Harvey Milk und «die Medizin, die die Welt heilt»
Sein Neffe Stuart Milk kämpft für LGBTIQ-Menschenrechte auf der ganzen Welt
Am 27. November 1978 wurde Harvey Milk zusammen mit dem Bürgermeister von San Francisco erschossen. Sein ebenfalls schwuler Neffe Stuart Milk kämpft seitdem für LGBTIQ-Menschenrechte auf der ganzen Welt.
Stuart, wie ging man damals in Ihrer Familie mit der Homosexualität Ihres Onkels um? Als er kandidierte, war die Gesellschaft noch homophob. Niemand war out. Auch wenn mein Onkel einen Freund hatte, sprach er von ihm nicht als von seinem Freund. Es war sein «Mitbewohner». Als ich 14 war, war er nach San Francisco gezogen und kandidierte als offen schwul. Meine Mutter, seine Schwester, half bei seiner Kampagne. Sie war eine grosse Unterstützerin. Dass er junge Leute ermunterte sich ebenfalls zu outen, wurde als skandalös empfunden. Aber es fehlte damals an Sichtbarkeit, die Leute kannten keine Homosexuellen. Und Leute wie die Sängerin Anita Bryant warnten vor Homosexuellen: Die wollten nur Eure Kinder rekrutieren, sagte sie.
Dabei gab es berühmte Homosexuelle in der Geschichte wie Alan Turing, aber der forderte niemanden auf, sich zu outen. Mein Onkel war übrigens nicht mal der erste offen homosexuelle Politiker, der ins Amt gewählt wurde – das war Elaine Noble 1975 im Repräsentantenhaus von Massachusetts. Vor ihrer Wahl hatte sie zugesagt, nicht über ihr Lesbischsein zu reden. Es gebe keinen Grund, fand sie. Das sei Privatsache. Darum bekam mein Onkel ja auch die Morddrohungen. Nicht weil er offen schwul war, sondern weil er auch noch stolz darauf war und noch andere aufforderte, seinem Beispiel zu folgen. Sichtbarkeit ist so wichtig.
Davon gibt es heute noch an vielen Orten zu wenig, auch in Europa. In Ungarn etwa oder in den baltischen Staaten. Aber auch in Italien: Freunde von mir, Aktivisten, die sich lokal und national engagieren, sind privat nicht out, nicht vor ihrer Familie und nicht in ihrem Job. Darum gibt es dort so wenig Fortschritt. Allerdings auch weil die Gesellschaft es nicht akzeptieren würde. Beides greift ineinander.
Homophobe Menschen nutzen seit Jahrzehnten dasselbe Argument für ihre Hetze: Schützt die Kinder! Ja, auch in den USA, in Russland oder in Ungarn ist das so. Heute richtet sich das ja stark gegen unsere trans Brüder und Schwester, wenn es um die Benutzung von Toiletten geht. Der Vorwurf lautet: Männer wollten nur in die Frauenklos, um Mädchen zu beobachten. Das ist so lächerlich! Wenn man je eine trans Frau getroffen hat, weiss man: Das ist das letzte, was sie will – kleine Mädchen anglotzen. Sie wollen einfach in die Toilette des Geschlechtes, mit dem sie sich identifizieren.
Es geht immer um Sichtbarkeit, auch in anderen Bereichen. Das Argument, wir wollten Kinder rekrutieren, funktioniert nur bei Leuten, die keine LGBTIQ-Menschen kennen. Nehmen wir Ruth Bader Ginsberg: Sie entschied 2015 am Obersten Gerichtshof mit, dass ein Verbot gleichgeschlechtlicher Eheschliessungen gegen den 14. Zusatzartikel zur US-Verfassung der Vereinigten Staaten verstosse (MANNSCHAFT berichtete). Danach sagte sie, sie hätte wohl zehn Jahre früher auch mit Nein gestimmt, weil sie damals noch niemanden kannte, der LGBTIQ ist. Und nicht wusste, wie allgegenwärtig sie sind.
Haben Sie mit Ihrem Onkel je darüber gesprochen, dass Sie schwul sind? Wir sprachen nicht darüber. Ich sagte nur, dass ich mich anders fühlte – das Wort schwul benutzte ich nicht. Ich könne mit den anderen Kindern in der Schule nichts anfangen, erzählte ich ihm. Das ist grossartig!, sagte er. Nein, ist es nicht, sagte ich (lacht). Er schenkte mir dann ein Buch, «Seven arrows» und schrieb eine Widmung hinein. «Du und Deine Unterschiede sind die Medizin, die die Welt heilt – auch wenn die Welt das nicht anerkennt.» Mit 12 war das für mich eine sehr kraftvolle Botschaft. Es wurde ein bisschen mein Kompass.
Sie haben die Harvey Milk Foundation mitbegründet. Wie arbeitet die Stiftung? In Irland haben wir beispielsweise mit der Community bei der Vorbereitung des Referendums zur Eheöffnung gearbeitet (MANNSCHAFT berichtete). Es war übrigens kein Zufall, dass es an Harvey Milks Geburtstag stattfand, am 22. Mai. Da war zunächst die Frage: Wollen wir die Ehe fordern oder eingetragene Partnerschaften, sogenannte Civil Unions? Nun ist die Ehe ein Konzept, mit dem jeder etwas anfangen kann, weil er es kennt – von Civil Unions lässt sich das nicht sagen. Die Kampagne schließlich war einzigartig. Die Befürworter der Eheöffnung gingen von Tür zu Tür und fragten die Menschen: Sollte ich heiraten dürfen? – Wieso brauchen Sie meine Erlaubnis?, entgegneten viele Leute.
Und genau darum ging es: Ja, jeder sollte das Recht haben! Sie sind nicht zu den Leuten gegangen und haben gefragt: Finden Sie, dass ich das Recht auf Lebenspartnerschaften haben sollte? Es wäre nicht dasselbe gewesen!
Zwei neue Stolpersteine für schwule NS-Opfer in Krefeld
In Italien arbeiten wir mit den Aktivist*innen daran, das Wort Familie zurückzuerobern. Weil Konservative, die gegen eine Eheöffnung sind, behaupten, sie wollten die Kultur der Familie bewahren. Aber wie kann man etwas bewahren, wenn man einen Teil draussen lässt und benachteiligt? Das ist ein wichtiger Teil unserer Stiftung.
Übrigens sind wir in den USA immer noch vielen Ländern hinterher. Du kannst am Wochenende heiraten, dann stellst Du am Montag das Bild Deines gleichgeschlechtlichen Partners auf den Schreibtisch und laut Gesetz kann dich dein Arbeitgeber in der Hälfte der Staaten rauswerfen, weil du schwul oder lesbisch oder trans bist. Wir haben kein Bundesgesetz, dass das verhindert, kein Antidiskriminierungsgesetz, auch im Bereich Wohnen nicht.
Im Namen Ihres Onkels gibt es Briefmarken, ein Flughafen-Terminal (MANNSCHAFT berichtete), demnächst auch einen Tanker der US Navy. Ja, die Briefmarke wurde unter Barack Obama veröffentlicht. US-Präsidenten können eine pro Amtszeit initiieren, er hatte bekanntlich zwei, gab aber nur diese eine Marke heraus. Mit Arnold Schwarzenegger haben wir für den Harvey-Milk-Day in Kalifornien gekämpft. Und die US-Marine hat das Schiff auf den Weg gebracht. Noch ist es nicht fertig, es wird noch in San Diego gebaut. Aber es wurde schon weltweit darüber berichtet. Wir haben eine Mail bekommen von einem 16-jährigen jungen Mann in Kuwait, ich habe ihn inzwischen auch getroffen. Er schrieb uns: Meine Identität ist illegal und ich wollte mich umbringen, damit meine Familie es nicht tun muss. Das ist Standard in der islamischen Welt, Ehrenmorde passieren jeden Tag. Aber jetzt sitze ich im Hafen und warte auf den Harvey-Milk-Tanker. Ihm war schon klar, dass das Schiff nicht so bald kommt, aber für die Sicherheit in Kuwait ist das Schiff wichtig, und dann kommt eins, das nach einem offen LGBTIQ-Menschen benannt ist. Das gab ihm Hoffnung. Und wir wissen: Die Suizidrate unter LGBTIQ-Jugendlichen ist 5 bis 6 mal so hoch. Das ist die Kraft dieser Arbeit, die wir machen.
Mord an Harvey Milk hat «San Francisco für immer verändert»
Ihr Onkel wurde als Homosexueller unehrenhaft bei der Marine entlassen. Mittlerweile kam man das rückwirkend ändern lassen, auch bei toten Familienmitgliedern. Vor der Namenszeremonie wurde ich von der Navy gefragt, ob die Entlassung meines Onkels zu ehrenhaft geändert werden sollte, und ich sagte: Nein! Auch Obama bat mich darum – es war das einzige Mal, das ich Nein zu Obama gesagt habe. Wir müssen die Fehler, die geschehen sind, lehren und festhalten. Wollen wir unseren Kindern nicht sagen, dass der Codeknacker Alan Turing chemisch kastriert wurde, weil er Teil der LGBTIQ-Community war? (MANNSCHAFT berichtete) Wir müssen das weitergeben, damit es sich nicht wiederholt, wir müssen davon erzählen. Umso kraftvoller ist es, dass wir ein Schiff der Navy haben, das durch die Welt fährt und den Namen von jemandem trägt, den man rausgeworfen hat.
Wenn ich ein Hotel oder eine Espressomaschine nach deinem Onkel benennen will, muss ich dich vorher fragen. Wie oft sagst du Nein? Oft. Es gibt jede Woche Anfragen. In Berlin wollte jemand eine Bar «Harvey Milk» nennen. Aber wir kannten die Leute nicht und wussten nicht, was sie mit der Bar vorhatten. Anders war es bei Norwegian Airlines, die im März einen 787 Dreamliner nach Harvey Milk benannten. Sie haben auch eine Maschine, die Freddie Mercury heisst. Wir kennen die Unternehmenspolitik der Airline und ihr LGBTIQ-Management, sie klären an Bord der Maschine auch über den jeweiligen Namenspatron auf. Ausserdem war es für uns gut, weil sie uns Freiflüge anboten. Das erleichtert uns unsere Arbeit im Ausland.
Auch mit Levi’s arbeiten wir schon lange. Das war manchmal ein Kampf. Sie wollten zur Pride eine Harvey-Milk-Kollektion herausbringen und uns auch die Erlöse geben, aber die Kampagne sollte nur in den USA stattfinden. Ich sagte: Ihr müsst es überall machen – auch da, wo es unbequem ist. Und sie taten das, auch in Russland. Dort wurden dann auf Plakaten gleichgeschlechtliche Paare gezeigt. Auch mit Stoli Wodka aus Lettland haben wir zusammengearbeitet.
Als ich mich outete, sagte meine Mutter: Das vergeht wieder. Mein Onkel hätte gesagt: Nein, tut es nicht!
Wie läuft die Zusammenarbeit mit Trump? (lacht zweimal auf, bevor er antwortet) Das Weisse Haus ist nach Obama wieder ein sehr dunkler Ort geworden. Um ehrlich zu sagen: Trump selber ist vielleicht nicht mal anti-LGBTIQ, aber seine Wählerbasis ist es. Ähnlich wie bei Orban oder Putin: Sie brauchen die Basis der orthodoxen Kirche.
Wir versuchen weiterhin, mit dem Foreign Service zu arbeiten. Es gibt dort so viele LGBTIQ wie in keiner anderen US-Behörde, warum auch immer. Vermutlich, weil wir gerne reisen. Obama hat noch die Parole ausgegeben: Wir unterstützen LGBTIQ in jeder Aussenstelle in der Welt, und Trump hat das nicht zurückgenommen. Also arbeiten wir mit Diplomat*innen, die sich für LGBTIQ einsetzen. Auch in den 74 Ländern, die uns kriminalisieren und zum Teil mit dem Tod bedrohen. Das heisst nicht, dass ich ansonsten einverstanden bin mit der jetzigen Administration. Als Trump ins Amt kam, erklärte er, er unterstütze und schütze LGBTIQ. Aber gleichzeitig griff er Mexikaner*innen an, Frauen, Einwanderer*innen etc. Das alles sind wir aber auch: Wir sind Mexikaner*innen, Frauen und Einwanderer*innen. Man kann nicht eine einzige von diesen Communitys angreifen, ohne uns anzugreifen.
Du warst 17, als dein Onkel erschossen wurde. Erinnerst du dich an den Tag? Meine erste Reaktion war ganz persönlich und selbstbezogen: Mit wem kann ich jetzt sprechen? Ich war ja noch nicht out. Meine Eltern hatten Harvey unterstützt, aber als ich mich outete, sagte meine Mutter: «Das vergeht wieder». Mein Onkel hätte gesagt: «Nein, tut es nicht». Für mich war es ein grosser Verlust.
Er hinterliess uns zwei Briefe, die er ein paar Monate vor dem Attentat geschrieben hatte, denn er wusste, dass er das Ende des Jahres nicht erleben würde. Es gab so viele Morddrohungen, oft nicht mal anonym. In dem Brief schrieb er: «Es zählt nicht die Quantität der Zeit, die du hast, sondern das, was du damit machst.» Das war der zweite Moment von Verlust, den ich spürte. Wir hatten unseren Anführer verloren!
Nach seiner Wahl in den Stadtrat von San Francisco hatte er ein Tonband aufgezeichnet mit den Worten: «Wenn mich eine Kugel in den Kopf treffen sollte, lasst diese Kugel alle Schranktüren zerstören, hinter denen sich Schwule und Lesben noch verstecken müssen.» Ich hielt seine Angst damals für Paranoia.
Wie hast du den Prozess gegen den Mörder deines Onkels in Erinnerung? Dan White gab vor Gericht zu Protokoll: «Ja, ich habe einen Homosexuellen getötet, aber ich bin ein guter, gottesfürchtiger Mann.» Und er weinte. Und die Jury, alle 14 Mitglieder, weinte auch. Nicht für meinen Onkel, sondern für den Mörder Dan.
Das Urteil erfolgte am 22. Mai, am Geburtstag meines Onkels: Man verurteilte White nicht wegen Mordes, nicht mal wegen Vorsatzes (auch wenn White extra Munition dabei hatte). Er sass wegen zweifachen Totschlags fünf Jahre im Gefängnis. 1985 beging er Selbstmord.
Wie lief dein Coming-out? Ich outete mich mit 17, nach dem Mord an meinem Onkel – es war mein erstes Jahr an der Uni. Danach verlor ich viele Freunde. Ausserdem rief mich der Rektor zu sich und sagte: «Stuart, du hast bisher International Service studiert, auf welches Fach wirst du wechseln?» Denn homosexuell zu sein war illegal im Auswärtigen Dienst. Ich musste mich für eine andere Karriere entscheiden, es wurde Public Communication. Das war ein Schock. Es zerstörte all meine Träume.
Ich hielt damals eine öffentliche Rede, und man sagte mir, ich käme leider gar nicht nach meinem Onkel! Das verletzte mich, aber ich weiss von Mitgliedern der Kennedy-Familie, die ich kennengelernt habe: Das erleben alle mit berühmten Verwandten. Ich ging erst einmal in die Frauenbewegung – da war der Name Milk nicht so besetzt und berühmt.
Hast du mit deinem Onkel je darüber gesprochen, dass du schwul bist? Wir sprachen nicht darüber. Ich sagte nur, dass ich mich anders fühlte – das Wort schwul benutzte ich nicht. Ich könne mit den anderen Kindern in der Schule nichts anfangen, erzählte ich ihm. «Das ist grossartig!», sagte er. «Nein, ist es nicht», sagte ich (lacht). Er schenkte mir dann das Buch. «Seven Arrows» und schrieb eine Widmung hinein. «Du und deine Unterschiede sind die Medizin, die die Welt heilt – auch wenn die Welt das nicht anerkennt.» Mit 12 war das für mich eine sehr kraftvolle Botschaft. Sie wurde ein bisschen zu meinem Kompass.
Gehst du davon aus, dass er es wusste? Er ahnte es. 1972 nahm mich mein Onkel mit zu seiner Produktion von «Jesus Christ Superstar», einer Preview des Musicals. In der Inszenierung hat man König Herodes in Drag auftreten lassen. Das war faszinierend für mich. Nach der Show fragte mich mein Onkel, ob ich Jesus oder Maria Magdalena kennenlernen wollte. Aber für mich war klar: Ich wollte unbedingt Herodes treffen (lacht).
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