Sziget-Festival: Magische Tage auf Ungarns queerer Insel
Neben David Guetta und Macklemore haben sich Lorde und Arlo Parks für diesen August angekündigt
Seit 30 Jahren findet im Sommer das Sziget-Festival in Budapest statt. Fester Bestandteil ist das Magic-Mirror-Zelt. Hier werden offen queere Themen verhandelt – dem skandalösen LGBTIQ-feindlichen Gesetz aus dem Jahr 2021 (MANNSCHAFT berichtete) zum Trotz. Mit Zauberei hat das allerdings weniger zu tun.
Mit bis zu 2500 Sonnenstunden im Jahr lockt Ungarn, teils sollen es sogar 3000 Stunden sein – je nachdem, wen man fragt. Zum Vergleich: Im nordwestlich gelegenen Wien schien die Sonne im vergangenen Jahr für 2136 Stunden.
Eine Regenbogen-Garantie gibt es in der Hauptstadt Budapest aber auch, und zwar im August auf der Donau-Insel. Das ungarische Wort für Insel lautet Sziget und diesen Namen hat man einem Festival verpasst, das seit nunmehr 30 Jahren stattfindet und weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt ist. Es trägt seit einiger Zeit den Beinamen Island of Freedom, und das aus gutem Grund.
Sommer, Sonne, Safe Space Das musikalische Line-up kann sich auch in diesem Jahr wieder sehen und hören lassen: Neben Stars wie Billie Eilish, Florence + the Machine, David Guetta und Macklemore haben sich queere Künstler*innen wie Lorde, Girl in Red und Arlo Parks für die Zeit vom 10. bis 15. August angekündigt. Neben Musik gibt es Workshops, Yoga und Vorträge an verschiedenen Schauplätzen, am auffälligsten ist wohl die Magic-Mirror-Bühne. Die befindet sich in einem Spiegelzelt, das mit seiner aufwändigeren Struktur immer als erstes auf dem Sziget-Gelände aufgebaut wird, wenn der August naht. An die 300 Sitzplätze bietet das Zelt; 1’000 Menschen passen rein, wenn sie stehen. Oder tanzen: Das Magic-Mirror-Zelt ist beliebt für seine Partys, zu denen auch viele Nicht-Queers kommen; viele andere Bühnen müssen bereits um 23 Uhr schliessen.
Vor allem handelt es sich hier um einen queeren Safe Space, den man in Ungarn so nicht erwarten würde – in dem Land, das seit 2021 per Gesetz Informationen über LGBTIQ in den Medien beziehungsweise vor Kindern verbietet und das seit neustem auch noch Bürger*innen dazu ermutigen will, gleichgeschlechtliche Paare anzuschwärzen, die gemeinsam Kinder aufziehen.
Und doch geht es hier unübersehbar queer zu. Letztes Jahr etwa trat der Berliner Sänger Leopold auf der Magic-Mirror-Bühne auf. «Es ist natürlich schlimm, wie das Land ausserhalb des Festivalgeländes mit queeren Menschen umgeht und deren Rechte einschränkt», sagt er gegenüber MANNSCHAFT rückblickend. «Aber ich hatte das Gefühl, dass die ganze Donauinsel, auf der das Sziget Festival stattfindet, wie ein anderes, freieres Ungarn ist. Alle waren total offen, alle konnten so sein, wie sie wollten, und mussten sich nicht verstellen.» Gerade der Auftritt auf der Magic-Mirror-Stage sei ein unvergessliches Erlebnis gewesen, so Leopold. «Die Stimmung war sehr intim, der Austausch mit dem Publikum direkt und schön. Es hat sich wie ein Safer Space für LGBTIQ angefühlt.»
Keine Gäste aus der Politik Obwohl in Ungarn über Queeres nicht gesprochen werden darf, stehen auch dieses Jahr bei den täglichen Magic-Mirror-Talks im Spiegelzelt Themen auf der Tagesordnung wie Mode & Gender, auch die verschiedenen Formen von Drag sollen erörtert werden, an anderen Abenden lautet das Motto «Penis is just a word from Biology» und «Sex, Drugs & Alcohol».
Auf der Bühne sitzen dann Queers und Nicht-Queers, Expert*innen, Wissenschaftler*innen und Influencer*innen. Aber niemals Vertreter*innen von Parteien, sagt Ádám András Kanicsár. Der 33-jährige Journalist plant und kuratiert die Talks. «Es gibt grossartige Politiker*innen in unserem Land, die die ungarische LGBTIQ-Community unterstützen, aber wir wollen den politischen Parteien nicht die geringste Chance geben, Magic Mirror als Plattform für ihr Marketing zu behandeln.»
Die Talks finden in englischer Sprache statt, schliesslich kommt gut die Hälfte der Festival-Besucher*innen aus dem Ausland angereist. «Alle können Fragen stellen, teils kommen aus dem Publikum die besten Fragen. Es ist nicht nur eine Talkshow, es ist eine Stunde Free Speech», sagt Adam, der die Talks schon seit Jahresbeginn vorbereitet und plant. «Es eine kleine Oase: An sechs magischen Tagen wird über Gender und Sexualität gesprochen, so frei wie man sich es vorstellen kann. An einem absoluten sicheren Ort – absolut grossartig!»
Zu den filmischen Highlights, die abends im Zelt gezeigt werden, gehört «Drifters», der im Februar auf der Berlinale lief, dazu gibt es Comedy, Vogueing Workshops, und am Wochenende lädt das Team vom «Queens Brunch» zum «Magic-Drag-Brunch». Die Gäste aus Österreich kennen den Kummer Ungarns: Im Nachbarland machen Rechte schon seit einiger Zeit Stimmung gegen Drag-Veranstaltungen, Lesungen vor allem, die vor Kindern stattfinden.
Selbstzensur und Drohkulisse Wie ist all das nun in Ungarn möglich? Einerseits gibt es dieses Gesetz, erklärt Ádám. Zum Beispiel darf ein Buch über queere Themen, das einen «LGBTIQ-Lifestyle promotet», nicht offen in Buchhandlungen im Regal stehen, wenn sich in der Nähe eine Schule oder eine Kirche befindet. «Bei 27 000 Neu-Erscheinungen pro Jahr kannst du gar nicht prüfen, welche sich auf LGBTIQ beziehen und welche nicht.» Die Regierung setze vielmehr auf Selbstzensur. «Sie wollen dir Angst machen, dass du gegen das Gesetz verstossen könntest, wenn du über diese Themen redest oder schreibst. Hier handelt es sich vor allem um eine Drohkulisse».
Die Regierung ist homophob, die Leute sind es mehrheitlich nicht.
Wirklich verändert habe sich die Situation in Ungarn nicht, das Gesetz sei nicht gut geschrieben. Über LGBTIQ sprechen könne man auch weiterhin, sagt Ádám, der Journalist – nicht an Schulen allerdings. Ansonsten reden die Leute immer noch über Schwule, Lesben und trans Identitäten. «Die Regierung behauptet, das Volk steht hinter dem Gesetz, aber das stimmt nicht. Die Regierung ist homophob, die Leute sind es mehrheitlich nicht.»
Tatsächlich zeigt eine Umfrage, die im Sommer 2021 veröffentlicht wurde, dass die meisten Ungar*innen es gut finden, dass junge Menschen von sexuellen und geschlechtsspezifischen Minderheiten hören. Wie die repräsentative Umfrage, die von Amnesty International Ungarn und der LGBTIQ-Organisation Háttér Society in Auftrag gegeben und vom Meinungsforschungsinstitut Medián durchgeführt wurde, ausserdem ergab, kennen fast die Hälfte der Befragten (46 %) Mitglieder der LGBTIQ-Community persönlich. Sogar drei von vier Ungar*innen (73 %) halten die Behauptung der Regierung, dass schwule und lesbische Menschen Kinder missbrauchen oder verletzen, für Unsinn. Noch einige mehr (74,5 %) sagten, trans Personen sollten ihr Geschlecht und ihren Namen in ihren offiziellen Dokumenten ändern kön-nen. Für die Gleichstellung der Ehe sprachen sich 59 % der Befragten aus. Wem das als zu wenig vorkommt: Zwei Jahre zuvor hatte die Zahl der Befürworter*innen nur bei einem Drittel gelegen.
Das «Bullshit»-Gesetz Gegen das Gesetz aus dem Jahr 2021 läuft ein Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission, unterstützt vom EU-Parlament und EU-Mitgliedsstaaten wie den Niederlanden und Spanien, aber auch Österreich und Deutschland. Dieses Gesetz ist ungenau formuliert, sagt Ádám. Er nennt es «Bullshit». Was darf man tun und was nicht? Das sei aus dem Gesetz ebenso wenig ersichtlich, wie dort eine Strafe festgelegt sei.
«Das Gesetz untersagt Werbung von LGBTIQ-Lifestlye, erklärt Ádám. «Aber das tun wir nicht. Wenn überhaupt, machen wir Werbung für Freiheit und für Liebe. Ja. Wir reden drüber, weil Kommunikation der Schlüssel ist, die Welt besser zu machen. Das ist unser Ziel.»
Wenn du eine trans Person weinend auf der Bühne siehst, kann man das wohl kaum als Werbung betrachten.
Von Werbung zu sprechen, sei absurd, findet der Kurator der Magic Mirror Talks. «Wenn du bei uns eine trans Person weinend auf der Bühne siehst, die von ihrer schwierigen Lage berichtet und darüber, wie schwer sie es als Kind hatte, so kann man das wohl kaum als Werbung betrachten.»
«Wir sind eine Bastion der freien Meinungsäusserung», erklärt der Programm-Manager des Magic-Mirror-Zeltes, György Ujvári-Pintér, stolz. Auch wenn sie von der Politik bisher in Ruhe gelassen werden, der Fidesz-Regierung sind die Veranstaltungen hier ein Dorn im Auge.
Warum die Regierung nicht eingreift Letztes Jahr, erinnert sich Ádám, lautete eine Veranstaltung bei den Mirror-Talks «Trans Jesus, Gay Hallelujah». Ein Theologe, ein Rabbiner und ein buddhistischer Lehrer sprachen über Religionen und ihre Sicht auf sexuelle Minderheiten, auf Sexualität und Gender. «Der Titel erregte besondere Aufmerksamkeit in der rechten Presse, und es gab einen Artikel darüber in der regierungsnahen Zeitung Magyar Nemzet. Daraufhin empörte sich ein Fidesz-Politiker und forderte, den Besuch der Mirror-Talks nur noch Personen über 18 zu gestatten.»
Das Letzte, was die beiden Macher wollen, ist ein Über-18-Warnhinweis über der Bühne. «Für uns war es schon ein ziemlicher Wake-up-Call», sagt Ádám. Passiert ist aber seither nichts. Sziget ist viel zu wichtig, sagt der 45-Jährige György. «Es lockt eine Menge Tourist*innen an, das Festival bringt viel Geld nach Ungarn. Es ist eine super Werbung. Die Regierung kann sagen: «Schaut her, wir sind doch ein freies Land – wir haben schliesslich dieses Festival!»
Einlassungen rechter Politiker*innen kann man als Einschüchterungsversuch werten – eine Strategie, die aus Sicht der beiden Magic-Mirror-Macher bisher aber nicht verfängt.
Fidesz sät LGBTIQ-Feindlichkeit «Unsere Gäste hungern nach jeder Gelegenheit, sich zu äussern, ihre Gedanken zu teilen und für die Freiheit der Community zu kämpfen», sagt Ádám. Doch aktuell gibt es zum ersten Mal den Fall, dass eine eingeladene Person zögert zu kommen, weil sie Angst hat, Ärger zu bekommen, wenn sie auf einer Bühne über Gender spricht. Beängstigend, findet das Ádám und betont: «Alle können sich sicher bei uns fühlen. Die Menschen müssen lernen: Homophobie und Transphobie kommt von Fidesz, nicht aus der ungarischen Gesellschaft.»
Dennoch: Nicht wenige LGBTIQ haben das Land verlassen oder planen zu gehen. Selbst György, der Programm-Macher der Magic-Mirror-Bühne. «Budapest war mir etwas zu eng. Manchmal hatte ich das Gefühl nicht richtig atmen zu können und mir fehlte als Mitglied der queeren Community die Inspiration.»
2018 zog der Kulturmanager nach Barcelona, kurz nachdem er die Verantwortung für Magic Mirror übernommen hatte. Für seine Arbeit ist die räumliche Entfernung aber nicht von Nachteil, im Gegenteil. «So habe ich mehr Möglichkeiten, Dinge zu sehen und kriege mehr mit. Auch mein Vorgänger lebte nicht in Ungarn.»
Apathie in Ungarn Elf Monate des Jahres verbringt György in Spanien, für einen Monat, für Sziget und das Magic-Mirror-Zelt, kehrt er im Sommer nach Budapest zurück. «Dort spüre ich mehr und mehr Distanz und das Gefühl, dass das Land zurückfällt. Der Unterschied ist enorm, es ist beängstigend.» In seiner Wahl-Heimat Spanien erlebt er eine lebhafte Menschenrechtsbewegung, auch beim Thema LGBTIQ. «In Ost-Europa hat man nicht wirklich gelernt, dass Demokratie in unseren Händen liegt. Wir wissen dort nicht, wie sie funktioniert. Man muss aussprechen, was man will, und für seine Rechte aufstehen. Sonst entwickelt sich Demokratie in eine Richtung, die man nicht will. In Spanien sagen die Leute, was sie wollen, und gehen auf die Strasse. In Ungarn herrscht Apathie.»
Er ist zu allen möglichen Kundgebungen gegangen, nachdem Fidesz 2010 an die Macht gekommen war. Aber dann musste er feststellen: Es wurde keine kritische Masse bei diesen Protesten erreicht. «Also dachte ich: Es ist besser, wenn ich gehe. Von aussen kann ich immer noch helfen. Darum war ich sehr happy, als man mich fragte, ob ich Magic Mirror übernehmen will.»
Flucht ins Exil Etliche von Györgys Freund*innen haben das Land ebenfalls verlassen. Einige kehrten zurück und tendieren nun dazu, abermals zu gehen.
Letztes Jahr hat auch Boldizsar M. Nagy seine Heimat Ungarn verlassen. Der schwule Herausgeber des von homophoben Rechten angefeindeten Kinderbuchs «Märchenland für alle» wurde seit längerem bedroht. «Es gibt Hetze gegen Minderheiten, die Luft wird dünn», sagte er gegenüber MANNSCHAFT. «Ich als Künstler habe es satt, dass es keine inspirierende kreative Atmosphäre gibt, dass sich der Staat zu sehr in das Leben der Zivilbevölkerung einmischt. Die tägliche Frustration über die politische Situation möchte ich loswerden und meine Arbeit fortsetzen, während ich physisch woanders bin.» Boldizsar will auch weiterhin Kinderbücher und Jugendbücher herausgeben und übersetzen sowie Artikel und Rezensionen zu feministischen und geschlechterspezifischen Themen schreiben und seine aktivistische Arbeit fortsetzen.
Man kann die Bedeutung von Sziget, besonders der Magic-Mirror-Bühne, also nicht hoch genug einschätzen. «Ich finde es einfach immer wieder schön zu sehen, dass es egal ist, welche Sprachen wir sprechen oder woher wir kommen. Musik verbindet – und das habe ich bei meinem Auftritt eindrucksvoll erleben dürfen», schwärmt Leopold noch heute. «Alle, mit denen ich dort über das Thema gesprochen habe, finden es auch katastrophal, wie die ungarische Regierung mit queeren Menschen umgeht. Deshalb geniessen sie auch die Tage des Festivals und die Freiheiten, die Sziget mit sich bringt. Alle sind sich einig, dass Ungarn sich klarer zu Menschenrechten und freiheitlichen Werten bekennen müsste. Schliesslich ist das Land Teil der EU.»
Lil Nas X tritt beim Gurtenfestival auf: Volles Programm im Sommer 2023! (MANNSCHAFT berichtete).
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