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«Jetzt verbal abrüsten und nicht in Denkschubladen verlieren!»

Unsere Autorin fordert ein Umdenken

Schild an einer Strasse nach Polen im ukrainischen Grenzgebiet: Verschwinde nicht - verteidige! (Foto: Andreas Stein/dpa)

Der Krieg in der Ukraine sollte uns lehren, untereinander verbal «abzurüsten» und uns auf solidarische Strukturen zum Schutz und zur Hilfe für unsere bedrohten Mit-Menschen konzentrieren, schreibt unsere Autorin in ihrem Samstagskommentar*.

Niemals hätte ich mir träumen lassen, dass das erste Problem nach der Pandemie ein Krieg in Europa sein sollte. Nun müssen wir alle damit umgehen. Doch was bedeutet das für mich und andere queere Menschen? Im ersten Schritt können wir die Organisationen unterstützen, die sich um Flüchtende kümmern.

Ein Angriffskrieg Russlands bedeutet auch, dass die Unterdrückung der LGBTQ-Gemeinschaft, die Putin nicht erst seit November 2021 im Visier hat, mit den Aggressoren in die demokratische Ukraine getragen wird. Im November 2021 bezeichnete das Justizministerium der Russischen Föderation das Russische LGBT-Netzwerk als «ausländische Agentenorganisation ohne Rechtspersönlichkeit» (MANNSCHAFT berichtete). Im Fahrwasser einer allgemeinen Hetzkampagne, in der alle Andersdenkenden als ausländische Agenten diffamiert wurden, verbreiteten staatliche russische Medien perfide Hetzkampagnen gegen das LGBT-Netzwerk und alle queeren Menschen.

Zu Putins rückwärtsgewandtem imperialistischen Denken passt die Hetze gegen alle «anderen». Mit dem Krieg transformiert er Russland immer mehr zu einer erzkonservativen Diktatur. Das ist nicht nur für queere Menschen lebensgefährlich. Patriotismus dieser Ausprägung hat immer schon unserer LGBTIQ-Gemeinschaft geschadet. Mit der Gleichschaltung der Medien auf Kriegskurs ist ein Austausch kaum mehr möglich. Umso wichtiger ist, dass wir uns nicht in Denkschubladen verlieren – gute Ukrainer*innen und böse Russ*innen. Wirtschaftliche Boykotte sind ein gutes friedliches Mittel, eine Kriegswirtschaft zu schwächen.


Doch bei Kunst und Kultur wird es komplizierter. Wenn Festivals und Konzertveranstalter*innen pauschal russische Teilnehmende ausladen (MANNSCHAFT berichtete), ist das ein falsches Signal. Russisch sprechende Menschen berichten davon, schräg angesehen zu werden. Wir als queere Gemeinschaft sind vertraut damit, über einen Aspekt unserer Existenz als ganze Menschen abgewertet zu werden. Deshalb sind wir auch jetzt gefragt, an einer verbalen und sozialen Abrüstung und Differenzierung aktiv Anteil zu haben. Politisch und persönlich erkenne ich, dass ich in einer privilegierten Gesellschaft lebe, in der demokratische Werte wie Pressefreiheit und Meinungsfreiheit verteidigt werden.

Als lesbische Frau muss ich nicht befürchten, für meine Lebens- und Liebesform verfolgt zu werden. Dieses Privileg geht aber auch einher mit der Verpflichtung, für eben diese Werte auch in anderen Ländern einzutreten. Der Angriffskrieg in unserer unmittelbaren Nachbarschaft erschüttert mich. Aber er verstellt mir nicht den Blick darauf, dass in vielen anderen Ländern, die nicht demokratisch und freiheitlich regiert werden, durch konservative religiöse oder politische Werte queere Menschen verfolgt werden. Auf den Philippinen, in Ghana, Ungarn, Saudi-Arabien, Iran, aber auch in Teilen der USA und in vielen anderen Ländern werden LGBTIQ verfolgt, verhaftet, geschlagen und ausgegrenzt. Was kann ich schon dagegen tun? Die Frage poppt manchmal in mir auf.

Dann fällt mir ein, dass ich mein halbes Leben als lesbische Frau mich an Friedensdemos, internationalen Frauen- und Lesbentreffen und LGBTIQ-Unterstützungsnetzwerken beteiligt habe. In den letzten Jahren ist das etwas weniger geworden, weil die zunehmende Fraktionierung und Radikalisierung innerhalb der LGBTIQ-Szene viel Aufmerksamkeit forderte und mich manchmal auch verletzt und abstösst. In den eher privilegierten Ländern wurde innerhalb der Szene sprachlich «aufgerüstet». Totalitäre Forderungen wurden laut, Meinungs- und Erfahrungsaustausch über Generationen und Identitäten hinaus wurde zunehmend schwieriger.


Ich glaube, wir brauchen ein Umdenken. Der Krieg im Nachbarland, der auch bedeutet, dass sich eine LGBTIQ-feindliche Diktatur sich territorial kriegerisch ausweiten will und durch Unterdrückung im eigenen Land die Menschenrechte von LGBTIQ beschneiden will, sollte uns zum Umdenken veranlassen. Wir sollten untereinander verbal «abrüsten» und uns auf solidarische Strukturen zum Schutz und zur Hilfe für unsere bedrohten Mit-Menschen konzentrieren. In vielen Städten findet das erfreulicherweise schon statt. Bleibt uns nur, unseren Blick vom eigenen Nabel abzuwenden und uns zu engagieren.

*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar oder eine Glosse zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.


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