Kevin Clarke
Wann ist der «richtige» Moment fürs Coming-out? Die Frage stellt sich vor allem zu Weihnachten, wenn LGBTIQ potenziell viele Familienangehörige auf einmal treffen. In einem Werbefilm von J&B Whisky wird das Thema in Bezug auf Transidentität eindringlich präsentiert.
Die grünen Whisky-Flaschen der Marke J&B kennen viele – das britische Traditionsunternehmen gehört zu den berühmtesten Spirituosenfirmen der Welt und wurde im 19. Jahrhundert bekannt als Lieferant von Adelshäusern, inklusive König Georg III.
In Spanien hat die Firma kurz vor Weihnachten einen Werbefilm herausgebracht, der – weitgehend wortlos – eine bemerkenswerte Transgeschichte erzählt, die sich auf den Grossvater und Enkel in einer spanischen Familie konzentriert. Und von Akzeptanz des Andersseins handelt sowie vom Mut, solches Anderssein bei sich selbst zuzulassen.
«She may be the face I can’t forget»
Der dreiminütige Film beginnt damit, dass man ein kleines Dorf mit Schafen irgendwo im Nirgendwo sieht. Dort lebt ein alter Mann mit seiner Frau. Als sie nachhause kommt und ihre Handtasche abstellt, nimmt der Mann den danebenliegenden Lippenstift seiner Frau und fängt an, sich damit heimlich im Badezimmer zu schminken. Wir erfahren nicht, ob er das schon früher tat oder erst jetzt damit anfängt. Aber: Wir erleben, dass er sich langsam immer mehr als «Frau» zurechtmacht.
Dazu läuft der berühmte Elvis-Costello-Song «She may be the face I can’t forget» aus dem RomCom-Klassiker «Notting Hill» mit Julia Roberts und Hugh Grant.
Sucht der alte Mann dieses weibliche Gesicht, weil er es einst als junger Mann aufgetragen hatte, bevor er heiratete und eine Familie gründete und «all das» hinter sich liess? Der Film lässt das offen und macht den Moment dadurch umso intensiver.
Danach sehen wir, wie der alte Herr sich von einer Reklame an einer Bushaltestelle inspirieren lässt, wie man den perfekten Lidstrich aufträgt. Und er kauft sich – zur Überraschung der Verkäuferin – im Dorfladen-um-die-Ecke Lidschatten und Rouge.
Die Verwandlung von Álvaro zu Ana
All das tut er heimlich. Es scheint, als traue er sich nicht, diese Seite seiner Persönlichkeit offen auszuleben. Sie bleibt sein Geheimnis. Aber er zeigt sich nach mehreren Schminkversuchen schliesslich zufrieden mit den Resultaten.
Dann ist Heiligabend und seine Kinder bzw. Enkelkinder kommen angereist. Der Blick des Grossvaters fällt sofort auf seinen 26-jährigen Enkelsohn Álvaro. Name und Alter erfährt man über eine Einblendung. Der Grossvater weiss, dass etwas mit dem Enkel nicht «stimmt» und er unglücklich ist.
Während alle anderen das nicht bemerken (wollen) und gemeinsam den Tisch decken, Kerzen anzünden und das Festessen vorbereiten, nimmt der Grossvater Álvaro an die Hand und geht mit ihm zielgerichtet ins Badezimmer – seinen geheimen Ort, wo er das Make-up versteckt hat, mit dem er seine eigenen nächtlichen Verwandlungen herbeiführte.
Dort trägt der Grossvater das Make-up aufs Gesicht seines Enkels auf. Inklusive perfektem Lidstrich. Und so kehren die beiden zurück ins Esszimmer, wo sich nun «Ana, 26 Jahre» der Familie präsentiert. Auch das erfährt man über eine Einblendung.
Fragende Blicke der Familie
Zuerst schauen alle erstaunt, besonders Anas Vater und Mutter werfen sich fragende Blicke zu. Bis die Mutter aufsteht und wortlos ihr Kind in die Arme schliesst. Dabei schaut sie ihren eigenen Vater an, mit einem kurzen dankenden Blick. Und im ebenso kurzen Blick des alten Herren spiegelt sich die Frage, ob er das, was Ana jetzt gemacht hat, nicht auch hätte tun sollen. Andererseits lässt der Film auch die Interpretation zu, dass der Grossvater zuvor nur an sich selbst geübt hat, um das alles an Álvaro/Ana Realität werden zu lassen – als Coming-out-Hilfe.
Alle erheben jedenfalls gemeinsam ein Glas – natürlich J&B Whisky –, und man liest: «Der Zauber liegt nicht nur in Weihnachten. Der Zauber liegt in uns allen» («La magia no solo está en la navidad. También está en nosotros»).
Der Grossvater küsst seiner Ehefrau die Hand, so als wolle er ihr sagen, dass er glücklich mit ihr ist, so wie sie beide sind. Dann erst steht die Grossmutter auf und umarmt Ana.
Ganz am Ende des Kurzfilms sind es dann Grossvater und Enkelkind, die sich anschauen und mit einem umwerfenden Lächeln zuprosten. Dazu liest man: «Wir können es nicht abwarten, (uns) zu feiern.»
«Akzeptanz, Respekt und Festtagsstimmung»
Seit J&B den Film auf Youtube gestellt hat, wurde er bereits über zwei Millionen Mal angeklickt. In der dazugehörigen offiziellen Beschreibung heisst es auf Spanisch, dass Zuschauer*innen durch den Film angeregt werden sollen nachzudenken, wie man an Festtagen Platz am Tisch machen kann für «Akzeptanz, Respekt und vor allem Festtagsstimmung». Diese Botschaft ging – zusammen mit dem Werbefilm – auch auf Twitter und Tiktok viral, schreibt das LGBTIQ-Nachrichtenportal Out.com.
Die Rolle von Ana wird gespielt von trans Schauspielerin Ella Di Amore. Sie wird von Out zitiert mit den Worten: «Es ist eine Geschichte, mit der ich mich sehr identifiziere. In meinem eigenen Alltagsleben versuche ich nicht, für andere ein Vorbild zu sein. Aber ich tue alles, was in meiner Macht steht, um LGBTIQ-Rechte zu verteidigen. Ich weiss, dass ich durch die Figur der Ana vielen Menschen helfen kann, indem ich eine Realität sichtbar mache, die ziemlich weit verbreitet ist.»
Wie viele Kund*innen wird J&B wegen solch einer Werbung verlieren?
Ein Kommentator namens André TG fragt auf Youtube, wie dieser Werbefilm helfen soll, mehr Whiskey zu verkaufen. Ein*e andere*r bemerkt: «Die interessantere Frage ist, wie viele Kund*innen wir (J&B) wegen solch einer Werbung verlieren?»
Dem steht gegenüber, dass die Bewertung des Clips in LGBTIQ-Medien durchweg positiv ist. Und sich letztlich Justerini & Brooks (so der vollständige Name von J&B) damit rund um ein Thema ins Gespräch gebracht haben, das man mit Whisky allgemein und dieser Marke im Speziellen sonst nicht assoziierte.
Die Redakteur*innen bei Out.com meinen jedenfalls, der Werbefilm hätte «uns zu Tränen gerührt». Warum solch eine Werbung ausgerechnet aus Spanien kommt, bleibt eine interessante Frage. Schliesslich wird Whisky auch in der Schweiz, in Österreich, Deutschland und anderswo getrunken und stehen entsprechende J&B-Flaschen in jedem Supermarktregal.
Hier ist der komplette Werbefilm:
Spanien will geschlechtsspezifische Spielzeugwerbung beenden und ein pluralistisches bzw. stereotypenfreies Bild von Minderjährigen etablieren (MANNSCHAFT berichtete).
