Rüschen und Röcke: Mode braucht keine Genderkategorie
Wohlfühlen oder Normen erfüllen?
Mode beginnt Geschlechtergrenzen zu verschieben. Gut so, schreibt Holger Hähle* in seinem Gastbeitrag. Denn Mode sollte eine Geschmackssache sein, die jede*n einschliesst.
Kleider machen Leute – und das war immer schon so. Kleidung zeigt, wer wir sind. Natürlich kann sie auch funktional sein und vor Kälte schützen, aber zuerst ist Kleidung nonverbale Kommunikation. Jeden Morgen, wenn wir uns anziehen, signalisieren wir mit unserer Wahl Zustimmung zur gesellschaftlich zugewiesenen Rolle. Mit der täglichen Wiederholung schleift sich unser Rollenbewusstsein ein. Wir lernen zu sein, was wir sein sollen. Grundlage für die Sozialisierung sind die Maximen unserer Gesellschaft, die sich in Konventionen und ihren Symbolen niederschlagen.
Mode spiegelt dieses System und bietet die passende Bekleidung, uns konform zu markieren. Auf den Modeschauen sieht Mode schon mal vielvielfältiger und bunter aus, aber im Einzelhandel findet sich die kreative Vielfalt selten wieder. Im Kampf um Marktanteile und niedrige Kosten setzt der auf ein standardisiertes Angebot. Das kommt denen entgegen, die bemüht sind Normen zu erfüllen. Niemand möchte, dass über ihn geredet wird. Im vorauseilenden Gehorsam um gesellschaftliche Akzeptanz nehmen die Käufer das an, was feilgeboten wird. Um dazuzugehören passt man sich gegebenenfalls an.
Mir ist diese Anpassung immer schwergefallen. Schon als Kind liebte ich meine bayerischen Lederhosen, mit denen ich so gut auf Bäume klettern konnte, aber ich hasste den schwarzen Anzug, den ich zur Erstkommunion anziehen musste. Wie gerne hätte ich ein weisses Kleid getragen, das so schön schwingt und an den Beinen kitzelt. Zu anderen Zeiten hat es andere Moden gegeben. Mitunter war Männermode farbenprächtig. Semitransparente Strumpfhosen wurden mit Heels und superkurzen Röcken kombiniert, die das Bein optisch verlängerten. Später machten unter dem Wams Korsetts eine schmale Taille. Selbst zu Beginn des 20. Jahrhunderts flanierten Männer am Strand in rückenfreien Badeanzügen mit raffinierten Cut-Outs.
Die Hose als Zeichen eines patriarchalen Führungsanspruchs Der Paradigmenwechsel in der Mode wurde durch die Bürgerrechtsbewegungen eingeleitet. Eine wichtige Rolle spielten die Sans-Culottes, die Hosen der revoltierenden Jakobiner. Sie standen für Nützlichkeit im Gegensatz zum repräsentativen höfischen Rock. Fortan war die Hose das einzig legitime Beinkleid. Der Verzicht auf äusserlich hervorgehobene Schönheit sollte auf höher zu bewertende innere Qualitäten verweisen. In seiner schlichten Ausführung unterstrich die neue Mode den Anspruch auf exklusiv männliche Rationalität und Kompetenz. Frauen wurden vom Hosentragen ausgeschlossen, denn sie hätten kein Sein. Ihr authentisches Wesen, so erklärte der Philosoph Jean-Jaques Rousseau, sei das Nichts des Scheins, das Theater. Frauen sollten im Haus die sanfte Herrschaft des Herzens ausüben, während die Männer die res publica, die Sache aller vertraten. So wurde die Hose zum Zeichen eines patriarchalen Führungsanspruchs.
Junge Leute folgen immer weniger den Vorgaben der Modeindustrie. Die Auswertung von Daten aus der Marktforschung belegen, dass jede*r zweite Konsument*in der Zoomer Generation auch ausserhalb der zugeordneten Genderkategorie shoppt. In einer Umfrage, die ich mit Student*innen unserer Uni durchgeführt habe, gaben 75% der Befragten an, dass gleiche Bekleidungsmöglichkeiten für alle ein Beitrag zu einer gleichberechtigten Gesellschaft seien.
Die Mode beginnt Geschlechtergrenzen zu verschieben. Es gibt Unisex-Clothing, und Genderless Fashion. John Galliano hat seine ursprünglich weiblichen oder männlichen Entwürfe in einer einzigen Unisex-Kollektion zusammengefasst. Norma Kamali führt ihre ursprüngliche Damenkollektion als Genderless-Linie. Viele Kreationen gibt es bei ihr in zwei Grössen, damit sie jedem passen. Nachdem bereits Jaden Smith für Louis Vuitton Damenmode vorführte, präsentierte aktuell NBA-Player Russell Westbrook Rockmode von Thom Browne aus der Kollektion für 2022. Andere Marken präsentieren ihre Herrenkollektionen mit androgynen Frauen oder trans Frauen. Frauen wie Rain Dove und Casey Legler haben Model-Verträge für Damen- und Herrenmode.
Nonbinäre Mode hat die roten Teppiche der Filmfestivals und Musik-Awards erreicht. Ausladende Ballkleider zeigte der US-amerikanische Schauspieler und Regisseur Billy Porter bei der Oscar-Verleihung. Der Rockmusiker Sting nahm seinen Grammy im schwarzen Faltenrock entgegen und Rapper Kanye West steht regelmässig im Lederkilt auf der Bühne. Sein Kollege Young Thug zeigte sich auf dem Album «My name is Jeffery» im blauen Rüschenkleid. Die Kleider vom Punk-Rocker Yungblud sind bunt und verspielt, oft auch aus Tüll und Spitze. In einem Billboard Interview erklärte er dazu, dass das so sein muss, weil er nun Mal genderfluid sei.
Ich fand Jean-Paul Gaultiers Outfit bei den Filmfestspielen in Cannes beeindruckend, und trage jetzt auch schlichte Röcke zu einer Anzugsjacke bei der Arbeit. Nicht nur mein Chef findet das gut. Viele Kollegen beklagen die herrschende Kleiderordnung. Es gefällt ihnen, wenn Mode vor allem eine Geschmackssache ist, die jeden einschliesst.
*Holger Haehle ist ein nonbinärer Aktivist und Autor des Buchs «Männerrock – Geschlechterrollen in Mode und Gesellschaft».
Nagellack gehört für viele Frauen modisch dazu. Manche fühlen sich ohne die Fingerfarbe nackt. Aber das gilt längst auch für einige Männer (MANNSCHAFT berichtete).
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