? Oder sind wir so divers, dass das Merkmal LGBTIQ aus politischer Sicht letztlich irrelevant wird und sich sozusagen auflöst?
Das lohnt sich auf alle Fälle. Heute werden Wahlen oft mit wenigen Stimmen entschieden. Jede Stimme zählt. Wer sich klar positioniert und verbindlich handelt, findet in der LGBTIQ-Community eine verlässliche, politisch interessierte und engagierte Klientel.

Prof. Dr. Dorothée de Nève (Bild: zvg)

 


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