Treff.LGBT+: «Unsere Jugendlichen erleben regelmässig Gewalt»
«Es gibt Gruppen, die sich von queeren Jugendzentren bedroht fühlen», berichtet Holger Niggemann
Das sozialwerk.LGBT+ betreibt in Buchs und Chur die queeren Jugendzentren «treff.LGBT+». Wir sprachen mit Holger Niggemann, Geschäftsleitung und Fachperson Jugendarbeit, über die Sorgen queerer Jugendlicher.
In eurem Newsletter stand, dass ihr viele traurige Geschichten hört wie etwa von Jugendlichen, die wegen ihrer Queerness auf dem Schulweg angegriffen werden. Gibt es noch weitere Beispiele von LGBTIQ-feindlicher Gewalt, von denen ihr erfahren habt? Holger Niggemann: Unsere jungen Menschen erleben regelmässig Gewalt. Sowohl in Form von Beleidigungen als auch in Form von angedrohten und durchgeführten körperlichen Übergriffen. Aber auch, indem sie etwa in medizinischen Situationen nicht ernst genommen werden.
Gibt es dazu Zahlen? Von Januar 2022 bis Ende Oktober 2022 hatten wir mit Jugendlichen 789 Beratungen geführt. In 33 Gesprächen ging es dabei um Gewalterfahrungen. Zehnmal haben wir diese an die LGBTIQ-HelpLine weitergeleitet. In drei Situationen haben wir die KESB informiert. Leider ist es nicht immer möglich, unsere jungen Menschen davon zu überzeugen, auch eine Anzeige bei der Polizei zu erstatten oder sich mit uns an die zuständigen Behörden zu wenden. Es fällt ihnen in manchen Fällen auch schwer, Vorfälle als queerfeindlich einzuordnen. Sie wissen nicht, dass queerfeindliche Übergriffe eine Straftat sein könnten.
Nehmen solche Vorfälle tendenziell zu? Wir sind ein sehr junger Verein; unsere geführten Statistiken lassen solche Aussagen noch nicht zu. Jedoch stellen wir fest, dass es Gruppierungen gibt, die sich von unseren queeren Jugendzentren bedroht fühlen. So werden in Buchs und Chur unsere Aufkleber für die queeren Jugendzentren regelmässig beschädigt, überklebt und zerstört, während zum Beispiel Pro-Cannabis-, Fussballclub- oder Anti-Coronapolitik-Aufkleber daneben ungestört altern. Unsere Jugendlichen bekommen sogar mit, wie in ihren Schulen Übergriffe auf unsere Einrichtungen geplant werden. In solchen Situationen arbeiten wir hervorragend mit der örtlichen Polizei zusammen.
Sind Anfeindungen gegenüber queeren Jugendlichen ein Problem, das nur von anderen Jugendlichen ausgeht? Nein, uns wird regelmässig berichtet, dass sie in ihren Schulen auch von ihren Lehrpersonen oder gar von der gesamten Institution Schule Queerfeindlichkeit erfahren. So gibt es eine Schule, in der die männlichen Schüler darüber abgestimmt haben, wo sich ein junger trans Mensch umziehen darf – nämlich im Behinderten-WC. Aber auch die lokalen Jugendzentren dulden leider immer noch Queerfeindlichkeit. Es gibt Jugendarbeitende, die zulassen, dass Regenbogenflaggen öffentlich verbrannt werden.
Wie könnt ihr Opfern von LGBTIQ-feindlichen Angriffen, aber auch einfach queeren Jugendlichen im Allgemeinen mit euren Angeboten helfen? Jugendliche können mit unseren professionellen Jugendarbeitenden und Fachpersonen gemeinsam ihre Erlebnisse einordnen lernen und sich aus der Rolle des Opfers befreien. So unterstützen wir sie, wenn sie gegen Queerfeindlichkeit vorgehen wollen, indem wir sie zu den Behörden und den passenden Stellen begleiten oder sie sogar dort vertreten. Dies kann auch anonym geschehen. Doch die grösste Unterstützung für queere Jugendliche und junge Erwachsene erbringen wir damit, dass wir sie zusammenführen und ihnen einen Raum für ihr queeres Leben geben. Das ist ein Safer-Place, ein Raum in dem darauf geachtet wird, dass sich alle wohlfühlen können.
Ihr versteht eure Arbeit aber eigentlich nicht primär als Reaktion auf Gewalt. Genau, sondern als Freizeit- und Bildungsangebot für queere Jugendliche und junge Erwachsene. In unseren Jugendzentren wird gespielt, geschminkt, gebastelt, sich unterhalten, Freundschaften geschlossen und sich verliebt. Daraus können Glücksmomente entstehen und diese sind es, die queeren Jugendlichen und jungen Erwachsenen helfen. Das ist auch unsere Hauptaufgabe mit unseren queeren Jugendangeboten in Buchs und Chur.
Jetzt kommen die Festtage: Sind innerfamiliäre Konflikte in dieser Zeit ein häufigeres Thema? Weihnachten bedeutet für viele Menschen erhöhter Stress. Dies trifft auch auf queere Menschen zu, weswegen wir unser queeres Jugendzentrum Chur zwischen Weihnachten und Neujahr an zwei Tagen für alle Menschen geöffnet haben. Ferien und Familienfeiern können auf Jugendliche sehr starken Druck ausüben. Meistens können sie eben nicht selbst entscheiden, ob sie den Familienfeiern beiwohnen wollen oder nicht. Erwachsene hingegen haben diese Entscheidungsfreiheit. Bei queeren Jugendlichen kann hinzukommen, dass diese in der Familie nicht geoutet sind. Und somit können Fragen von Angehörigen bezüglich Liebe und Partnerschaft, aber auch Anmerkungen zum Kleidungsstil oder zum Verhalten Verletzungen verursachen.
Wie könnt ihr diesem Stress entgegenwirken? Mit einer guten Vernetzung: Die Besuchenden können sich miteinander austauschen, auch online. Und sie wissen, welche Gesprächshotlines beziehungsweise Beratungsangebote erreichbar sind. Wir weisen vor Weihnachten vermehrt auf die Beratung von «Du-bist-Du» und auf die LGBTIQ-HelpLine hin. Mit Jugendlichen in besonders schweren Situationen erarbeiten wir Notfallkontakte und auch unsere Beratungstelefone sind teilweise über die Weihnachtstage besetzt.
Inwiefern müsste aus eurer Sicht die Politik aktiver werden? Queer ist ein gesamtgesellschaftliches Thema. Daher muss dies auch in allen Institutionen des Staates, der Kantone, Gemeinden und in der Politik sichtbar werden. Leider wird queer häufig nur auf das Schlafzimmer reduziert. Aus unserer Sicht muss die Politik Angebote wie unsere ins Leben rufen, fördern und generell mehr LGBTIAQ+-Aufklärung in den Schulen durchsetzen.
Gibt es noch weitere Forderungen eurerseits? Es kann nicht sein, dass unsere Arbeit und Angebote fast ausschliesslich aus Spenden und Stiftungsgeldern finanziert werden. Allein unsere queere Jugendarbeit wird zu 96% von privaten Mitteln getragen. Queere Menschen haben ein Anrecht, dass Staat, Kantone und Gemeinden mit ihren Steuergeldern auch Leistungen für sie erbringen. Mit dem Ja zur Ehe für alle ist noch lange keine ausreichende Gleichberechtigung geschaffen worden. Dies scheint aber in vielen Köpfen die vorherrschende Meinung zu sein. Queere, junge Menschen verdienen Aufmerksamkeit und ein Leben frei von Diskriminierung. Dies kann nur über Bildung und Angebote wie unsere erreicht werden. Die rechtliche Grundlage dafür ist zu schaffen.
Anfang 2021 eröffnete das sozialwerk.LGBT+ das erste queere Jugendzentrum in Chur (MANNSCHAFT berichtete). Im darauffolgenden Oktober wurden Aktivist*innen des Vereins an einem Stand im Rahmen des Coming-out-Days von Jugendlichen angepöbelt (MANNSCHAFT berichtete). Der treff.LGBT+ gehörte übrigens zu den Nominierten der Queeros 2021.
Brauchst du Hilfe? Wende dich in der Schweiz telefonisch an die Nummer 143 oder schreibe an die Berater*innen von Du-bist-Du.ch. In Österreich hilft die HOSI Wien (zu Büroöffnungszeiten) unter (+43) 660 2166605, das Kriseninterventionszentrum oder für LGBTIQ die psychosoziale Beratungsstelle Courage. In Deutschland gibt es die Notfall-Nummer 19446, zudem hilft u.a. der Verband für lesbische, schwule, bisexuelle, trans, intersexuelle und queere Menschen in der Psychologie, in Städten wie Köln kann man sich an Rubicon wenden.
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