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Nur wenige Homosexuelle beantragen finanzielle Entschädigung

Es gibt erste Schätzungen des Justizministeriums

Regenbogenfahne
Foto: Focke Strangmann/dpa

Seit Februar können in Österreich alle Personen, die bis 2002 wegen einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher Handlungen strafrechtlich verfolgt wurden, einen Antrag auf eine finanzielle Entschädigung stellen. Bisher wurden nur 60 bis 80 Anträge gestellt

Bei einer Pressekonferenz im Vorjahr sagte Justizministerin Alma Zadić (Grünen): «Wir hoffen, dass sich ganz viele Menschen melden werden.» (MANNSCHAFT berichtete). Zadić sprach von einem «der dunkelsten, aber auch traurigsten Kapitel in Österreich».


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Damit möglichst viele Betroffene davon erfahren, war das Ministerium mit queeren Organisationen in Kontakt. Auch haben die meisten österreichischen Medien über die Initiative berichtet. Zwar sind mittlerweile viele verurteilte Personen verstorben.


Dennoch ging das Ministerium im Vorjahr von 11’000 gleichgeschlechtlich liebenden Menschen aus, die ein Anrecht auf Entschädigung haben. Für jede zu Unrecht erfolgte Verurteilung steht eine Zahlung von 3000 Euro zu, für jedes angefangene Jahr in Haft 1500 Euro. Insgesamt stellt der österreichische Staat für die Initiative 33 Millionen Euro zur Verfügung.

MANNSCHAFT hat nachgefragt, wie viele gleichgeschlechtlich liebende Menschen bislang einen Antrag gestellt haben. Das Ergebnis fällt ernüchternd aus. So teilte das Justizministerium in Wien mit: «Wir schätzen, dass im gesamten Bundesgebiet in etwa 60 bis 80 Anträge gestellt wurden.»

Wir schätzen, dass im gesamten Bundesgebiet in etwa 60 bis 80 Anträge gestellt wurden

Von den 60 bis 80 Anträgen sollen 20 in Wien, wo sich das grösste Straflandesgericht befindet, gestellt worden sein. Genauere Zahlen und auch eine Auswertung konnte das Ministerium noch nicht vorlegen. Einen Kommentar, warum sich so wenig Betroffene gemeldet haben, wollte das Justizministerium in Wien nicht abgeben.


MANNSCHAFT hat sich in der queeren Community umgehört. Demnach haben sich bislang so wenig gleichgeschlechtlich liebende Menschen gemeldet, weil das Thema für sie zu aufwühlend ist. Die Ermittlungserfahren, die Verurteilungen und die Gefängnisstrafen sind mit unendlich grossem Leid verbunden gewesen. Denn die Gerichtsverfahren waren öffentlich und sehr beschämend. Viele Betroffene erinnern daran, dass die Unrechtsgesetze auch dazu führten, dass Menschen in den Suizid getrieben wurden.


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Gleichgeschlechtlich liebende Menschen haben mit der Verurteilung in vielen Fällen nicht nur die Arbeit verloren, sondern wurden auch sozial geächtet. Sie waren dann gezwungen, an einen anderen Ort zu ziehen und sich eine neue Existenz aufzubauen. Kritiker*innen betonen ausserdem, dass die Entschädigung viel zu spät kommt.

Viele betroffene Menschen sind mittlerweile alt. Sie haben mit dem Thema ihren inneren Frieden geschlossen und wollen keine alten Wunden aufreissen. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass die finanziellen Beträge viel zu gering sind, um von einer angemessenen Entschädigung sprechen zu können.

Deutschland war mit einer ähnlichen Initiative viel früher dran. So beschloss der Deutsche Bundestag am 22. Juni 2017 ein Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung von Personen, die wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilt wurden.

Österreich orientiert sich mit der Höhe der Entschädigungszahlungen an Deutschland. Doch ähnlich wie in Österreich haben auch in Deutschland nur wenig Betroffene einen Antrag gestellt (MANNSCHAFT berichtete). Laut früheren Angaben sollen es in Deutschland 325 Personen gewesen sein.

Bis 1971 gab es in Österreich ein Totalverbot von Homosexualität (MANNSCHAFT berichtete). Demnach wurden von 1946 bis 1971 rund 14’150 Menschen verurteilt, weil sie mit Menschen desselben Geschlechts Sex hatten. Viele von ihnen sind mittlerweile verstorben und können nicht entschädigt werden. Das Unrecht ging allerdings auch nach 1971 weiter.


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In den folgenden Jahren wurden weiterhin viele schwule Männer vor Gericht gezerrt. Denn zwischen 1971 und 2002 war Österreich für schwule Beziehungen mit 18 Jahren ein höheres Mindestalter als für heterosexuelle Beziehungen (14 Jahre) vorgeschrieben. Ging damals beispielsweise ein 19-jähriger Mann mit einem 17-Jährigen eine schwule Beziehung ein, riskierte er eine Gefängnisstrafe von bis zu fünf Jahren. Zwischen 1971 und 2002 wurden wegen des höheren Schutzalters rund 26’500 schwule Männer verurteilt.

Anträge auf Entschädigung können in Österreich weiterhin gestellt werden. Dafür sollen Betroffene alle Dokumente beiliegen, «die bescheinigen, dass es zu einer Verurteilung, Freiheitsentziehung, einem Ermittlungsverfahren oder schwerwiegenden sozialen Nachteilen gekommen ist», heisst es auf der Homepage des Justizministeriums in Wien.

Auch wenn keine Unterlagen mehr vorhanden seien, bietet das Ministerium die Möglichkeit, «die Rehabilitation und Entschädigung über eigene Berichte und Aussagen von Auskunftspersonen und/oder Zeug*innen glaubhaft zu machen», so das Ministerium. «Damit soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die Prozesse und Verurteilungen teils bereits sehr lange zurückliegen.»

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