Kleinstädte laden zum CSD: Sichtbarkeit im «queeren Hinterland»
Oft geht das nicht ohne homophobe Reaktionen
Nicht nur in Berlin, auch in Rheinsberg oder Wittenberge demonstriert die LGBTIQ-Community mittlerweile für ihre Rechte. Gerade hier werden diese Veranstaltungen benötigt, sagen die Organisatoren.
Von Oliver Gierens, dpa
Abseits der Grossstadt Berlin finden sich in den kleineren Städten Brandenburgs immer mehr Menschen zusammen, die Christopher Street Days (CSD) organisieren. So etwa Freke Over: Der 56-Jährige gehört zu den Organisatoren des ersten CSD in Rheinsberg (alle anderen Pride-Termine 2024 hier!)
Over hat bereits häufiger für Schlagzeilen gesorgt: In den 1980er Jahren demonstrierte er gegen Atomkraft und NATO-Doppelbeschluss, in den 90er Jahren gehörte er in Berlin zur Hausbesetzerszene. Mittlerweile lebt er in Luhme bei Rheinsberg (Ostprignitz-Ruppin), wo er ein Ferienland betreibt.
Dass er sich für die Rechte sexueller Minderheiten engagiert, geht auf einen politischen Hintergrund zurück, wie Over im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur erzählt. Der örtliche Bürgermeister habe sich mehrere Jahre geweigert, vor dem Rathaus die Regenbogenfahne zu hissen. So sei in kleiner Runde die Idee entstanden, einen CSD zu veranstalten. Seit einigen Wochen treffe sich ein Team von rund zehn Menschen aus Rheinsberg, rund 30 Menschen gehörten einer Whatsapp-Gruppe von Interessent*innen an.
Dass es solche Veranstaltungen nicht nur in Grossstädten, sondern auch «im queeren Hinterland» brauche, erlebe er gerade in einer lokalen Facebook-Gruppe, sagt Over. Dort würden gerade «ganz absurde Debatten» über den kommenden CSD in Rheinsberg geführt. Der soll am 1. Juni über die Bühne gehen – am Internationalen Kindertag. Einige hätten nicht akzeptieren wollen, dass Kindertag und CSD am selben Tag stattfinden – ihn hätten homophobe Reaktionen erreicht, berichtet der Hotelier.
Doch Over und sein Team lassen sich davon nicht beirren. Geplant sei am Nachmittag ein Umzug vom Bahnhof aus durch die Stadt am Rathaus vorbei bis zum zentralen Triangelplatz. Dort soll es bis 22 Uhr eine Kundgebung und ein Fest geben. Entstanden sei die Initiative durch persönliche Bekanntschaften. «Man kennt sich in Rheinsberg», sagt Over. Einige Initiativen hätten sich schon angekündigt, auch von Unternehmen vor Ort gebe es Unterstützung. Der Landkreis Ostprignitz-Ruppin und andere Kommunen würden dem Vorbereitungsteam ebenfalls unter die Arme greifen.
Ich halte es für sehr wichtig, gerade in diesem Jahr für Vielfalt, Demokratie und das Recht aller auf die Strasse zu gehen und ein Zeichen zu setzen
«Ich halte es für sehr wichtig, gerade in diesem Jahr für Vielfalt, Demokratie und das Recht aller auf die Strasse zu gehen und ein Zeichen zu setzen», meint Over im Hinblick auf die anstehenden Wahlen. So werden in Brandenburg die Kommunalparlamente und der Landtag neu gewählt, landesweit liegt die AfD in Umfragen vorn. Dementsprechend hätten sie auch das Motto gewählt: «Aufstehen Hand in Hand für ein queeres Hinterland».
«In Acht nehmen müssen sich queere Menschen hier nicht», erzählt Over. Aber sie zeigten ihre Sexualität oder Geschlechtsidentität nicht offen. «Sie leben es dann eher, wenn sie nach Berlin fahren.» Unter den Einwohner*innen sei queeres Leben noch wenig sichtbar. Und die Facebook-Kommentare zeigten, dass Vorurteile und Ressentiments immer noch sehr präsent seien.
In Oranienburg (Oberhavel) ist man da bereits einen Schritt weiter. Hier organisiert das CSD-Team bereits zum zweiten Mal die Parade, erzählt Candy Boldt-Händel. Rund zehn Leute seien im Vorbereitungsteam aktiv, erzählt der Linken-Politiker. Im vergangenen Jahr habe man mit fünf, sechs Aktiven den ersten CSD in der Region nördlich von Berlin gestemmt, jetzt seien es schon ein paar mehr geworden. Durch soziale Netzwerke habe man bereits eine grössere Gemeinschaft. Auch mit dem Kreisjugendring sowie einem Jugendcafé arbeite man gut zusammen.
Zwischen 500 und 800 Teilnehmer*innen seien im September vergangenen Jahres bei dem Fest dabei gewesen. Dabei sei zwar alles friedlich verlaufen, aber im Vorfeld hat es laut Boldt-Händel eine leichte Bedrohungslage gegeben. Flyer seien verteilt worden, auf denen es geheissen habe, Homosexuelle seien eine Gefahr für das deutsche Volk. Das Oranienwerk als Veranstaltungsort habe zudem vorab Drohanrufe erhalten. «Aber vor Ort ist gar nichts passiert, die Leute waren uns wohlgesonnen», sagt der Mitorganisator.
Auch er bestätigt: Es gebe keine offen queer lebende Community in der ländlichen Region, etwa öffentliche Treffs oder Cafés. Deshalb hält er CSDs in ländlichen Regionen sogar für wichtiger als in Grossstädten wie Berlin. Sie seien häufig politischer und zeigten gerade in ländlichen Regionen eine offene Haltung. Auch in Eberswalde gebe es dieses Jahr erstmals einen CSD. Angermünde, Ludwigsfelde und Neuruppin haben ebenfalls Premiere. «Ich glaube, die ganzen kleinen CSDs ermutigen sich gerade gegenseitig», sagt Boldt-Händel.
Diese Beobachtungen bestätigt auch Jirka Witschak von der Landeskoordinierungsstelle «Queeres Brandenburg» in Potsdam. CSDs in Brandenburg würden dem Bedürfnis der Menschen entspringen, eine queere Sichtbarkeit zu erzeugen und auf die diversen Probleme in ihrer Region wie eine fehlende adäquate Beratung oder Treffmöglichkeiten aufmerksam zu machen. Zu den Paraden in Brandenburg kämen hauptsächlich Jugendliche unter 25 Jahren, sehr häufig unter 18 Jahren. «Ihnen fehlen die Möglichkeiten, in die grossen Metropolen zu fahren und dort queeres Leben zu erleben», sagt Witschak.
Ihnen fehlen die Möglichkeiten, in die grossen Metropolen zu fahren und dort queeres Leben zu erleben
Auch er bestätigt, dass queere Menschen in den ländlichen Regionen wesentlich weniger sichtbar seien. «Jugendliche trauen sich häufig gar nicht, sich überhaupt jemandem zu öffnen.»
Dagegen ein öffentliches Zeichen zu setzen, das haben sich in diesem Jahr erneut die CSD-Organisatoren in der Prignitz vorgenommen, wenn am 15. Juni die LGBTIQ-Parade durch Wittenberge ziehen wird. Die 21-jährige Vivian Ohmsen ist erstmals für die Organisation federführend zuständig. «Es gibt hier wenig Anlaufpunkte, wo man Leute kennenlernen kann», erzählt sie im Gespräch. Oft hätten Betroffene das Gefühl, sich verstecken zu müssen.
Gerade deswegen sei es wichtig, auf dem Land mit einem CSD präsent zu sein. Und das offenbar mit Erfolg: Zwischen 800 und 1000 Teilnehmende seien bei den ersten beiden Veranstaltungen dabei gewesen. In diesem Jahr geht der CSD Prignitz bereits in die dritte Runde – und hofft auf einen ähnlichen Zuspruch.
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