Zurück in den Schrank: Keine Chats, keine Dates, keine Partys
Grenzerfahrung: Wenn plötzlich deine Familie aus der Ukraine bei dir wohnt
Der Umzug vor zehn Jahren aus der Ukraine nach Deutschland war ein grosser Befreiungsschlag: Endlich konnte ich offen als Schwuler leben. Niemals hätte ich gedacht, mich eines Tages wieder verstecken zu müssen – schon gar nicht in den eigenen vier Wänden. Doch als meine Mutter, meine Schwägerin und meine Nichte nach Kriegsausbruch bei mir einzogen, wurde genau das zum Alltag.
Protokoll: Cesare Macri
Meine nächsten Familienmitglieder leben noch in der zentralukrainischen Stadt Kropywnyzkyj. Eigentlich wollte ich Ende Februar zu ihnen fliegen, um gemeinsam meinen Geburtstag zu feiern. Zwei Wochen davor wurde die politische Situation langsam unsicher und mehrere Leute rieten mir von der Reise ab. Für mich war aber klar, dass ich in so einem kritischen Moment bei meinen Liebsten sein will; die ganze Unwissenheit und der Gedanke daran, der Kontakt zwischen uns könnte unterbrochen werden, belastete mich sehr. Deshalb war ich bis zum letzten Augenblick fest entschlossen hinzureisen. Allerdings wurde der Flug dann am Tag vor meiner Reise storniert.
Um fünf Uhr morgens des 24. Februars kriegte ich einen Anruf von meinem Bruder. Der Krieg war ausgebrochen (MANNSCHAFT berichtete). Von dem Moment an konnte ich an nichts anderes mehr denken – ständig hatte ich mein Handy in der Hand, um mit ihm und allen anderen im Kontakt zu bleiben und News aus der Ukraine zu checken. Glücklicherweise hatte ich Urlaub eingereicht und musste das nicht mit der Arbeit vereinbaren. Ich schaffte es gerade so, einkaufen zu gehen, als der Kühlschrank leer war. Sobald jemand etwas mehr Zeit zum Antworten brauchte, bekam ich Angst. Kropywnyzkyj ist bis heute zum Glück von direkten Angriffen verschont geblieben, allerdings hörte ich von meiner Familie, dass Sirenengeheul nun die neue Normalität sei – sowohl tagsüber als auch nachts. Der ohrenbetäubende Alarm ist eine Aufforderung, sich im nächstgelegenen Bunker in Sicherheit zu bringen, und in ihrem Fall ist dieser 15 Minuten zu Fuss entfernt. Besonders meiner achtjährigen Nichte hat das extrem zugesetzt, weshalb für die anderen bald klar wurde, dass dieser Zustand langfristig nicht haltbar ist.
Eine stille Fahrt Wenige Tage nach Kriegsausbruch fragte mich mein Bruder, ob ich unsere Mutter, seine Frau und seine Tochter bei mir aufnehmen würde. Das hat mich erstmal überfordert. Einerseits wären die drei Frauen dadurch in Sicherheit. Andererseits wäre mein Bruder dann allein. Meiner Mutter und ihrer Schwiegertochter ging es ähnlich; sie konnten sich nicht vorstellen, sich von ihm zu verabschieden. Nach einigen Tagen des Hin- und Hergerissenseins äusserte mein Bruder seinen Willen nochmal mit Nachdruck und ich sagte ihm, er könne auf meine Unterstützung zählen.
Dann ging alles sehr schnell: Am darauffolgenden Tag hiess es, sie würden jetzt das Nötigste in ein paar Taschen packen und Richtung polnisch-ukrainische Grenze losfahren. Da Kropywnyzkyj von jener Grenze ungefähr gleich weit entfernt ist wie Berlin, wurde mir in dem Moment bewusst, dass auch ich so schnell wie möglich starten musste. Ich selbst habe zwar keinen Führerschein, aber Manuel, ein guter Freund aus München, der mir einige Zeit davor seine Unterstützung angeboten hatte, schon. Innerhalb einer halben Stunde hatte ich mit ihm die gemeinsame Fahrt vereinbart und das Haus verlassen.
Um nicht unnötig Zeit zu verlieren, entschied ich, mit dem Zug nach Polen zu reisen und Manuel dort zu treffen, um gemeinsam weiterzureisen. Während der Fahrt verfolgte ich die Reise meiner Familie, die wegen immensem Stau und ständigen Kontrollen durch Polizei und Armee nur schleppend vorankam. Sieben Stunden später waren wir in der polnischen Stadt Posen, wo Manuel und ich uns ein paar Stunden Schlaf gönnten. Am darauffolgenden Tag sassen wir sieben Stunden lang gemeinsam in seinem Auto, wobei wir kaum miteinander sprachen. Zu sehr beschäftigten mich die Gedanken an das Wiedersehen mit meinen Liebsten und an das, was sie gerade durchmachten. Gefühle für mich zu behalten beziehungsweise zuerst selbst zu verarbeiten ist typisch für mich, aber wohl auch für die ukrainische Kultur. Und im Nachhinein denke ich, dass das Schweigen im Auto eine Art Selbstschutz war, da mich die Gefühle sonst überwältigt hätten.
Wiedersehen und Abschied Einmal an der Grenze – genau genommen in Korczowa – angekommen, erfuhren wir von einem Zelt, das als Anlaufstelle für Flüchtende eingerichtet worden war. Meine Familie befand sich noch auf der ukrainischen Seite, aber war, zumindest gemäss Google Maps, nur zehn Minuten von diesem Zelt entfernt. In Anbetracht dessen, dass sie jenseits der Grenze keinen Handyempfang mehr haben würden, fand ich das beruhigend. Als aber der Bus, der sie hätte hinfahren sollen, nach 40 Minuten immer noch nicht bei uns war, fing ich an, Angst zu kriegen. Waren sie falsch eingestiegen? Oder war gar etwas passiert? Wissen konnte ich es leider nicht, da sie nicht mehr erreichbar waren.
Endlose eineinhalb Stunden später konnten wir uns endlich umarmen – und das, nachdem sie, eine kurze Übernachtung abgezogen, 40 Stunden unterwegs gewesen waren. Wir lernten einige Freiwillige aus Deutschland kennen, die extra an die Grenze gefahren waren, um Flüchtenden eine Fahrgelegenheit zu bieten. Sie sagten uns, sie würden mich und die drei «Mädels», wie ich sie heute liebevoll nenne, in ihren zwei Autos zurück nach Berlin fahren. Das war eine Erleichterung für Manuel, der noch nach München fahren und am nächsten Tag arbeiten musste.
Die Rückfahrt dauerte nochmals acht Stunden und auch sie verlief fast wortlos. Wir tauschten mehrmals unsere Sitzplätze und als ich neben meiner Mutter sass, erzählte sie mir von der schmerzhaften Trennung von ihrem Sohn, meinem Bruder. Es sei unbeschreiblich, nicht zu wissen, wann und ob sie sich wiedersehen würden. Und es sei das erste Mal gewesen, dass sie Tränen in seinen Augen gesehen habe. Überhaupt könne sie noch gar nicht fassen, dass sie soeben ihr Zuhause zurückgelassen habe, ohne zu wissen, was sie am neuen Ort erwarte.
Obwohl wir körperlich alle erschöpft waren, war meine Nichte die Einzige, die eingeschlafen war. Als wir spätabends einen Halt machten, entfernte ich mich vom Auto, und als ich zurückkam, sah ich etwas Unerwartetes: Die Drei standen da und sangen «Happy Birthday». Ich – und übrigens auch sie – hatte den ganzen Tag lang nicht gemerkt, dass ich Geburtstag hatte. Heute scherzen sie, sie seien halt zu mir gefahren, um mir zu gratulieren, da ich es schon nicht zu ihnen geschafft hätte.
Weder dienen noch fliehen Meine Mutter hat einige Verwandte, die in Russland wohnen, unter anderem zwei Schwestern. Wenn sie ihnen vom Krieg erzählt, glauben sie ihr kein Wort. Sie verstehen deshalb auch nicht, wieso sie nach Deutschland gezogen ist, und tun ihre Erzählungen ab als Übertreibungen und Fake News. Da meine Mutter keinen Sinn mehr darin sieht, sie überzeugen zu wollen, spricht sie mit ihnen nur noch über andere Themen.
Für meinen Bruder ist die Situation zuhause sehr belastend; durch den Kriegsausbruch hat er seinen Job verloren, da – ähnlich wie während der Pandemie – nur noch systemrelevante Arbeit geleistet wird. So etwas wie eine Arbeitslosenversicherung gibt es in der Ukraine zwar offiziell, praktisch funktioniert das aber nicht wirklich. Er sitzt ständig auf Nadeln, da die Sirenen jederzeit losgehen könnten; nach dem Eindunkeln muss er das Licht ausmachen, damit das Haus von Fliegern nicht erkannt wird; im Supermarkt steht er teilweise vor leeren Regalen. Er würde eigentlich gerne das Land verteidigen, aufgrund seiner Dienstuntauglichkeit darf er das aber nicht. Das ist das Verrückte an der Geschichte: Er darf weder als Soldat dienen noch ausreisen, weil solche Fälle gesetzlich nicht geregelt sind. Um sich trotzdem nützlich zu machen, hat er begonnen, vaterlose Familien und ältere Menschen zu unterstützen. Ausserdem denkt er darüber nach, einen eigenen Bunker zu bauen, um im Ernstfall direkt unter das Haus flüchten zu können. Immerhin kann er Mutter, Ehefrau und Tochter täglich per Videocall sehen.
Meine Nichte weint immer noch, wenn sie ein Flugzeug vorbeifliegen hört.
Natürlich frage ich mich immer wieder, wie es mir wohl ergehen würde, würde ich noch in Kropywnyzkyj leben. Es fällt mir schwer zu sagen, ob ich als Soldat mitkämpfen wollen würde. Auf jeden Fall sehe ich meinen Beitrag mittlerweile darin, mich um meine Familie zu kümmern. Während meiner restlichen Ferien haben wir zu viert vieles unternommen, auch weil ich sie etwas ablenken wollte. Die Kleine weint immer noch, wenn sie ein Flugzeug vorbeifliegen hört, und auch die anderen beiden erschrecken jedes Mal. Ich habe ihnen Berlin gezeigt, sie zu Angeboten für ukrainische Familien begleitet, eines Tages liessen wir ein professionelles Studiofoto von uns machen. Sie kennen sich nun etwas aus in der Stadt und die Kleine sollte bald auch in eine Schule kommen. Bisher hat dies leider nicht geklappt, da der Ansturm gross ist.
Die Sache mit dem Schwulsein Bei meiner Familie bin ich nicht geoutet, aber selbst wenn ich es wäre, könnte ich mein Schwulsein momentan wohl gar nicht ausleben. Ich verbringe meine Freizeit praktisch nur damit, Dinge für sie zu organisieren – Kontakte, Deutschkurse, Kleider und andere Sachspenden. Mein Privatleben ist momentan «on hold», also keine Dates, keine Chats, keine Partys. Mein Handy? Trage ich momentan immer bei mir, weil sonst jemand etwas Verdächtiges sehen könnte. Meine «kinky» Partyoutfits? Sind momentan in den Untiefen meines Kleiderschranks versteckt. Manchmal denke ich, es wäre vielleicht ganz gut, wenn meine Mutter sie aus Versehen finden würde. So wäre die Sache endlich geklärt, ohne wirklich darüber reden zu müssen – meine Intuition sagt mir nämlich, dass sie damit leben könnte und es auch nicht weitererzählen würde. Allerdings bin ich nicht sicher, ob dies der beste Zeitpunkt dafür wäre. Andererseits: Gibt es für sowas überhaupt einen richtigen Zeitpunkt?
In den vergangenen Jahren kam seitens meiner Familie die Frage nach «der Freundin» immer wieder auf, doch meine Mutter hörte irgendwann damit auf. Ich glaube, sie hat die Sache durchschaut. Auf meine Halbschwester könnte ich sicher zählen, da sie in meiner Gegenwart schon sehr tolerante Aussagen gemacht hat. Vor der Reaktion meines Bruders und seiner Frau hätte ich hingegen Angst, da sie um einiges konservativer sind als meine Mutter. Sie wären dazu fähig, den Kontakt zu mir abzubrechen, glaube ich.
In der Ukraine ist es so: Man weiss, dass «solche Menschen» existieren, hat jedoch das Gefühl, sie seien ganz weit weg von einem. Schliesslich sieht man sie nur im Fernsehen. In den letzten Jahren ist zwar einiges passiert, es gibt mittlerweile Pride Festivals, zugleich aber auch viel queerfeindliche Gewalt und Familien, die Mitglieder verstossen. Falls Russland eines Tages in gewissen Regionen an die Macht kommen sollte, würde sich das natürlich nochmal verschlimmern. Diese Bedenken haben Bekannte von mir tatsächlich schon geäussert.
Heimweh Mittlerweile wohnen die Drei schon ganze zwei Monate bei mir, und langsam aber sicher wird’s eng. Meine Einzimmerwohnung ist definitiv nicht für vier Personen gemacht. Obwohl Küche und Bad abgetrennt sind, kann man sowas wie Privatsphäre vergessen; wenn eine*r wach ist, sind alle wach. Meine Familie äusserte von Anfang an den Wunsch, zu dritt in eine andere Wohnung zu ziehen und langsam zeichnet sich eine Lösung ab: über Freund*innen, die bei einer Hilfsorganisation arbeiten, habe ich eine Art Sozialwohnung gefunden. Wo bisher ältere, auf Hilfe angewiesene Menschen vorübergehend unterkommen konnten, werden bald meine Liebsten wohnen. Sie freuen sich darüber, genau wie über die überwältigende Hilfsbereitschaft, die sie hier vorfinden. Ihr Wunsch ist es, so schnell wie möglich nach Hause zurückkehren zu dürfen; nichtsdestotrotz wollen sie ihre Zeit hier sinnvoll nutzen, darum auch die Deutschkurse. Vor allem für meine Nichte wäre es wertvoll, eine weitere Sprache zu lernen.
Noch bevor ich die Ukraine verliess, lernte ich trotz aller Heimlichtuerei einen Mann kennen, schliesslich leben in meiner Heimatstadt 200 000 Menschen. Wir mussten uns allerdings heimlich treffen, und als ich dann auswanderte, ging die Beziehung in die Brüche. Wir blieben aber trotz geografischer Distanz Freunde. Bald werde ich hoffentlich wieder einen freieren Kopf haben und mich endlich bei ihm und anderen queeren Bekannten melden.
Mein Plan war bisher, für immer in Deutschland zu bleiben; mittlerweile kann ich mir vorstellen, eines Tages zurückzukehren, um das Land wieder aufzubauen.
Aus Angst von seiner Familie entdeckt zu werden, ist Sascha auf Instagram unter einem Pseudonym zu finden: @aleksandro_con_gusto
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