Schwul in Russland: «Niemand wird uns beschützen»
Sergey und Boris aus Russland sind seit 20 Jahren zusammen
Sergey und Boris sind ein Paar. Beide 53 Jahre alt, sind sie seit 20 Jahren zusammen – in Russland, wo das Leben immer ungemütlicher wird.
Aus kleinen Städten im Ural stammend, lernten sie sich Anfang der 2000er Jahre über das Internet kennen. Seither führen Sergey und Boris, die in Wirklichkeit andere Namen tragen, eine feste Beziehung und betreiben ein kleines Unternehmen für Mitarbeiterschulungen, das mit kommerziellen und gemeinnützigen Organisationen zusammen arbeitet.
Nach dem Kennenlernen beschlossen sie, zusammen zu leben, mussten jedoch erkennen, dass es in ihren Heimatstädten ziemlich schwierig sein würde. Also zogen sie in ein grösseres regionales Zentrum im Ural und kauften dort eine Wohnung am Rande der Stadt, die sie lieber nicht nennen, um nicht identifizierbar zu sein. «Damals, 2004, machten wir uns keine grossen Sorgen darüber, wie andere uns wahrnehmen würden.»
Seit vor 10 Jahren das Anti-«Homo-Propagandagesetz» landesweit eingeführt wurde, hat sich ihre Lebensqualität erheblich verschlechtert. «Durch die völlige Rechtslosigkeit des Zusammenlebens als Paar kam es nun zu Situationen, in denen psychische oder sogar körperliche Gewalt drohte. Wir müssen jetzt allen erzählen, dass wir zwei Brüder sind, die zusammen eine Wohnung mieten», berichten sie gegenüber MANNSCHAFT.
Dazu kommt der Krieg gegen die Ukraine. «Erstens ist es für uns psychologisch sehr schwierig anzuerkennen, dass wir in einem Aggressorland leben und unsere Steuern für die Durchführung militärischer Operationen verwendet werden.» Zudem wissen sie nicht wohin, wenn Gefahr für ihr Leben besteht. «Wir sehen, dass die Länder der Europäischen Union für uns praktisch verschlossen sind, und Länder, in die man ohne Visum einreisen kann, uns auf erstes Ersuchen hin an die Russische Behörden ausliefern.» Dazu komme eine Spaltung ihrer Umgebung, die an den Bürgerkrieg zu Beginn des 20. Jahrhunderts erinnere. «Von unserem grossen Kreis von Angehörigen und Freunden teilen heute nur noch sieben Personen unsere Antikriegsposition», darunter Sergey Schwester, Nachbarn und befreundete Anwälte aus Moskau.
Vertrauen können sie nur noch wenigen Menschen. «Wir sind zwar in Kontakt mit Sergeys Eltern, stehen aber bei der Einschätzung der Haltung gegenüber dem Vorgehen Russlands in der Ukraine auf unterschiedlichen Seiten.»
Da sie ihre Beziehung aktuell verbergen, bestehe keine direkte Bedrohung, sagen sie. Aber es gebe jetzt viele Situationen, in denen andere anfangen, Fragen zu ihrem Familienstand zu stellen. «Wir glauben, dass ein Teil der Klienten uns ablehnen würde, wenn sie herausfinden, dass wir ein Paar sind.»
Vor 15 Jahren erhielten sie zweimal das Angebot, einnmal von einem lesbischen Paar, ein weiteres Mal von einem heterosexuellen Paar, als Samenspender zu fungieren. «Heute sind wir froh, dass wir diesen Schritt nicht getan haben – denn diese Kinder würden heute höchstwahrscheinlich in ein Waisenhaus geschickt.»
Sie wissen derzeit nicht, wo und wie es weitergehen soll. «Es ist sehr schwierig, den morgigen Tag in Russland zu planen. Wir würden gerne in einer Gesellschaft leben, in der Schwule zumindest nicht angetastet werden. Aber aufgrund unseres Alters schwinden die Möglichkeiten, den Beruf zu wechseln und dorthin zu gelangen.»
Boris und Sergey gehören einer Generation an, die in Russland sehr unterschiedliche Phasen des Wandels durchgemacht hat. «Unsere Kindheit verbrachten wir in der sowjetischen Zeit, in der wir stolz auf das Land, auf Kosmonauten und Fabriken waren, Lieder über Frieden und Freundschaft sangen und Gedichte über das Mutterland lasen.»
Als die Berliner Mauer und der Eiserne Vorhang fielen, begannen die Männer zu verstehen, dass vieles von dem, was ihnen erzählt wurde, nicht wahr war und dass die Welt viel grösser und freier ist, als sie es sich vorgestellt hatten. «Der Wind des Wandels hat unserer Generation Auftrieb gegeben und uns die Möglichkeit gegeben, zu versuchen, frei zu leben und das zu tun, wonach unsere Seele strebt. Wir erhielten eine Ausbildung und begannen, nach Möglichkeiten zu suchen, unter den Bedingungen eines neu entstehenden Marktes Geld zu verdienen. Es gab aber auch Zeiten, in denen unsere Eltern in den Fabriken keinen Lohn erhielten und wir uns selbst und auch sie ernährten. Wir verdienten Geld mit der Einfuhr von Waren aus der Türkei oder mit privater Beratung und Schulung.»
Die Situation begann sich zu ändern, nachdem sie 2010 zum ersten Mal nach München kamen, nachdem sie ein Touristenvisum erhalten hatten. Insgesamt besuchten sie Deutschland vor der Pandemie noch fünf Mal. Ein Freund war vor einigen Jahren dorthin gezogen, nachdem er einen Deutschen geheiratet hatte. «Dort fand gewissermassen unser Coming-out statt», sagen sie. Als sie die Leopoldstrasse entlanggingen, fragte eine der Freunde: «Seid ihr ein Paar?», was sie bejahten. Die neue Offenheit tat gut und sie beschlossen, dieses Gefühl nach Russland zu bringen.
In den nächsten knapp vier Jahren, bis zur Verabschiedung des ersten landesweiten homofeindlichen Gesetzes, begannen sie, sich ihren Verwandten und engen Freunden gegenüber zu öffnen. «Mit jedem neuen Geständnis fühlten wir uns in diesen Beziehungen wohler, aber wie sich später herausstellte, fühlten sich unsere Bekannten nicht immer wohl.»
Mit den Eltern haben sie das Thema nie besprochen. Bei einem ihrer gemeinsamen Besuche bei Sergeys Eltern allerdings kam dessen Vater ins Zimmer gestürmt, in dem die Männer nachts schliefen, holte ein Messer heraus und fragte: «Wie lebt ihr miteinander? Als Freunde oder Liebhaber?»
Für Putin haben sie nie gestimmt. sagen die beiden Männer. Er und seine Regierung stehe für Beschränkungen und Engstirnigkeit. Während seiner Regierungszeit wurden viele Verbote und Beschränkungen erlassen, die die Entwicklung der Zivilgesellschaft und des Unternehmertums behindern, aber die grösste Enttäuschung war für uns natürlich das Gesetz, das LGBTIQ-«Propaganda» verbietet. Sie zitieren den Kolumnisten und Galeristen Marat Gelman, der damals sagte: «Sie werden mit Schwulen beginnen, sie werden mit jedem von euch enden.»
Niemand wird uns beschützen – Männer nicht aus Sicherheitsgefühl, Frauen nicht aus Angst, dass auch ihre Kinder schwul werden könnten.
Sie verstehen jetzt die ganze Tragweite dieses Satzes, sagt das Paar. «Wir verstehen jetzt: Niemand wird uns beschützen – Männer nicht aus Sicherheitsgefühl, Frauen nicht aus Angst, dass auch ihre Kinder schwul werden könnten.»
In Russland gibt es viele Probleme, die durch das Missmanagement des Putin-Teams entstünden – von wirtschaftlichen bis hin zu politischen, aber die meisten Russ*innen wollen Beamten und Abgeordneten nicht die Schuld dafür geben. Lieber geben sie Jungen mit gefärbten Haaren die Schuld, Mädchen, die keine Kinder haben wollen oder Männern, die zusammenleben, sagt Sergey.
«Die nächsten acht Jahre wurden für uns immer unangenehmer – die Sanktionen setzten die Wirtschaft unter Druck, die Russen wurden wütender auf jeden, der den Westen und seine «Werte»verkörpern könnte.
Im vergangenen Jahr hätten sogar mehrere Fremde versucht herauszufinden, wie es mit dem Familienstand der beiden aussieht. Sie haben dann begonnen, aktiv darüber nachzudenken, wohin sie gehen könnten, um sich zu schützen. Es gab verschiedene Optionen, dazu gehörte neben Finnland auch Deutschland. «Wir bereiteten die Unterlagen vor und begannen mit der Suche nach einer Wohnung.»
Doch dann kam der 24. Februar 2022, die Invasion der Ukraine (MANNSCHAFT berichtete). «Zunächst waren wir entsetzt darüber, was unsere Regierung tat und die Ukrainer sowie die LGBT-Gemeinschaft für ihr Versagen auf der politischen Bühne verantwortlich machten. Für unsere Generation, die stolz darauf ist, dass die UdSSR immer für den Frieden ist, war allein die Vorstellung, dass Russland jetzt selbst ein Aggressorland ist, traumatisch.» Die beiden Männer lehnen Gewalt kategorisch ab, egal aus welchen Gründen sie erfolgt,
Die Spaltung innerhalb der Gesellschaft sei mittlerweile noch deutlicher geworden: Sergeys Eltern unterstützen, wie die meisten Rentner, eindeutig Putin. Die Eltern von Boris leben nicht mehr. Die meisten Freund*innen des Paares begannen, die von Propagandisten entwickelte Sätze aus dem Fernsehen zu wiederholen: «Wir wären angegriffen worden, wenn wir es nicht zuerst getan hätten.»
Für Sergy und Boris wurde alles sehr kompliziert. Im Moment leben sie in einer der grössten russischen Städte, haben einen Job und ein Einkommen, aber das Wichtigste fehlt ihnen: ein Gefühl der Stabilität und Zuversicht in die Zukunft. «Was wird unser Vaterland sonst noch tun, um uns loszuwerden?», fragen sie sich.
Derweil müssen die Männer mit ansehen, wie der Kampf gegen LGBTIQ in Russland weitergeht. Seit Juli werden in allen Krankenhäusern in Russland sogenannte «Sexologenbüros» eröffnet, in denen sie Pathologien (Transsexualität und alle nicht-heterotypischen Verhaltensweisen) diagnostizieren, registrieren und Behandlungen verschreiben, berichten die beiden. Die zweite Fassung des Gesetzes zum Verbot von LGBTIQ-«Propaganda» besagt, dass jede positive Darstellung gleichgeschlechtlicher Beziehungen als Propaganda gilt, was bedeutet, dass unser Leben, das wir leben, das falsche Leben für einen Russen ist.
In Europa haben sie Angst vor den Russen, die Russen mögen keine Schwulen, sie hassen uns sogar. Wo ist der Ausweg?
Und zuletzt hat das Parlament in Russland Mitte Juli ein Gesetz zum Verbot von «Geschlechtsumwandlungen» verabschiedet. Menschen in Russland, die eine andere geschlechtliche Identität haben, dürfen sich nicht mehr chirurgischen Eingriffen unterziehen oder etwa auch Hormone verschreiben lassen (MANNSCHAFT berichtete).
«Uns wird geraten, eine Schein-Ehe mit Frauen zu arrangieren, in einem Dorf zu leben, in ein visumfreies Land zu ziehen, und das alles nur, weil wir uns entschieden haben, in diesem Land zusammen zu sein.» Sergey und sein Partner stehen vor einem Dilemma: «Die Europäer haben Angst vor den Russen, die Russen mögen keine Schwulen, sie hassen uns sogar. Wo ist der Ausweg?»
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