Joseph, die erste biblische trans Prophetin?

Ein Frauenkleid löste in der Josephsgeschichte Hass aus

Joseph wird von seinen Brüdern nach Ägypten verkauft – Ausschnitt der Darstellung aus dem Hortus Deliciarum (Bild: Wikimedia Commons)
Joseph wird von seinen Brüdern nach Ägypten verkauft – Ausschnitt der Darstellung aus dem Hortus Deliciarum (Bild: Wikimedia Commons)

Neue Interpretationen legen nahe, dass es sich bei der biblischen Figur Joseph um eine trans Person handelt. Benjamin Hermann – Theologiestudent, trans Mann und Mitarbeiter im LGBTIQ-Pfarramt der Stadt Zürich – nahm die Josephsgeschichte für MANNSCHAFT unter die Lupe.

Es war ein «vielfarbiger Rock», der den Hass von Josephs Brüdern eskalieren liess. Sie wollten ihn – so die Josephsgeschichte in der Genesis – in einer Zisterne ertränken. Als dies misslang, versuchten sie, ihn nach Ägypten zu verkaufen. Doch weshalb sorgte dieses Kleidungsstück für solche Empörung? Das fragte sich Frank Lorenz, Pfarrer der Offenen Kirche Elisabethen in Basel.

«Mindestens Crossdresser» Im Kirchenboten des Kantons St. Gallen kommt er zum Schluss: «Der Bruder war trans und das gefährdete – damals wie heute – heterosexuell identifizierte Männer in ihrem Mannsein, macht aus liebevollen Brüdern plötzlich gewalttätige Schläger, ja Mörder.» Den Schlüssel dazu hätten ihm die jüngsten Interpret*innen gegeben. Denn der Ausdruck, mit dem Josephs Rock auf Hebräisch beschrieben wird, lautet «kethoneth passim» und benennt das Kleid einer unverheirateten Prinzessin.

Für Pfarrer Lorenz ist klar: «Joseph, der Auserwählte des Ewigen, der das Schicksal der Stämme Israels wendete, er trug also Frauenkleider. Joseph, der nachmalige Vizekönig der antiken Weltmacht Ägypten, er war also trans, mindestens Crossdresser.»

Doch ist die Sache wirklich so eindeutig? MANNSCHAFT bat Benjamin Hermann, Theologiestudent, trans Mann und Mitarbeiter im «Regenbogenpfarramt» der reformierten Kirche Zürich, die Josephsgeschichte nochmals unter die Lupe zu nehmen.

«Biblische Grautöne» vorenthalten Benjamin warnt zunächst zur Vorsicht bei der Interpretation: Es sei zwar gut, dass sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten – gerade in Fragen des Queerseins – viel getan habe in der Bibelauslegung. «Trotzdem finde ich es sehr wichtig, dass wir beim Lesen der Bibel aufpassen, damit wir nicht heutige Phänomene, Vorstellungen und Konzepte auf Texte projizieren, deren Schreiber*innen aus einem ganz anderen Kontext stammen», sagt Benjamin. Ein ähnliches Phänomen gebe es auch in der Psychologie, wo man sich davon distanziert, historische Persönlichkeiten im Nachhinein zu diagnostizieren, da jede Diagnose und jedes bekannte Phänomen immer auch in einem gesellschaftlichen Kontext stünden.

Daher sei er bei der These, dass Joseph transident gewesen sein könnte, zuerst einmal vorsichtig. Wir wüssten nicht, was uns die Erzähler*in über Josephs Geschlechtsempfinden berichten wollte. Ebenso stelle sich die Frage, ob das Geschlecht im damaligen Kontext im gleichen Masse eine Identitätsfrage war wie heute.

«Was wir wissen, ist, dass es bereits in der Antike und davor Menschen gab, welche die gängigen (Geschlechter-)Normen sprengten, Crossdressing betrieben und teilweise oder ganz in die Rolle des anderen Geschlechts schlüpften.» Auch die biblischen Autoren hätten von Menschen gewusst, die von Geburt an uneindeutige Geschlechtsmerkmale hatten, was etwa einer Ehe im Weg stand. Nur wurden diese «biblischen Grautöne» jahrhundertelang von Theolog*innen vorenthalten und aus Bibelübersetzungen gestrichen.

Vater akzeptierte feminine Seite Dann spricht Benjamin einen wichtigen Punkt an, der bei Pfarrer Frank Lorenz so nicht erwähnt wird: Es war nicht Joseph, der dieses Kleid selbst wählte. Es war ein Geschenk seines Vaters. Joseph wurde ausserdem von seinem Vater kurz vor dessen Tod mit einer weiblich klingenden Formel gesegnet, wie Benjamin weiss. «Vater Jakob schien wahrzunehmen, dass sein Sohn nicht der Krieger-Typ war; er akzeptierte und unterstütze die feminine Seite seines Sohnes.»

Über Joseph wissen wir weiter, dass er von sich aus Avancen von Frauen ausschlug und dass er als besonders hübsch beschrieben wird. Seine Brüder verachteten Joseph, gerade auch sein Kleid war ihnen ein Dorn im Auge. Mit dem Wissen, dass Crossdressing als Sünde galt, erstaunt dies nicht.

Benjamin Hermann
Benjamin Hermann

Wichtiger Deutungshorizont Was lässt sich daraus schliessen? «Ich glaube, dass wir mit unserem heutigen Wissen lediglich sagen können, dass Joseph aus den gängigen Rollenbildern ausbrach. Und dass er zumindest in einer gewissen Zeit seines Lebens als Crossdresser gesehen werden kann und zwar einer mit Stolz und aufrechtem Gang», sagt Benjamin.

«Vielleicht würde sich Joseph tatsächlich als trans outen, wenn er in unserer Zeit leben würde, doch damals war und blieb er Joseph, nutzte männliche Pronomen und äusserte nie den Wunsch anders angesprochen oder behandelt zu werden.»

Auch wenn wir nie wissen werden, ob Joseph in Wahrheit eigentlich Josephine war, findet Benjamin diesen Deutungshorizont extrem wichtig. Die Bibel solle ein Resonanzraum für die Menschen sein.

Hoffnungsquelle für trans Menschen Die Josephsgeschichte erzähle letztlich von einem Menschen, der aus der Reihe tanzt und dafür gehasst wird. «Dieser Mensch harrt in der Grube aus, übersteht alle Verleumdungen und seine Zeit im Gefängnis. Am Schluss steht jedoch nicht das Leid, sondern die Fülle des Lebens», erklärt Benjamin.

Deshalb sei Josephs Geschichte eine Erfolgsgeschichte darüber, wie jemand alle Tiefen übersteht, neue Verbündete findet und schliesslich ein Leben führt, in dem er zufrieden und gesegnet ist. «Egal ob Joseph*ine trans war oder nicht – sie kann Inspiration und Hoffnungsquelle für (gender-)queere Menschen sein und das ist, was wirklich wichtig ist!»

Benjamin Hermann arbeitet im Zürcher «Regenbogenpfarramt» mit Priscilla Schwendimann zusammen, über die wir zuvor in diesem Beitrag berichtet haben.

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