«Ein ziemlicher Schock»: Die LGBTIQ-Säuberungsaktionen in Polen

Interview mit Drehbuchautor Marcin Ciastoń über seinen gefeierten Netflix-Film «Operation Hyacinth»

Zentrale Verhörszene aus «Operation Hyacinth», bei der ein Eingeständnis von Homosexualität erpresst werden soll
(Foto: Bartosz Mrozowski / Netflix)
Zentrale Verhörszene aus «Operation Hyacinth», bei der ein Eingeständnis von Homosexualität erpresst werden soll (Foto: Bartosz Mrozowski / Netflix)

Als «Operation Hyacinth» im Oktober bei Netflix erschien, erregte der Film über die LGBTIQ-Säuberungsaktionen im kommunistischen Polen der 1980er-Jahre weltweit Aufmerksamkeit. Denn es wurde erstmals eine kaum bekannte Seite queerer Geschichte hinterm Eisernen Vorhang erzählt, mit verblüffenden Parallelen zur heutigen Situation.

Das Drehbuch hat Marcin Ciastoń geschrieben und dafür viele Preise gewonnen. Im MANNSCHAFT-Interview spricht er über die Queer-Bewegung der Achtziger, AIDS im Kommunismus, das Desinteresse von Solidarność an der Gleichstellung von LGBTIQ nach 1989 und über die Suche nach «Schuldigen», damals wie heute, die man für politische Verfehlungen verantwortlich machen kann.

Herr Ciastoń, wie und wo haben Sie denn zum ersten Mal von der «Akcja Hiacynt» gehört, der sogenannten «Operation Hyakinthos» bzw. «Operation Hyacinth»? Ist diese «Operation» ein bekannter Teil von Polens LGBTIQ-Geschichte und den meisten Queers vertraut? Ich bin 2015 darauf gestossen. Es ist nicht so, als hätte es davor keine Informationen gegeben, aber ich kannte mich bis dahin nicht so gut mit LGBTIQ-Geschichte aus. Sie wird schliesslich nicht in der Schule unterrichtet, man muss sich die Fakten also selbst zusammensuchen. Damals gab es nur vereinzelte Artikel zu dieser «Operation». Als erstes fielen mir Namen auf aus der Queer-Bewegung der 1980er-Jahre, Leute wie Andrzej Selerowicz, Ryszard Kisiel und Waldemar Zboralski. Sie sprachen über «Operation Hyakinthos». Mich interessierten die Wurzeln der Queer-Bewegung, weil ich auf der Suche nach einem Stoff für ein mögliches Drehbuch war, das ich für meine Diplomarbeit an der Filmhochschule verwenden wollte. Dadurch machte ich eine ganze Reihe von Entdeckungen – und das war zugleich ein ziemlicher Schock. Denn diese «Operation Hyacinth» hat zu meinen eigenen Lebzeiten stattgefunden! Und trotzdem wusste kaum jemand was davon. Es wurden dazu keine Geschichten öffentlich erzählt! Es gab damals nur einen Roman von Mikołaj Milcke; allerdings sind etliche Sachbücher herausgekommen, seit ich selbst angefangen habe, an dem Thema zu arbeiten. Ich sehe heute mehr Bemühungen von Aktivist*innen, solche Geschichten ans Licht zu bringen.

Drehbuchautor Marcin Ciastoń am Set von «Operation Hyacinth» (Foto: Privat)
Drehbuchautor Marcin Ciastoń am Set von «Operation Hyacinth» (Foto: Privat)

Wann fiel der Entschluss, daraus einen Film mit Regisseur Piotr Domalewski zu machen? Zuerst gab’s das Drehbuch, an dem ich 2015 anfing zu schreiben. Das hat mir von Beginn an ziemlich viel Aufmerksamkeit eingebracht, weil es ein Thema ist, von dem so viele Menschen so wenig gehört hatten. Ich verwendete anfangs animierte Szenen als Referenz an ein Propaganda-Comic-Buch über die Polizei, das ein Riesending im kommunistischen Polen war. Es heisst «Kapitan Żbik» und erschien zwischen 1967 und 1982 und sollte die Polizei in einem besonders positiven Licht zeigen. Das inspirierte mich bei Schreiben meiner Figuren.

Die Comic-Bücher von «Kapitan Żbik» erschienen zwischen 1967 und 1982
Die Comic-Bücher von «Kapitan Żbik» erschienen zwischen 1967 und 1982

Später habe ich diese Zeichentrickpassagen wieder gestrichen, weil es mir emotional direkter erschien, die Geschichte mit echten Darsteller*innen zu erzählen. Mit verschiedenen Fassungen meines Drehbuchs gewann ich dann diverse Wettbewerbe, was zu Treffen mit Produzent*innen führte. Aber es kam zu keinem Vertrag, und ich machte mit anderen Projekten weiter. 2019 expandierte Netflix in Polen und mein enger Freund Michał Oleszczyk – den ich 2017 kennengelernt hatte, als er in der Jury eines Wettbewerbs sass, bei dem ich mit meinem Drehbuch einen Preis gewonnnen hatte – schlug vor, den Stoff Netflix anzubieten. Er meinte, er könnte gut passen. Und genauso war es! Damals arbeitete ich mit meiner Produzentin Joanna Szymańska schon an einem anderen Film, deshalb fragte ich sie, ob sie nicht auch «Operation Hyacinth» produzieren wolle. Sie sagte zu, und wir suchten zusammen nach einem möglichen Regisseur bzw. einer Regisseurin. Netflix suchte mit uns. Piotr Domalewski schien eine naheliegende Wahl, weil er seine Charaktere immer sehr einfühlsam zeichnet und bis dahin stark von den Charakteren getriebene Dramen gedreht hatte.

Zwischen uns und Piotr klickte es sofort. Wir hatten lange Gespräche darüber, welche Aspekte wir besonders hervorheben wollten. Das ging alles recht schnell, schliesslich hatte ich selbst schon vier Jahre am Drehbuch gefeilt. Ich habe das Ganze 2019 dann nochmals überarbeitet. Und im Herbst 2020 haben wir angefangen zu drehen.

Wie haben Sie denn zu den Hintergründen der «Operation» Material gefunden? Gibt’s dazu Archive? Nachdem ich alles gelesen hatte, was ich online finden konnte, inklusive der wenigen Bücher, die es gab, fing ich an, Leute zu kontaktieren. Zuerst die Personen, die die Bücher und Artikel geschrieben hatten, die mich wiederum zu jenen Menschen führten, die Zeugen dieser «Operation» waren. Ich habe Interviews geführt mit Polizeioffizieren, die in den 80er-Jahren im Dienst waren. Und dann recherchierte ich zu queerem Leben im Kommunismus. Das hat ziemlich viel Zeit in Anspruch genommen. Ich hatte keinen Zugang zu Archiven, aber mich interessierten vor allem Fakten zur «Operation». Mir war von Anfang an klar, dass das ein Krimi werden sollte. Deshalb suchte ich nach echten Kriminalfällen, die etwas mit der Gay Community zu tun hatten. Daraus entwickelte ich die fiktive Geschichte, wie sie im Film vorkommt, vorm Hintergrund realer Zeitgeschichte.

Während ich am Drehbuch arbeitete, kamen nach und nach neue Bücher heraus. Das war sehr hilfreich. Von Mikołaj Milckes Buch «Różowe Kartoteki» (Rosafarbene Akten) hatte ich schon gehört und stellte sicher, dass ich keine Ideen daraus stahl. Ausserdem gab es Andrzej Selerowiczs «Kryptonim Hiacynt» (Codename: Hyacinth), eine fiktive Nacherzählung der Ereignisse, die die meisten Fakten enthält, die ich selbst online gefunden hatte, plus einige Augenzeugenberichte und persönliche Erinnerungen des Autors. Ich fand auch das Buch «Gejerel» von Krzysztof Tomasik sehr hilfreich. Der Titel ist ein Wortspiel: «PRL» ist die polnische Abkürzung für Volksrepublik Polen, hier kombiniert mit dem Wort «gay». Darin sind viele Informationen über queere Kulturgeschichte in Polen zu finden, auch über diese «Operation». Ferner gibt’s die hervorragenden Bücher von Remigiusz Ryziński, der mit vielen Menschen über queeres Leben im Kommunismus gesprochen hat. Dieses Jahr hat er endlich sein grosses Sachbuch «Akcja Hiacynt. PRL wobec homoseksualistów» (Operation Hyacinth: Die Volksrepublik Polen und die Homosexuellen) veröffentlicht. Das ist die erste allumfassende Studie zur «Operation Hyacinth».

Die aktuelle polnische Regierung tut gern so, als gäbe es in Polen keine LGBTIQ und als wären sie auch nicht Teil der nationalen Geschichte. (Was die Debatten zu Chopin als Nationalkomponist erklären mag; MANNSCHAFT berichtete.) Wie hat denn die PiS-Partei auf Ihren Film reagiert und darauf, dass er bei einer so reichweitenstarken Plattform wie Netflix gezeigt wird? Also, ehrlich gesagt habe ich noch nie von der Behauptung gehört, dass es keine homosexuellen Menschen in der polnischen Geschichte gegeben habe – ganz im Gegenteil wird immer wieder betont, dass es sie gab, aber sie werden als die Bösewichter dargestellt und politisch instrumentalisiert. Manche religiöse Fundamentalist*innen wollen Einschränkungen wie in Russland einführen, aber wir sind als LGBTIQs sicher nicht unsichtbar oder ausradiert. Im Gegenteil: wir lassen uns nicht vertreiben. Obwohl ich zugeben muss, dass ich in den letzten Jahren mehr aus tausend Mal darüber nachgedacht habe auszuwandern. Dadurch, dass wir Teil der EU sind, wird der konservative Rückschlag etwas ausgebremst. Aber die EU ist gleichzeitig auch sehr langsam, wenn es darum geht, Menschenrechtsverletzungen in ihrem Hoheitsgebiet zu bekämpfen. Ja, es stimmt, bei uns gibt es Widerstand dagegen zuzugeben, dass wichtige Persönlichkeiten in unserer Landesgeschichte queer gewesen sein könnten. Aber Forscher*innen leisten hier ziemlich grossartige Arbeit – und mit dem Leugnen von Fakten wird man letztlich nicht weit kommen. Was meinen Film betrifft: dazu gab es von politischer Seite bisher keine Reaktionen. Jedenfalls keine, von denen ich gehört hätte. Ich bin allerdings auch nicht in Kontakt mit Personen aus der PiS-Partei.

Die Pressereaktionen auf den Film waren – international – extrem positiv. Was haben polnische Filmkritiker*innen gesagt? Was hat Radio Maria dazu vermeldet? Die Rezensionen waren hier auch überwiegend positiv. Und ich freue mich, dass so viele Leute diese Geschichte kommentieren, über die Figuren sprechen und ihre eigenen Erfahrungen einbringen in die Diskussion. Mir ist klar, dass es sehr leicht ist, Parallelen zwischen damals und heute zu ziehen. Als ich anfing das Drehbuch zu schreiben, war die Situation bei weitem noch nicht so dramatisch wie jetzt. Das ist der Reiz von historischen Filmen: sie zeigen die Vergangenheit und sagen gleichzeitig etwas über die Gegenwart, in der wir leben. Ich beschränke meinen eigenen Konsum von sogenannten konservativen Medien. Aber mir ist aufgefallen, dass meine Dankesrede beim 46. Polnischen Filmfestival in Gdynia auf dem nationalen Kulturkanal übertragen wurde. Ich gewann den Preis fürs Beste Drehbuch und dankte in meiner Rede meinem Lebenspartner, der auch immer der erste Leser meiner Drehbücher ist. Und diese Rede wurde vollständig ausgestrahlt. Eine staatliche Nachrichtenwebseite hat auch darüber berichtet, dass «Operation Hyacinth» den Preis für Besten Polnischen Film und Beste Kinematographie beim polnischen Camerimage International Film Festival gewann.

Als ich im September in Poznań war, sah ich überall Werbung für die Netflix-Serie «Queer Eye» an den Bushaltestellen. Darunter stand auf Polnisch: «Es kann keine Geschichte geben ohne LGBTIQ!» Ist Netflix in Polen ein*e (ge)wichtige*r LGBTIQ-Aktivist*in? Und gab’s für «Operation Hyacinth» auch solche Poster-Kampagnen? Netflix ist ein wichtiges Medium, eine gigantische Streaming-Plattform. Und ich bin sehr dankbar, dass Geschichten wie unsere darüber ein Publikum finden. Wir waren wirklich froh, dass wir so einen globalen Vertrieb bekommen haben und das «Operation Hyacinth» dadurch in so vielen Ländern rauskam, mit entsprechend vielen Zuschauer*innen. Unser Film hat ziemlich viel Aufmerksamkeit bekommen durch Menschen, die ihn weiterempfohlen und anderen davon erzählt haben, natürlich auch durch die Preise, die er gewann. Deshalb brauchte Netflix für unseren Titel keine Poster-Kampagne. Was den Slogan angeht: Ich stimme vollkommen zu. Queere Geschichte gehört – wie alle Geschichten von Minoritäten – zu unserem nationalen Erbe.

Das Finale aus «Operation Hyacinth» (Foto: Bartosz Mrozowski / Netflix)
Das Finale aus «Operation Hyacinth» (Foto: Bartosz Mrozowski / Netflix)

Viele queere Aktivist*innen schauen – fast ausschliesslich – auf die USA und feiern Stonewall als die Geburtsstunde von Gay Liberation. Aber mit Filmen wie «Ball der 41» hat Netflix gezeigt, dass es schon eine wichtige schwule Geschichte im Mexiko des frühen 20. Jahrhunderts gab (MANNSCHAFT berichtete). Der neue Paragraph-175-Film «Grosse Freiheit» behandelt die Situation schwuler Männer im Deutschland der 1950er-Jahre (MANNSCHAFT berichtete). Und «Der Staat gegen Fritz Bauer» untersuchte die Situation im Deutschland der 60er-Jahre.

Lernen wir endlich, genauer hinzuschauen, was in unseren eigenen Ländern geschah – jenseits der USA? Ich finde es erstaunlich, dass all diese Geschichte jetzt plötzlich erzählt werden. In allen Ländern gibt es Menschen, die genau wie ich ihre eigenen Wurzeln entdecken wollen. Um zu verstehen, auf welcher Vergangenheit unsere Gegenwart aufbaut. Sie wollen wissen, wer vor ihnen da war und gefochten hat, ob’s ähnliche Erfahrungen gab, wie die, die wir heute machen. Vielleicht waren es auch völlig andere Erfahrungen. Auf jeden Fall sind es immer tiefmenschliche Geschichten. Und es ist wichtig sie zu erzählen. Wie wir an vielen Beispielen weltweit sehen, ist der Kampf für Freiheit und Gleichberechtigung ein universelles Thema, das alle betrifft. Ein Grund, warum wir diese Geschichten heute wieder erzählen, ist auch, uns daran zu erinnern, dass wir nicht die ersten sind, die sich mit diesen Problemen auseinandersetzen. So können wir vergleichen, Schlussfolgerungen ziehen, Ballast abwerfen und müssen dann – leider! – trotzdem oft die gleichen Situationen nochmals neu durchleben.

Im Film heisst es, die «Operation» begann 1985 und endete 1987. Wer genau in der kommunistischen Partei hat das damals losgetreten – und warum war nach zwei Jahren wieder Schluss? War «Akcja Hiacynt» mit den sowjetischen Behörden abgesprochen? Und gab’s in anderen Ländern hinterm Eisernen Vorhang ähnliche «Operationen»? Es begann am 15. November 1985. Ich habe keine Belege gefunden, dass die Sowjets das angeordnet haben, und meines Wissens war es die einzige solche «Operation» in einem kommunistischen Land. Es fing damit an, dass jemand im Innenministerium entschied, dass ein landesweites Register für Homosexuelle nützlich wäre. Angeblich soll General Kiszczak das beschlossen haben, der damals das Innenministerium leitete, aber das lässt sich nicht beweisen, es gibt keine Unterschriften. Aber eine so umfangreiche Operation hätte nie durchgeführt werden können ohne Zustimmung von ganz oben. Man schlug in allen Dörfern und Städten zu, egal wie gross oder klein: Männer wurden an Cruising-Spots, in Bars und Saunen festgenommen. Falls man sowieso schon vermutete, dass sie homosexuell seien, wurden sie von zuhause oder vom Arbeitsplatz abgeholt. Obwohl es keine rechtliche Grundlange dafür gab, wurden sie auf Polizeistationen verhört, man fragte sie persönlichste Dinge, inklusive welche Positionen sie beim Sex bevorzugten. Dann forderte man sie auf, ein «Eingeständnis von Homosexualität» zu unterschreiben, womit sie offiziell zugaben, schwul zu sein. Von manchen wurden Fotos gemacht und Fingerabdrücke genommen, einige versuchte man als Informanten für den Geheimdienst zu rekrutieren, falls sie in Bereichen tätig waren, der für die Behörden interessant waren. Es ging grundsätzlich darum, eine Datenbank zu schaffen. Jüngste Forschungen haben gezeigt, dass das nicht das erste Mal war, dass polnische Behörden versuchten, eine solche Datenbank etwas einzurichten. Scheinbar gab es bereits in den späten 50er-Jahren entsprechende Homosexuellen-Verzeichnisse. Aber der Umfang und die organisierte Herangehensweise der 80er-Jahre war neu. Es waren diesmal tausende Polizist*innen im Einsatz und mehr als 14.000 Männer wurden verhört und registriert. Die meisten Akten sind noch immer in Polizeibesitz, weil sie als «betriebsrelevant» eingestuft werden. Wir wissen nicht, wer heute Zugang hat und diese Akten nutzt.

Die «Operation» war nicht allgemein bekannt, «normale Bürger*innen» wussten nicht, was passierte, nur diejenigen, die direkt davon betroffen waren kriegten etwas mit, auch deren Familien und Freunde. Das führte oft zu persönlichen Tragödien. Natürlich hat der Kommunismus alle unterdrückt, besonders Oppositionelle und die Kirche – damals waren polnische Kleriker noch auf der Seite der Freiheit. Die «Operation» betraf aber einer Gruppe von Menschen, die sowieso Aussenseiter waren und nicht auf Unterstützung von anderen hoffen konnten.

Interne Akten der kommunistischen Polizei legen nahe, dass es verschiedene Gründe gab, die «Operation» zu starten. Es gab scheinbar Schwierigkeiten, Kriminalfälle innerhalb der LGBTIQ-Community aufzuklären, weil die Opfer von Raubüberfällen oder Angriffen meistens schwiegen. Im Fall von Mordtaten war es schwer, aussagewillige Zeugen zu finden. Was nicht überrascht, wenn man bedenkt, dass Homosexualität tabu war und jedes offene Sprechen darüber zu Verfolgung und sozialer Ausgrenzung führte. Was dann bei der «Operation» selbst abermals schamlos ausgenutzt wurde. Ein Teufelskreis.

Dann gab’s AIDS. Auch das wurde als Grund angeführt. Allerdings finden sich in den Verhörakten keine Hinweise, dass einer der Männer jemals nach seinem Gesundheitszustand oder HIV-Status befragt wurde. Man informierte die Männer allerdings auch nicht über die Gefahren des Virus und seine Übertragbarkeit. Erst 1987 versuchte – und scheiterte! – eine Gruppe von Homosexuellen, eine offizielle Organisation anzumelden, um über AIDS aufzuklären. Zu dem Zeitpunkt war die Epidemie schon voll ausgebrochen.

Tomasz Ziętek als Robert durchleuchtet die erschreckenden Machenschaften der polnischen Geheimpolizei, für die er selbst arbeitet («Operation Hyacinth» (Foto: Bartosz Mrozowski / Netflix)
Tomasz Ziętek als Robert durchleuchtet die erschreckenden Machenschaften der polnischen Geheimpolizei, für die er selbst arbeitet («Operation Hyacinth» (Foto: Bartosz Mrozowski / Netflix)

Meine Vermutung ist – basierend auf den Informationen aus den zuvor genannten Büchern –, dass das Hauptziel der Operation war, so viele vulnerable Informanten wie möglich aufzuspüren, um ein sich langsam auflösendes Regime mit wertvollen Informationen zu füttern, im Gegenzug zu persönlicher Sicherheit.

Als offizielles Ende der «Operation» wird 1987 angegeben, aber der Forscher und Autor Remigiusz Ryziński meint, dass die «Operation» in geringerem Umfang noch 1988 weitergeführt wurde. Warum sie dann aufhörte? Das Regime brach zusammen. Und wir alle wissen, was 1989 passierte. Hörte das Ganze danach auf? Die Tatsache, dass die Akten immer noch in Polizeihand sind, gibt Anlass, das zu bezweifeln.

1989 implodierte der Ostblock und das kommunistisch-sozialistische System. Verbesserte sich die Situation von Homosexuellen unter Solidarność? Bedeutete Demokratie auch LGBTIQ-Befreiung? Solidarność hat sich nicht für queere Belange interessiert, obwohl das eigentlich naheliegend gewesen wäre – immerhin kämpften sie für Freiheit und Gleichheit. Es gab einige queere Menschen, die bei der Gewerkschaft dabei waren, aber der Kampf richtete sich gegen den Kommunismus. Manche Queers glaubten, dass mit dem politischen Wandel persönliche Freiheit automatisch kommen würde. Aber das ging nicht so schnell, und es war ein einsamer Kampf. Ein trauriges Beispiel ist eine Solidarność-Aktivistin, die in ihren eigenen Reihen ausgegrenzt wurde: Ewa Hołuszko. Sie arbeite aktiv Hand in Hand mit den prominentesten Leuten der Solidarność-Bewegung. Sie war auch Teil der Politik nach dem Umbruch. Aber als sie sich als trans outete und eine Transition durchmachte, wandten sich alle ihre Parteifreund*innen von ihr ab, alle, mit denen sie zuvor Seite an Seite gekämpft hatte. Einige machten sogar schockierende Bemerkungen. Soweit ich weiss, ist das Einzige, was Lech Wałęsa im polnischen Parlament für die LGBTIQ-Community getan hat, die Äusserung, dass er sich wünsche, der demokratisch gewählte schwule Abgeordnete Robert Biedroń solle in der letzten Reihe sitzen – oder noch besser, hinter einer Wand. Weil er angeblich nur eine verschwindend kleine Gruppe repräsentieren würde. Das ist schon traurig. Aber Wandel kam trotzdem. Langsam entstanden die ersten queeren Organisationen in Polen und kämpften für Gleichberechtigung. Sie haben die Sache vorangetrieben – aber nur sie. Es gab von Seiten der politischen Parteien keinerlei Unterstützung, etwa bei der Eheöffnung oder bei einem Gesetzesvorhaben gegen Hasskriminalität. Trotzdem schien es eine Weile so, als würden sich die Dinge in die richtige Richtung entwickeln, wenn auch langsam. Heute ist das anders.

Bei Solidarność hatten alle einen gemeinsamen Feind, das half, Meinungsverschiedenheiten und unterschiedlichen Ansichten zu überwinden. Aber nach dem Umbruch in Polen brachen diese Unterschiede wieder voll durch. Was heute geschieht, erinnert mich an damals: man sammelt die Menschen hinter sich, indem man einen gemeinsamen Feind ausmacht. Diesmal sind es Queers, Frauen und Immigranten.

Im Film erzählen Sie die Geschichte des jungen Polizeioffiziers Robert. Gibt’s für ihn ein reales Vorbild? Er ist vollständig fiktiv. Natürlich habe ich viele Hintergrunddetails recherchiert und dabei auch spannende Lebensläufe entdeckt, aber niemand war ein Polizeioffizier in dieser Situation. Wie ich schon sagte, mich haben einige Comic-Buch-Charaktere inspiriert. Ich wollte solch eine heteronormative Propaganda-Figur als bewusste Provokation nutzen, jemanden, der das Idealbild von Männlichkeit und kommunistischen Tugenden zu verkörpern scheint.

Im Gegensatz zu William Friedkins Film «Cruising» von 1980 entpuppt sich Ihre Figur Robert als Polizeiagent, der nicht nur im schwulen Untergrund ermittelt, sondern selbst schwul ist. Oder zumindest bisexuell. Gleichzeitig sieht man den Chef der Geheimpolizei an geheimen schwulen Sexpartys teilnehmen. Was sagen diese Aspekte übers heutige politische Klima in Polen? Nur weil es in beiden Filmen um einen Polizisten geht, der in der schwulen Subkultur ermittelt, macht das «Operation Hyacinth» überhaupt nicht ähnlich zu «Cruising». Das Setting und auch meine Inspiration sind völlig unterschiedlich. Ebenso die persönliche Geschichte meiner Hauptfigur. Um ehrlich zu sein habe ich «Cruising» erst gesehen, nachdem ich mit meinem Drehbuch 2017 meinen ersten grösseren Preis gewonnen hatte.

Damals hat mir Michał Oleszczyk als einer der Juroren empfohlen, mir den Al-Pacino-Film anzuschauen. Ob ich Bezüge zu heute herstellen wollte? Sagen wir mal so: Es war schon ziemlich lustig, dass zu der Zeit, als wir den Film drehten, in wichtiges Mitglied der ungarischen anti-LGBTIQ-Partei Fidesz verhaftet wurde, als er in Brüssel vor einer Polizeirazzia flüchtete, nachdem er an einer illegalen schwulen Sexparty teilgenommen hatte (MANNSCHAFT berichtete). Das hat meine Geschichte nur noch glaubhafter gemacht.

War es schwierig in Polen Schauspieler zu finden, die eine schwule Rolle übernehmen wollten? Überhaupt nicht. Schauspieler*innen fühlen sich von grossartigen Charakteren und guten Geschichten magisch angezogen. Wir hatten ja auch einen äusserst bekannten Regisseur, mit dem jede*r arbeiten wollte.

Wie haben Sie eigentlich Ihren Film finanziert – staatliche polnische Filmförderanstalten werden sicher kein Geld reingesteckt haben, oder? «Operation Hyacinth» ist ein Netflix Original, d. h. der Film wurde von Netflix unterstützt. Allerdings hat das Polnische Filminstitut uns auch unterstützt, soweit ich weiss durch bestimmte finanzielle Rabatte. Allerdings ist Geld nicht mein Spezialgebiet. Was erklären mag, warum ich immer noch sparen muss, um meine Wohnung zu renovieren.

(Achtung, Spoiler!) Das Ende des Films ist ein Fragezeichen und offen: Robert entschliesst sich, nicht mit seinem Liebhaber aus Polen zu fliehen. Er bleibt zurück. Warum? Ich glaube, er macht sich bereit dafür, die Konsequenzen seines Handelns zu konfrontieren. Er ist noch nicht am Ende seiner eigenen Reise angekommen, er muss noch viel mit sich selbst klären: seine Beziehung zu seinen Eltern, aber auch die mit seiner Verlobten Halinka. Vielleicht denkt er am Ende darüber nach, wie einfach es wäre zu flüchten, wenn sich so viele Kräfte gegen ihn richten. Ich möchte lieber nicht meine eigene Interpretation dieses Schlusses liefern, sondern es den Zuschauer*innen überlassen, selbst darüber nachzudenken.

Gibt es noch weitere Themen aus der polnischen LGBTIQ-Geschichte, die Sie gern zu einem Film verarbeiten würden? Was ist beispielsweise mit den gleichgeschlechtlichen Beziehungen von Frédéric Chopin im 19. Jahrhundert und mit seinen glühenden Liebesbriefen an verschiedene Männerfreunde, einige bekannte polnische Patrioten? Lohnt es, die «echten» Polen hinter der Fassade der akzeptierten Nationalgeschichte zu zeigen? Ich hoffe sehr, dass noch mehr queere Geschichten erzählt werden. Viele historischen Themen verdienen es, auf die Leinwand gebracht zu werden. Das gilt auch für die bislang ausgeblendete menschliche Seite von grossen historischen Persönlichkeiten. Jene Seite, von der wir in der Schule nie etwas hören. So etwas zu erzählen, würde den Unterricht deutlich interessanter machen! Allerdings können sich viele nicht so leicht mit Nationalmonumenten wie Chopin identifizieren. Ich glaube, «Operation Hyacinth» war möglich, weil viele sich in die Charaktere hineinversetzen konnten.

Wir sehen selten Filme über geschichtliche Ereignisse, während die Geschichte sich live entfaltet. Es dauert meist, bis wir über Ereignisse nachgedacht haben und sie einordnen können. Ich denke das «echte» Polen sind damals wie heute Menschen, die weit weniger hasserfüllt sind und von Vorurteilen besessen, als jene kleine Gruppe von gewählten politischen Repräsentanten der Welt aktuell weismacht. Diese Gruppe zwingt uns ihre Weltsicht auf, nicht weil sie selbst daran glaubt, sondern weil diese für sie vorteilhaft ist. Natürlich hat das Auswirkungen auf die Gesamtheit. Aber ich habe immer noch Hoffnung – und es hilft, die Geschichte zu kennen.

Was steht für Sie als nächstes an? Ich hatte zuletzt unglaublich viel zu tun. Wir haben 2021 eine Familienkomödie gedreht: «Detektiv Bruno». Ewa Rozenbajgier ist meine Co-Autorin, Produzentin ist wie bei «Operation Hyacinth» Joanna Szymańska. Der Film kommt nächstes Jahr raus. Ein weiterer Film, den ich geschrieben habe, ist ein Psycho-Thriller basierend auf einem in Polen sehr bekannten Buch, er soll im Frühjahr 2022 gedreht werden. Ich habe auch an einer übernatürlichen Krimiserie gearbeitet; das ist etwas sehr Neues und wahrscheinlich die Erste ihre Art in Polen. Sie wird auch nächstes Jahr gedreht. Daneben gibt’s alle möglichen Projekte. Ich mache mich also bereit für ein hektisches, aber ausgesprochen kreatives neues Jahr.

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