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Wie queer war … Judy Garland?

10 Gründe, warum die legendäre US-Entertainerin eine Schwulenikone war und heute aufs Neue junge Queers fasziniert, nicht nur wegen des Kinoerfolgs von «Judy»

Judy Garland
Judy Garland in einem Publicity-Foto der 1940er-Jahre (Foto: MGM)

«Judy Garland als Ikone der Gay Community zu bezeichnen wäre eine massive Untertreibung», heisst es in «The Queer Encyclopedia of Music, Dance & Musical Theater» von 2004. «Garlands zerbrechliche aber unbesiegbare Persönlichkeit und ihr überemotionaler Gesang haben sie unleugbar mit der modernen US-amerikanischen Gay Culture und Identität verbunden.»

Das gelte besonders für schwule Männer, aber auch für Lesben, schreibt Claude J. Summers als Herausgeber dieser Enzyklopädie. «Sie alle fühlten sich hingezogen und identifizierten sich mit Garlands mutiger Widerständigkeit und Verletzbarkeit.» Summers spricht in der Vergangenheitsform, weil sich seine Aussage speziell auf Schwule und Lesben der Pre-Stonewall-Generation bezieht, die von der Gesellschaft gezwungen wurden, ihre Sexualität geheim zu halten und zu negieren – und die von einem anderen befreiten Leben jenseits des Regenbogens träumten.

#1 «Somewhere Over the Rainbow»
Im Jahr 1939 wurde die 16-jährige Judy Garland, die eigentlich Frances Gumm hiess und schon im Alter von zwei Jahren von ihren Eltern auf die Bühnen von Vaudeville-Theatern geschleift wurde, vom Filmstudio MGM ausgewählt, die Rolle der Dorothy in «The Wizard of Oz» zu spielen.

Damit wurde Garland nicht nur mit einem Schlag weltberühmt, sie kreierte darin auch das Lied von Harold Arlen und Yip Harburg, das lediglich als «Hit» zu beschreiben ebenfalls eine Untertreibung wäre. Es wurde für Jahrzehnte zu einer Art inoffizieller Hymne für die Gay Community, manche glauben sogar, dass die später entwickelte LGBTIQ-Regenbogenfahne direkt mit diesem Lied zusammenhängt. In dem Lied träumt die Figur der Dorothy – in Schwarzweiss gefilmt – davon, ihrem harten Leben auf einer Farm in Kansas zu entkommen und woanders ihr Glück zu finden. Als sie von einem Tornado weggewirbelt wird, landet sie im bonbonbunten Zauberland Oz.


#2 «Friends of Dorothy»
Dieser MGM-Musicalfilm ist auch heute noch für viele Menschen Kult. Er erzählt die Geschichte von Dorothy, die sich in der Fantasiewelt von Oz mit einer Gruppe von queeren Aussenseitern zusammenschliesst, um einen Ausweg aus ihrer beängstigenden Situation zu finden – bei der sie vor allem von der giftgrünen Wicked Witch of the West verfolgt werden, die ein Double der strengbürgerlichen Nachbarin aus Kansas ist, die jeden, der von der Norm abweichte, sofort bei der Polizei meldete. Man muss nicht Siegmund Freud sein, um den tieferen Sinn hier zu verstehen. (Margret Hamilton als Hexe ist ein weiterer Kultklassiker der Filmgeschichte und eine Figur, die sich tief ins Bewusstsein der Queer Community eingebrannt hat. )

Am Ende zerstören Dorothy und ihre Freunde die Hexe, und die Welt singt das Lied «Ding dong the witch is dead» im Freudentaumel – ein Lied, dass viele nach der Wahlniederlage von Donald Trump jetzt wieder in sozialen Netzwerken geteilt haben. Nach dem Erscheinen des Films wurden homosexuelle Männer über Jahrzehnte euphemistisch als «Friends of Dorothy» bezeichnet.

#3 Stonewall Riots
Die Stonewall Riots in New York brachen am 27. Juni 1969 genau an dem Tag aus, wo Judy Garlands Leiche in New York in einem Sarg der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Sie war an einer Überdosis Drogen gestorben im Alter von nur 47 Jahren. Über 21.000 Judy-Fans erschienen in der Upper East Side von Manhattan, um von Garland Abschied zu nehmen, die in einem Hochzeitskleid aufgebahrt war.


Viele der Trauernden waren schwule Männer. Laut einer älteren Stonewall-Legende waren sie emotional so aufgewühlt durch den Tod von Judy, dass sie am gleichen Abend die Riots starteten, um nicht länger unterdrückt zu werden von der Polizei.

Dieses Narrativ haben viele jüngere Queers inzwischen zertrümmert, aber es gibt eine ältere Generation von Schwulen, die an dieser liebgewonnenen Legende weiterhin festhalten und damit Judy zur Auslöserin des Gay Liberation Movements in den USA machen – nicht Marsha P. Johnson und Sylvia Rivera.

#4 Freed’s Fairies
1935 bekam Judy einen MGM-Vertrag und wurde als «Die Kleine mit der grossen Stimme» Teil der erfolgreichen Musicalproduktionsabteilung des Studios. Dieses wurde von Arthur Freed geleitet, der auf Judy als Hauptdarstellerin fürs Projekt «Wizard of Oz» bestand. Freed und seine sogenannten «Fairies» waren es auch, die in den Folgejahren die berühmten Garland-Filmmusicals entwickelten und umsetzten. D. h. Judy war permanent von schwulen Männern umgeben, die für sie Filmrollen schufen, die man mit wenig Mühe als kodierte Geschichten für ein homosexuelles Publikum lesen konnte. Es musste kodiert sein, weil seit 1934 in Hollywood der Hays Code galt, der jede Form von «moralisch nicht akzeptabler Darstellungen» verbot. Dazu gehörte sowohl Homo- als auch Transsexualität, aber auch Kriminalität und «linke» politische Inhalte. Es waren diese «Fairies» aus der Arthur Freed Unit, die über 15 Jahre das öffentliche Image von Garland aufbauten, mit hyperqueeren Filmen wie «Meet Me in St. Louis» (wo Garland den berühmten «Trolley Song» singt) oder «The Pirate», wo ihr Partner Gene Kelly auf ungewöhnliche Weise als Objekt der Begierde vorgeführt wird.

1950 schmiss das Studio Garland raus und kündigte den Vertrag, weil sie wegen Drogenproblemen nicht mehr verlässlich arbeiten konnte – die Drogenprobleme waren jedoch die Folge der MGM-Studiopolitik, die den Teenager Judy bereits mit Pillen vollgestopft hatten, um ihr Gewicht unter Kontrolle zu bekommen und zu garantieren, dass die «wach» und voller Energie am Set stundenlang Szenen wiederholen konnte.

#5 Frank Gumm
Während Judy mit ihrer Mutter Ethel ein extrem angespanntes Verhältnis hatte und sich später weigerte, sie nach Konzerten in ihre Garderobe zu lassen oder sich mit ihr zu treffen, war ihr Vater Francis «Frank» Gumm eine enge Bezugsperson für sie. Frank Gumm war Theaterleiter, der ein Kino betrieb und dort seine drei Töchter als «The Gumm Sisters» auftreten liess. Er war es auch, der Judy zum Vorsingen bei MGM fuhr, nachdem ein Talentsucher sie zufällig gehört hatte. Gumm begleitete Garlands ersten Studioschritte bei den «Freed Fairies», starb aber wenig später 1935. Ihren Aufstieg zur lebendn Legende erlebte er nicht.

Judy Garland
Garlands Vater Frank Gumm mit einem männlichen Partner am Strand von Kalifornien (Foto aus der Doku «Sid & Judy» / Screenshot)

In der neuesten, sehr sehenswerten Doku «Sid & Judy» von 2019 wird darauf eingegangen, dass Judys Mutter kein drittes Kind wollte, weil sie herausgefunden hatte, dass ihr Mann «Grenzen überschritten» hatte mit anderen Männern. Wie intensiv diese gleichgeschlechtlichen Beziehungen von Frank Gumm waren, ist unklar. Wie viel Judy davon wusste ebenfalls.

Wie viel Judy über die homosexuellen Beziehungen ihres Vaters wusste ist unklar

Sie selbst hat später immer wieder bisexuelle und homosexuelle Männer als Lebenspartner gehabt, der berühmteste war Regisseur Vincent Minnelli, den sie bei Dreharbeiten zu «Meet Me in St. Louis» kennenlernte. Mit ihm hat sie die Tochter Liza Minnelli – eine weitere Gay Icon, die teils das Schicksal ihrer Mutter mit Drogenabstürzen und unglücklichen Beziehungen wiederholte.

Judy Garland
Der Ex-Boxer Sid Luft heiratete Judy Garland nach ihrem MGM-Rauswurf und organisierte ihre Konzerte, er ist der Vater zweier ihrer Kinder und wurde von der Presse wiederholt als «gefährlich» beschrieben mit Kontakten in die Unterwelt (Foto aus der Doku «Sid & Judy» / Screenshot)

In der Doku «Sid & Judy» lesen Jon Hamm («Mad Men») und Jennifer Jason Leigh die Briefe von Garlands Ehemann Sid Luft (Vater ihrer zwei weiteren Kinder) und von Judy, dazu gibt es privates Filmmaterial, in dem man eine nuancierte Schilderung der letzten Lebensjahre des Stars sieht als in dem Hollywoodfilm «Judy» mit Renée Zellweger, ebenfalls aus dem Jahr 2019.

Judy Garland
Die drei Kinder von Judy Garland: (v.l.n.r.) Liza Minnelli sowie Lorna und Joey Luft (Foto aus der Doku «Sid & Judy» / Screenshot)

#6 «A Star Is Born»
Nachdem Judy bei MGM rausgeflogen war, ging sie auf Konzerttour, weil auf der Bühne ihr Übergewicht nicht so auffiel wie vor der Kamera. Aber sie arbeitete parallel an einem Comeback im Kino, zusammen mit ihrem Ehemann Sid Luft. Der sicherte sich die Rechte an «A Star Is Born» und überredete Warner Brothers, den Film 1954 zu produzieren. Als Regisseur wurde der schwule Star George Cukor ausgewählt. Wegen des mörderischen Drehpensums und Leistungsdrucks begann Garland nach einer vorangegangenen Entziehungskur wieder Pillen zu schlucken, um die Arbeit durchzustehen: Cukor drehte mit ihr 27 Versionen von «The Man That Got Away» an drei Tagen. Eine tour de force, die zu den klassischen Garland-Momenten auf der Leinwand wurde.

Regisseur George Cukor und Judy Garland am Set von «A Star is Born» (Foto aus der Doku «Sid & Judy» / Screenshot)

Sie erhoffte sich einen Oscar für ihre Darstellung, doch der ging an Grace Kelly. Später witzelte Garland mit einem clownesken Lachen: «Wenigstens war ich nominiert!» Da der Film über drei Stunden lang war, zwangen Kinobetreiber Warner, den Streifen auf 100 Minuten zu kürzen. Danach war er allerdings nicht mehr erfolgreich an der Kasse und gilt heute als zerstückeltes Meisterwerk, von dem man nur noch Umrisse erkennen kann. «The Man That Got Away» ist allerdings unabhängig davon ein Gay Classic erster Güte geblieben.

#7 Das Carnegie-Hall-Konzert
Von den vielen berühmten Garland-Konzerten, die sie im Laufe der Jahre gab, ist wohl keines so legendär wie das von 1961, als sie in der New Yorker Carnegie Hall auftrat. Nachdem nur eine winzige Annonce in der New York Times veröffentlicht worden war, war das Event innerhalb von zwei Stunden ausverkauft.

Judy Garland
Judy Garland bei ihrem legendären Konzertauftritt in der Carnegie Hall 1961 (Foto aus der Doku «Sid & Judy» / Screenshot)

Auf einigen Fotos sieht man in den vorderen Reihen fast nur Männer stehen, die ihre Arme ekstatisch nach ihrem Idol ausstrecken – und Judy streckt ihre Arme diesen Fans entgegen, die dieses Konzert zu einem queeren Hochamt machen. Auch Rock Hudson war laut Berichten da und hob am Ende Garlands Kinder auf die Bühne – inklusive die kleine Liza. Das bei Capitol Records veröffentliche Live-Album wurde mit vielen Preisen überhäuft, man hört darauf eine triumphale Stimme, die alle Widrigkeiten des Lebens trotz und unter Tränen Evergreens schmettert wie «When You’re Smiling (The Whole World Smiles With You)»: eine Aufforderung, nicht klein beizugeben.

Die Wirkung dieses Auftritts ist so nachhaltig, dass Rufus Wainwright versuchte, das Konzert in der Carnegie Hall zu wiederholen

Die Wirkung dieses Auftritts ist so nachhaltig, dass 2006 Rufus Wainwright versuchte, das Konzert in der Carnegie Hall zu wiederholen mit «Rufus Does Judy at Carnegie Hall». Das Album wurde im Dezember 2007 von Geffen Records veröffentlicht, es ist Wainwrights Ehemann Jörn gewidmet.

Judy Garland
Das Cover des Albums «Rufus Does Judy at Carnegie Hall» (Foto: Geffen Records)

#8 Die «Judy Garland Show»
Nach dem Erfolg des Carnegie-Hall-Konzerts schloss der Sender CBS mit Garland einen Vertrag, um für vier Saisons «The Judy Garland Show» fürs Fernsehen zu produzieren. Daraus wurden dann nur 26 wöchentliche Sendungen in den Jahren 1963-64, weil Judy zu dem Zeitpunkt schon ein körperliches Wrack war und nicht den damals gängigen TV-Erfolgsmassstäben entsprach. Die Quote blieb niedrig, auch wenn sich US-Präsident John F. Kennedy als Fan der Sendung outete.

Judy Garland
Judy Garland bei einem Dinner mit US-Präsident John F. Kennedy (Foto aus der Doku «Sid & Judy» / Screenshot)

Es ist aber genau diese TV-Sendung, die viele schwule Garland-Fans bis heute besonders bewundern. Judy erzählt darin viele sehr private Geschichten, quasi in direkter «Kommunion» mit ihrer Gemeinde vorm Bildschirm, und obwohl man teils glaubt, sie kippe gleich um, weil sie so zerbrechlich wirkt, reisst sie sich immer wieder zusammen und fängt an zu singen – und zwar so, dass es einem das Herz brechen kann.

Viele Szenen aus der Show sind heute auf YouTube verfügbar, u. a. der Auftritt mit der jungen Barbra Streisand. Mit ihr singt Garland das Duett «Get Happy», und obwohl Streisand ihre schon damals imposante Stimme voll aufdreht, schafft es Garland, etwas dagegenzusetzen und sich nicht die Show stehlen zu lassen. Es ist ein feuchter Showqueen-Traum für die Ewigkeit!

#9 Drag Queens
Viele legendäre Musicaldarstellerinnen wie Ethel Merman oder Carol Channing werden von modernen Drag Queens kopiert und parodiert. In seinem Buch «Something for the Boys: Musical Theater and Gay Culture» schreibt John M. Clum 1999 jedoch, dass Drag Queens, die Judy imitieren, dies nicht als Parodie tun würden, sondern «als Hommage».

Denn: «Man kann Garland nicht parodieren, so wie andere. Sie ist als Sängerin einfach zu gut und zu vielseitig. Sie hatte ihre vokalen Manierismen – wie alle Sänger –, dieses Anschwellen von bestimmten Tönen, die Schwierigkeit mit Spitzentönen in späteren Jahren, aber sie ist eine reine Sängerin. Man kann bei ihr nur die Äusserlichkeiten nachmachen und durch den Kakao ziehen, die emotionale Botschaft ihrer Lieder nicht.»

Camp und Schmerz sind zentrale Elemente der Gay Culture

Laut Richard Dryer sind ihre Wiedergaben «genau auf des Messers Schneide zwischen Camp und Schmerz, ein zentrales Element der Gay Culture».

In einem CBS-Interview der 1960er-Jahre sagte Garland, sie sei eine «angry lady», also eine wütende Frau: Denn sie habe versucht, über den Regenbogen zu kommen, aber sie habe es nicht geschafft. Wer späte Aufnahmen von ihrem «Over the Rainbow»-Lied hört, spürt, wie sie es immer wieder versucht und versucht, hört die Sehnsucht nach einem anderen Leben und vernimmt die Resignation. In dieser Mischung ist Garlands Interpretation des Liedes einzigartig. Wer nur die Version von Renée Zellweger aus dem neuen «Judy»-Film kennt, wird das kaum verstehen.

#10 The Smithsonian
Als das Smithsonian Museum 2013 «The History of America in 101 Objects» herausbrachte, konnte man darin neben dem Hut von Abraham Lincoln, Ku-Klux-Klan-Gewändern, der ersten Kodak-Kamera und dem Ford «Model T» auch Teile des «Aids Memorial Quilt» sehen – und die rot-glitzernden Schuhe, die Judy Garland im «Zauberer von Oz» trägt, entworfen von Gilbert Adrian, einem der grossen queeren Modedesigner der 1930er-Jahre.

Judy Garland
Dorothys «Ruby Slippers», wie sie jetzt im Museum zu sehen sind (Foto: The Smithsonian / www.americanhistory.si.edu)

Diese Schuhe sind inzwischen Teil der US-amerikanischen Geschichte geworden und diese Geschichte wird nunmehr offiziell als «Lehrstoff» weitergegeben. Dabei inspiriert er immer wieder nachfolgende Generationen.

Der neue «Judy»-Film ist ein Beispiel dafür, er ist inzwischen bei Netflix gelandet. Darin wird die besondere Beziehung Garlands zu ihren schwulen Fans deutlich und anrührend thematisiert. (MANNSCHAFT berichtete.) Die «Sid & Judy»-Doku kann man bei Amazon als Stream kaufen.

Wer mehr über Garlands Bisexualität und ihre Beziehungen zu Frauen erfahren will, muss John C. Clum lesen. Es ist verblüffend und vielleicht typisch, dass es über Judy als Schwulenikone hunderte von Bücher gibt, dass so viel über die schwulen Beziehungen ihres Vaters und ihrer Ehemänner geschrieben wurde, aber über ihre Bisexualität fast nichts. In «Judy» und «Sid & Judy» wird sie nicht erwähnt.

Und wie genau es um Judys lesbische Fangemeinde steht … dazu muss man lange nach Informationen suchen!


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