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«Streaming-Krieg»: Sind die fetten Jahre der LGBTIQ-Serien vorbei?

«Die Branche muss jetzt alles dafür tun, den Weg der Vielfalt weiter zu beschreiten»

Netflix
Symbolfoto: Mollie Sivaram / Unsplash

Mit Ausnahme des Pandemiejahres 2020 ist die Zahl der US-Serien in den letzten zwei Jahrzehnten jedes Jahr gestiegen – auf rund 600 im Jahr 2022. Doch nun scheint die Serienblase zu platzen.

Von Gregor Tholl, dpa

Viel zu viele Serien – niemand kann das alles schauen: Sage und schreibe 599 fortgesetzte und neue englischsprachige Serien sind 2022 in den USA veröffentlicht worden – 40 mehr als im Jahr davor, wie die am 12. Januar veröffentlichte jährliche Zählung der Fernsehforscher*innen von FX Research aus dem Hause Walt Disney ergab, die die Drehbuchserien («Original Scripted Series») bei Kabelsendern, Rundfunkanstalten und Streamingdiensten der USA erfasst.

FX-Chef John Landgraf sagte jedoch angesichts des Rekords, in der zweiten Jahreshälfte 2022 habe sich die Produktion fiktiver Serien verlangsamt, berichteten Branchenblätter wie Variety und Hollywood Reporter. Dies könne bedeuten, dass der Höhepunkt des Serien-Hypes erreicht sei, der Gipfel überschritten. Kurz: Von nun an geht’s bergab. «Das goldene Zeitalter des Streamings verblasst plötzlich», meinte schon im Dezember die New York Times.


In den Vereinigten Staaten ist von den fetten Jahren des Fernsehens die Rede (auch «Peak TV» genannt). Die Gesamtzahl der Serien hat sich laut FX Research seit 2012 mehr als verdoppelt. Damals gab es 288, davon erst 15 von Streamingdiensten. Deren Boom ging ab 2013 mit dem Netflix-Hit «House of Cards» dann richtig los.

House of Cards
Kevin Spacey und Robin Wright in «House Of Cards» (Bild: Netflix)

Mit «Peak TV» sind meist die letzten rund acht Jahre gemeint (mit je mehr als 400 Serien), auch wenn natürlich schon vorher einige TV-Sender wegweisende Serien wie «Breaking Bad» (AMC) oder «Game of Thrones» (HBO) ausstrahlten. Die letzten acht bis zehn Jahre waren von einer grossen Zahl sogenannter High-End-Serien geprägt, also hochwertigen, neuartig erzählten, global erfolgreichen Produktionen, die die Unterhaltungskultur weltweit prägten.

Viele Fragen bleiben offen
Tonangebend war bei alledem Netflix (nach eigenen Angaben «mit 223 Millionen zahlenden Mitgliedern in über 190 Ländern der grösste Streaming-Entertainment-Dienst weltweit»). Seit dem Aufkommen von Disney+, Apple TV+ und weiteren Anbietern reden US-Medienexperten gern martialisch von einem «Streaming-Krieg», der derzeit tobe.


In dieser Schlacht erregte dieser Tage etwa das unvermittelte Ende von «1899» Aufsehen (MANNSCHAFT berichtete). Die Netflix-Serie über ein rätselhaftes Immigrantenschiff von den «Dark»-Machern Jantje Friese und Baran bo Odar aus Deutschland war eigentlich auf drei Staffeln angelegt. Nun aber werden bei der Serie viele Fragen offen bleiben – nach nur einer Staffel. Netflix zeigt eine neue Härte: Was nicht erfolgreich genug ist, wird abgesetzt.


Mehr zum Thema: In der Serie «1899» ging es u.a. um eine schwule Liebesdreiecksgeschichte zwischen Ober- und Unterdeck


Beim unter anderem in Potsdam-Babelsberg gedrehten «1899», der bisher teuersten deutschen Serienproduktion überhaupt, waren wohl die Abruf-Erwartungen bei Netflix besonders hoch wegen der hohen Kosten für Computertechnik.

1899
Miguel Bernardeau und José Pimentão (l.) in «1899» (Foto: Netflix)

Dasselbe Schicksal ereilt nun auch «Uncoupled» mit Neil Patrick Harris in der Hauptrolle: Wie The Hollywood Reporter berichtet, wird es für die Comedy-Serie keine zweite Staffel geben.

Was genau Netflix – aber auch Amazon Prime Video oder Paramount+ und die anderen – jeweils als «Erfolg» betrachten, ist unklar. Klar ist nur, dass etwa Netflix intern eine Menge Daten über die Nutzung seiner Inhalte erhebt – etwa, wie viele Menschen eine Serie komplett anschauen oder wo sie aussteigen. Bis 2022 schien für Netflix vor allem das Wachstum der Abo-Zahlen wichtig zu sein. Jetzt wird mehr auf Rentabilität geachtet. Um Geld zu verdienen, wird auch gegen die Mehrfachnutzung von Kund*innenkonten (Passwörter-Teilen) vorgegangen oder ein Abo-Modell mit Werbung eingeführt, obwohl es jahrelang gerade der Unterschied zum linearen TV war, werbefrei zu sein.

«Kann nicht ewig so weitergehen»
Der Drehbuch-Professor Timo Gössler von der Filmuniversität Babelsberg sagt, nach den Boom-Jahren sei jetzt eine deutliche Zurückhaltung bei den grossen Playern zu spüren, vor allem bei finanziell aufwendigen Projekten oder sehr gewagten Ideen. «Wirklich überraschend kommt das nicht – es war allen klar, dass das nicht ewig so weitergeht.»

Netflix
Golda Rosheuvel (M) als Königin Charlotte in «Bridgerton» von Shonda Rhimes (Foto: Liam Daniel / Netflix / dpa)

Die spannende Frage sei jetzt, was die innerhalb weniger Jahre enorm gewandelte TV-Industrie daraus mache. «Die Branche muss jetzt alles dafür tun, den Weg der Vielfalt an Serien, Genres, Figuren, ambitionierten Ansätzen und spannenden neuen Stimmen und Perspektiven weiter zu beschreiten, der erst durch den Boom entstand.»

Es gehe um ein neues Bewusstsein für Qualität im Erzählen, sagt Spezialist Gössler («Der German Room – Der US-Writers‘-Room in der deutschen Serienentwicklung»). «Es mag naiv sein, aber meine Hoffnung ist, dass sich bei dem Weniger, was jetzt hergestellt werden wird, Qualität durchsetzt.» Er sehe da auch eine Chance gerade für öffentlich-rechtliche Anbieter, sagt Gössler. Deren finanzielle Situation sei – noch – deutlich unabhängiger von der wirtschaftlichen Lage des globalen Marktes als bei den privatwirtschaftlichen Playern.

Inflation und Rezession
Das Trend- und Mode-Magazin WWD orakelte schon übers Jahr 2023: «Dieses Jahr könnte das Ende der Netflix-isierung dessen markieren, was wir früher Fernsehen nannten.» Die Wall Street stehe nicht mehr im Bann eines potenziellen Streaming-Goldrauschs, Inflation und Rezession zögen auf, die Medienindustrie werde damit leben müssen.

Ryan Murphy
Ryan Murphy (Bild: Wikicommons, Gage Skidmore, CC BY-SA 2.0)

Schlimm ist das laut WWD nicht wirklich, denn es habe einen irrationalen Überschwang bei den Inhalte-Anbietern gegeben, da sie mit Abonnent*innengeldern überflutet gewesen seien. Der digitale Schlund sei mit viel Zeug gefüttert worden. «Aufwendige Entwicklungsverträge regneten auf zuverlässige Erfolgsmacher*innen (Shonda Rhimes, Ryan Murphy) nieder, aber auch auf Menschen, die noch nie ein Entwicklungstreffen von innen gesehen hatten (die Obamas, Harry und Meghan).»

Die Los Angeles Times erinnert ausserdem daran, dass die Überproduktion auch eine gewisse «Unauffindbarkeit» habe entstehen lassen: «Viel von dem, was produziert wird, geht im grenzenlosen Raum der sich ständig drehenden Karussells der Streamingdienste verloren.»

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