Unter dem Schleier – Wo sich die schwule Community in Riad trifft
Wie organisiert sich queeres Leben in Saudi-Arabien?
Ausgelassene Partys sowie ein befreites Sexualleben gehören heute an vielen Orten der Welt zum Alltag. Saudi-Arabien ist keiner davon. Diskret vernetzen sich dort aber längst auch diejenigen, die frei von Vorschriften lieben und feiern wollen. Eine Spurensuche in Riad.
Von Johannes Sadek, dpa
Rami gleitet durch die Nacht, die nächste Zigarette griffbereit. In seiner Windschutzscheibe ziehen die illuminierten Glastürme von Riad vorbei. Mit den zerschlissenen Jeans und dem schwarzen Unterhemd könnte man ihm genauso in Berlin oder London begegnen, aber der junge Künstler hat Saudi-Arabien noch nie verlassen. Seine letzte Beziehung mit einem anderen Mann ist einige Zeit her. Aber wer weiss, wem er am Wochenende begegnet, für Freitag ist eine Techno-Party angekündigt. Konsum von Alkohol und Drogen nicht ausgeschlossen.
81 Hinrichtungen an einem einzigen Tag Bis heute gilt Saudi-Arabien als eines der konservativsten Länder der Welt – ein absolut regiertes Königreich, in dem Religionspolizisten über gute Sitten wachen und wo nach islamischer Rechtssprechung härteste Strafen möglich sind. Erst im März wurden 81 Menschen an einem einzigen Tag hingerichtet. In Gefängnissen, so berichten es Menschenrechtler, werden Abweichler gefoltert. Wer Alkohol, Drogen oder pornografisches Material ins Land bringt, kann dafür Jahre hinter Gitter kommen. Gleichgeschlechtlicher Sex kann mit Gefängnis, Stockhieben und theoretisch auch mit dem Tod bestraft werden.´
Unter diesem dunklen Schleier der Verbote bewegt sich etwas. Unzählige im Land wollen ihre Sexualität frei ausleben und vernetzen sich heimlich. Zugleich hat sich die Kunde entfesselter Partys aus anderen Ländern längst ihren Weg gebahnt, über das Internet oder über wohlhabende Saudis, die von Aufenthalten in Europa oder den USA heimkehren. Zuvor galten westliche Diplomaten und gewisse Scheichs als mögliche Anlaufstelle. Für alkoholreiche Empfänge, für Feiern in gut bewachten Anwesen. Aber inzwischen wollen auch junge Saudi-Araber mitfeiern. Zwei Drittel der Bevölkerung sind jünger als 35 Jahre.
«Viele Leute hier lieben Techno. Sie lieben Raves», erzählt Rami, der in Wirklichkeit anders heißt, beim Eiskaffee und seiner nächsten Zigarette. «Saudi-Arabien ist gross und das Internet umgibt alle.» Auf geheimen Partys werde gefeiert wie anderswo auf der Welt – und auch so konsumiert. Drogen wie Haschisch oder Kokain seien teuer, aber beschaffbar, sagen mehrere Kenner der Szene. Dem Zoll gehen immer wieder illegale Substanzen und Flaschen ins Netz. «Wie willst du dieser Generation Regeln vorschreiben?», fragt Rami. «Es ist unmöglich.»
Konzerte mit grossen Lichtshows und Pyrotechnik gibt es, nachdem ein Konzertverbot vor einigen Jahren gekippt und die strikte Trennung von Männern und Frauen aufgehoben wurde. Seitdem feierte und tanzte gemischtes Publikum vor Justin Bieber oder Star-DJ David Guetta, ein Festival namens «Soundstorm» zog vergangenen Winter mehr als 700 000 Menschen in die Wüste.
Die Regierung des faktischen Herrschers, Kronprinz Mohammed bin Salman, finanziert und unterstützt diese teils bombastischen – alkoholfreien – Events, Federführung hat die «Allgemeine Behörde für Unterhaltung». Die letzte «Soundstorm»-Ausgabe schaffte gleich zwei Guinness-Weltrekorde: für die höchste Bühne (41 Meter) und die Show mit den meisten LED-Lichtern (60 Millionen). Was über Jahrzehnte nicht erlaubt war, wird jetzt offenbar in Superlativen nachgeholt.
Nur hat der bunte und von höchster Stelle durchgeplante Spass einen bitteren Beigeschmack. Kritiker sehen in den Veranstaltungen Versuche, das Image des Landes auf dem Rücken von Kunst, Musik und hipper Jugendkultur mit staatlichem Geld reinzuwaschen. Dem Musikmagazin «Billboard» zufolge kassierten Musiker teils das Sechsfache ihrer regulären Gage, um beim «Soundstorm» die Massen zucken zu lassen. Mit grossem Geld wird auch grosser Sport ins Land geholt: Formel 1, Boxen, Pferderennen.
Parallel ist im Untergrund eine geheime Feiergesellschaft entstanden. Veranstalter dieser illegalen Partyreihen an wechselnden Orten bezeichnen sich kryptisch als «Entertainment-Unternehmen» oder «Sinneserfahrung». Rein kommt, wer über Insider eingeladen wird – oder in Ausnahmefällen, wer einen ausführlichen Fragebogen zur eigenen Party-Vergangenheit und dem Freundeskreis beantwortet. Videos dieser Nächte zeigen Umrisse von Menschen, die sich in dunklen Räumen zu Beats bewegen, und wankende Gestalten im Morgengrauen.
Dank Internet finden sich auch diejenigen der 34 Millionen Einwohner, die hinter verschlossenen Türen ein befreites Sexualleben führen wollen. Homosexuelle und andere Teile der LGBTI-Gemeinde vernetzen sich in privaten Gruppen bei Instagram oder Snapchat. Nicht umsonst wird «Snap», wo Chat-Nachrichten sich nach kurzer Zeit von selbst löschen, in wenigen Ländern so stark genutzt wie in Saudi-Arabien.
Selbst auf Dating-Apps wird inzwischen gechattet und verabredet, mit möglichen verdeckten Ermittlern im Nacken. Ein nach eigener Aussage homosexueller Nutzer schreibt, er habe eine der Apps schon mehrfach heruntergeladen, aber immer wieder gelöscht. «Weil ich Angst habe.» Viele User seien «Lügner», andere bräuchten Geld und würden sich prostituieren. «Wenn du dich auf Hinz und Kunz einlässt, gehst du ein Risiko ein, weil du nicht weisst, bei wem du als Nächstes landen wirst», schreibt er.
Es braucht nur einen Kuss Stopp in einem Café, das als heimlicher Treffpunkt der homosexuellen Community gilt. Die Stimmung ist ausgelassen. Es herrscht häufiges Kommen und Gehen, während Mitarbeiter zum Indie-Pop-Grundrauschen hinter dem Tresen Kaltgetränke und Kuchen zubereiten. Auf eine Papierserviette an einer Pinnwand hat jemand geschrieben: «Es braucht nur einen Kuss – Verliebe dich in mich» und dazu einen Snapchat-Nutzernamen. Man vergisst hier schnell, dass ein öffentlicher Kuss in Saudi-Arabien mindestens eine Geldstrafe und ein paar regierungskritische Tweets jahrelange Haft bedeuten können.
Jüngstes Beispiel: Salma al-Schihab. Erst vor wenigen Wochen zu 34 Jahren Haft verurteilt, weil sie Aktivisten bei Twitter folgte und mit ihren überschaubaren 2500 Followern dort Sätze teilte wie: «Ich lehne Ungerechtigkeit ab und unterstütze die Unterdrückten.» Nach Einschätzung der saudischen Staatsanwaltschaft brachte sie damit die «gesellschaftliche und staatliche Sicherheit» ins Wanken. Es ist die härteste Strafe, die je im Land gegen eine Aktivistin oder einen Aktivisten verhängt wurde.
Im Café gibt es Kartenspiele und Gelächter bis spät am Abend. Es ist einer der inzwischen unzähligen «Com-Areas» im Land, ein Ort also, an denen Männer und Frauen sich gemeinsam aufhalten und beieinander sitzen können. Und einer, an dem auch Homosexuelle halbwegs öffentlich zueinander finden. Ein Saudi im weissen Thawb-Gewand, nach eigener Aussage auf der Suche nach neuen männlichen Kontakten, sagt beim Spaziergang in der Nähe: «Freunde sein ohne Action ist manchmal ein bisschen langweilig.»
Wer mit jemandem vom selben Geschlecht Sex hat, gilt hier als verrückt und krank.
König Salman, der altersschwache Monarch, bezieht einen grossen Teil seiner Legitimität daraus, «Hüter der beiden heiligen Stätten» zu sein, also die für Muslime heiligen Orte Mekka und Medina. Der sunnitische Islam, gelebt in der puritanischen und streng konservativen Lesart des Wahhabismus, ist Staatsreligion. Homosexualität sei im Islam «natürlich» verboten, sagt ein gläubiger, vierfacher Familienvater eines Nachmittags bei Tee und Datteln. Wer mit jemandem vom selben Geschlecht Sex habe, gelte hier als «verrückt» und sei «krank».
«Unsere Religion regiert unser Land», sagt auch Rami, der sich mittlerweile warmgeredet hat. Viele Männer führten nun ein «hartes Leben», weil sie sich entschieden hätten, verbotene Grenzen zu überschreiten. Rami bezeichnet sich ebenfalls als gläubig. Aber am Ende werde der Mensch nach seinem «inneren Herzen» beurteilet. «Wie ich mit meiner Mutter, meinem Vater umgehe, mit den Armen. Das sind die wenigen Dinge, die wirklich zählen.»
Das vielleicht deutlichste Zeichen des Wandels sind die bärtigen Religionspolizisten, die langsam aus dem öffentlichen Raum verschwinden. Das «Komitee zur Förderung der Tugend und Vermeidung von Lastern», wie die Behörde offiziell heisst, hat die meisten seiner Befugnisse inzwischen verloren. Die «Mutaua» darf niemanden mehr festnehmen, verfolgen oder zur Moschee jagen. Wenn der Gebetsruf heute durch die Lautsprecher dringt, stöbern Kunden in klimatisierten Malls weiter bei Zara oder Nike – undenkbar noch vor zehn Jahren, als die Sitten-Aufseher mit Schlagstöcken auf Patrouille gingen.
Trotz aller Lockerungen scheint die Führung des Landes den ganz grossen liberalen Dammbruch vorerst abwenden zu wollen: Alkohol, das wohl beliebteste Rauschmittel weltweit. Aber mit dem nötigen Kleingeld ist auch diese eigentlich verbotene Ware beschaffbar, auch ohne Kontakt zu westlichen Botschaften. Eine Flasche guten Wodkas, in deutschen Supermärkten um 10 Euro zu haben, kann auf dem Schwarzmarkt das 30-Fache kosten, erzählt ein Kenner, der zu seinem Schutz anonym bleiben soll wie die weiteren Gesprächspartner in diesem Text.
Getränkekarten einiger Lounges geben längst den Eindruck einer pseudoalkoholisierten Gesellschaft, die den echten Konsum mit null Promille sozusagen nachspielt. Im «Twilight» in Dschidda stehen Mojitos, Sun on the Beach und ein Imitat schottischen Whiskys auf der Karte – alles alkoholfrei -, ausserdem «deutsches Fassbier» und Chardonnay, markiert mit dem Zusatz «0,0». Zum Brunch wird in Restaurants in Riad auch «Saudi-Champagner» bestellt, eine spritzige Fruchtbowle aus Apfel- und Zitronensaft mit Mineralwasser.
Auch beim Alkohol, in anderen Ländern sozialer Klebstoff quer durch Altersgruppen und Schichten, hat das Internet die Schleusentore ein Stück weiter geöffnet. In Foren und bei Youtube tauschen Expats Rezepte aus, um Schnaps oder auch Wein zu Hause in Plastikkanistern herzustellen. Zutaten im Wesentlichen: Traubensaft, Zucker, Hefe und etwas Geduld. In analogeren Zeiten machte «The Blue Flame» die Runde, ein Pamphlet zum Destillieren von Alkohol.
Eine wohlhabende Saudi aus Riads Nordwesten hat ihre eigenen Quellen. Ihren Rotwein füllt sie sich – mit Eiswürfeln – zum Ausgehen ab. «Jesus-Blut», sagt sie auf dem Weg zu einer Kunstausstellung – und bietet einen Schluck aus der Trinkflasche an. Die Eiswürfel klimpern. Als sie an diesem Abend im Juli, die Stadt glüht wie ein Backofen, zum Fahrer in ihren goldfarbenen Geländewagen steigt, hat der Wein sie schon angeheitert.
Arabische Länder wie Saudi-Arabien haben dieses Jahr das «Toy Story»-Prequel boykottiert. Grund war ein lesbischer Kuss (MANNSCHAFT berichtete). Auch die Neuverfilmung der «West Side Story» wurde in arabischen Ländern zensiert – wegen einer trans Figur (MANNSCHAFT berichtete).
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