Hass auf LGBTIQ – Wann ist der Gegenangriff sinnvoll?

Wie reagieren, wenn man beschimpft oder attackiert wird?

27.05.2023, CSD in Hannover (Foto: Julian Stratenschulte/dpa)
Symbolbild: Julian Stratenschulte/dpa

Es ist Pride-Zeit. Queers und Allys gehen auf die Strasse. Sie zeigen sich und sie werden gesehen. Leider auch von Menschen, die angreifen wollen, mit Worten oder Fäusten. Und dann kommt es zum Dilemma: Bringe ich mich in Sicherheit oder kämpfe ich für mein Recht? Selbstverteidigungsexperte Tian Wanner weiss Rat.

Wer sich zeigt, wird gesehen. Das ist der Zweck einer Pride, eines Christopher Street Days. Als stolze Community durch die Strassen zu schreiten, gleiche Rechte einzufordern und das Leben zu feiern. Doch es sind nicht nur wohlgesinnte Menschen, die einen sehen. Allein der Anblick einer Dragqueen, einer trans Person, eines lesbischen oder schwulen Paares kann gewalttätige Personen antreiben, brutal zuzuschlagen – das ganze Jahr über und immer häufiger: 2022 sind in Deutschland die Angriffe auf über 1400 angestiegen.

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wies in ihrem «Hate Crime Reporting 2021» für Österreich 436 Fälle aus. In der Schweiz zählten die LGBTIQ-Dachverbände 2021 einen Anstieg um 50 Prozent, insgesamt fast zwei pro Woche. Wobei die Hälfte davon auf die vier Monate der Abstimmungskampagne für die «Ehe für alle» zurückging. Zahlen, die nahelegen: Je lauter die LGBTIQ-Community, desto härter trifft es sie. 2022 sind die Fälle auf fast drei pro Woche angestiegen. Doch Vorsicht mit diesen Daten. Sie sind lediglich die gemeldete Spitze des Eisberges.

Illustration: Katarzyna Zietek
Illustration: Katarzyna Zietek

Wie soll ich reagieren, wenn ich beschimpft oder angegriffen werde? Schauen wir uns dafür fünf Vorfälle aus dem vergangenen Jahr an (basierend auf den veröffentlichten Informationen). Wie haben sich die angreifenden und die angegriffenen Personen verhalten? Der Selbstverteidigungsexperte Tian Wanner beurteilt die Situationen und gibt anschliessend in einem Interview Tipps für bedrohliche Situationen.

Juni 2022 – Zürich: Vermummte greifen Abschlussgottesdienst zur Zurich Pride an Weiss vermummte Männer wollten ein weisses Holzkreuz mit Betonboden hereintragen und sich dabei filmen (MANNSCHAFT berichtete). Ein Volunteer der Zurich Pride konnte verhindern, dass die Männer in die Kirche vordrangen. Zusammen mit anderen mutigen queeren Besucher*innen des Gottesdienstes wurden die Angreifer aus der Kirche vertrieben und in die Flucht geschlagen.

Einschätzung von Tian Wanner: Wenn niemand verletzt wurde, ist das ein gutes Resultat. Gegen eine Gruppe alleine vorzugehen, ist extrem riskant und in diesem Fall scheint die Teamarbeit gut funktioniert zu haben. Allenfalls müsste man sich als Organisator*in von exponierten Events überlegen, wie man das Risiko gegenüber homo- und transphober Aggression verringern könnte, beispielsweise durch organisatorische oder personelle Massnahmen.

August 2022 – Münster: Malte C. wird beim CSD getötet Am Rande des Christopher Street Days in Münster stellte sich der trans Mann Malte C. schützend vor Teilnehmerinnen, als diese als «lesbische Huren» und «scheiss Transen» beschimpft wurden. Daraufhin wurde Malte C. zweimal mit der Faust ins Gesicht geschlagen (MANNSCHAFT berichtete). Der Angreifer ist ein ausgebildeter Boxer, Malte C. stürzte zu Boden und schlug mit dem Kopf auf. Im Krankenhaus starb er an den Folgen eines Schädelhirntraumas.

Einschätzung von Tian Wanner: Dieser Fall zeigt auf tragische Weise, was passieren kann, wenn man sich als Drittpartei in einen Konflikt mit einer bereits sehr aggressiven Person begibt. Was gut gemeint ist, kann katastrophale Folgen haben. Wer sich entscheidet, andere Personen zu schützen, sollte den Fokus darauflegen, die betroffenen Personen aus der Situation schnell und sicher wegzubringen. Am besten nicht allein, sondern als Gruppe respektive mit Einbezug von Polizei oder Sicherheitspersonal. Für die persönliche Sicherheit ist die emotionale und physische Distanz zum Aggressor überlebenswichtig.

Februar 2023 – Im niederösterreichischen Laa: Radfahrer verprügelt lesbisches Paar Die Pädagogin Bianca C. war mit ihrer Ehefrau auf dem Parkplatz. Dort soll ein Radfahrer auf das Paar zugekommen und abgestiegen sein. Anschliessend habe er sie ins Gesicht geschlagen (MANNSCHAFT berichtete). Die beiden Frauen hätten sich zur Wehr gesetzt und versucht, den Angreifer im Genitalbereich zu treffen. Heute.at zitierte Bianca C. mit den Worten: «Daraufhin stiess der Mann sogar noch Morddrohungen aus. Er schrie, dass er uns umbringen werde.» Die Frauen hätten sich ins Krankenhaus begeben, wo sie ambulant behandelt worden seien. Sie erstatteten Anzeige bei der Polizei, hiess es.

Einschätzung von Tian Wanner: Wir wissen aus dieser Schilderung nicht, was der Trigger des Radfahrers für den körperlichen Angriff war. Fast immer liegt der körperlichen Gewalt ein Auslöser zugrunde. Die erste Verteidigungslinie sollte deshalb der Versuch sein, das Gegenüber kommunikativ so weit auf Distanz zu halten, dass ein sicherer Rückzug möglich ist. Denn bevor ein Konflikt körperlich wird, gibt es meistens eine Chance, die Situation verbal zu deeskalieren oder diese mit einem taktischen Rückzug zu verlassen. Wenn es dennoch zur Gewalt kommt, helfen nur noch offensive und brachiale Vorgehensweisen. Diese müssen trainiert werden. Ob eine Anzeige das richtige ist, müssen die Betroffenen situativ selbst entscheiden. Ich empfehlen es, denn gewalttätiges Verhalten sollte man nicht durchgehen lassen.

März 2023 – Berlin: Schwules Paar homo­feindlich beleidigt und bedroht Vor einem Baumarkt sollen zwei Männer das Aussehen und die Beziehung eines Mannes und seines gleichaltrigen Lebenspartners «negativ kommentiert» haben, teilte die Polizei mit. Im Rahmen eines daraus folgenden Streitgesprächs soll das Paar bedroht und homophob beleidigt worden sein (MANNSCHAFT berichtete). Das tatverdächtige Duo flüchtete zunächst mit einem Auto, konnte jedoch durch alarmierte Einsatzkräfte festgestellt und identifiziert werden. Nach Aufnahme ihrer Personalien konnten die beiden Männer ihren Weg fortsetzen.

Einschätzung von Tian Wanner: Ein Streitgespräch oder hitzige Diskussionen führen selten zum gewünschten Erfolg. Homophobe Aggressoren werden nicht von ihrer Meinung ablassen, sondern in den meisten Fällen noch aggressiver zurückgeben. So unschön es ist, verbaler Gewalt ausgesetzt zu sein: Das Sicherste ist es in den meisten Fällen, klare Grenzen zu setzen, die emotionale und körperliche Distanz zu wahren und die Situation zu verlassen. Der möglichst frühzeitige Einbezug der Polizei ist oftmals sinnvoll, um eine eigene Gefährdung zu minimieren. Allerdings gibt es keine Garantie, dass die Polizei auch innert nützlicher Frist kommen kann. Deshalb sollte der Umgang mit und das Verhalten in solchen Situationen trainiert werden.

Das kannst du tun, wenn du verbal angegriffen wirst. Oder: 5 Massnahmen bei einem verbalen Angriff

#1 Wende dich ab: Versuche, wenn möglich, dich von der angreifenden Person zu entfernen und ihr keine Aufmerksamkeit zu schenken. Lass dich nicht provozieren und begib dich nicht auf das Niveau der angreifenden Person.

#2 Bleib gelassen: Bleib ruhig und gelassen, auch wenn die Worte beleidigend oder verletzend sind. Versuche, nicht zu reagieren oder in eine verbale Auseinandersetzung zu geraten.

#3 Setze Grenzen: Teile der angreifenden Person in ruhigem Ton mit, dass du nicht bereit bist, dich beleidigen oder diskriminieren zu lassen und dass sie aufhören sollte. Es ist wichtig, klare Grenzen zu setzen und zu zeigen, dass das Verhalten inakzeptabel ist.

#4 Hol dir Hilfe: Wenn du dich unsicher oder bedroht fühlst, kannst du versuchen, Hilfe von Passant*innen oder der Polizei zu bekommen. Wenn möglich, versuche die dich angreifende Person zu identifizieren oder ihr Verhalten zu dokumentieren.

#5 Suche Unterstützung: Trag zu dir Sorge in der Zeit nach dem Angriff. Wende dich an Hilfsgruppen oder psychologische Fachkräfte.

Februar 2023 – Zürich: Dragqueens brutal niedergeschlagen Die Dragqueen Vio la Cornuta war an einer Club-Eröffnung in Zürich im Einsatz. Nach einer langen Nacht machten sich Vio, zwei andere Dragqueens, eine Frau und ein Mann auf den Nachhauseweg Richtung Hauptbahnhof. Die Gruppe wurde von drei Männern angepöbelt und beleidigt (MANNSCHAFT berichtete). Es fielen Worte wie «Scheisstr*nsen», «Schwu**teln» und «Schwa**lutscher». «Als eine Kollegin sich verbal dagegen wehrte, fing die Schlägerei an», berichtet Vio la Cornuta. «Die drei Männer sprangen wie die Irren auf uns los. Auf drei von uns haben sie brutal eingeschlagen.»

Eine Kollegin von Vio la Cornuta, Miss Miss Chris, habe durch die Schläge eine Platzwunde am Hinterkopf, eine Gehirnerschütterung, eine aufgeplatzte Lippe und ein gebrochenes Handgelenk erlitten. Sie werde voraussichtlich sechs Wochen nicht mehr arbeiten können. Einer anderen Kollegin haben die Täter in den Bauch getreten, was zu starken Unterleibsschmerzen führte.

Geholfen hat uns niemand, obwohl noch andere Leute in der Europaallee waren

Vio la Cornuta habe laut um Hilfe geschrien, womit sie die Angreifer letztlich vertreiben konnte. «Geholfen hat uns niemand, obwohl noch andere Leute in der Europaallee waren.» Nachdem die Täter weg waren, schilderten die fünf den Vorfall unverzüglich der Polizei. Die Polizistin am Telefon fragte dann, ob die Täter noch vor Ort wären. Als man dies verneinte, meinte sie, dass die Gruppe heimfahren und am nächsten Tag auf der Wache Anzeige erstatten könne. Doch da die Angreifer ebenfalls Richtung Bahnhof rannten, hatten Vio und ihre Kolleginnen Angst vor einem erneuten Aufeinandertreffen.

Einschätzung von Tian Wanner: Sich verbal zur Wehr zu setzen, fühlt sich richtig an. Wir wollen uns nicht alles gefallen lassen. Leider geht das meistens auf Kosten der Sicherheit. Denn wenn eine Gruppe rumpöbelt und beleidigt, werden sich diese Personen kaum davon überzeugen lassen, dass sie falsch liegen. Im Gegenteil: Zurückzupöbeln kann zu körperlicher Aggression führen. Besser wäre es, klare Grenzen zu setzen: «Lassen Sie mich in Ruhe, ich will nicht mit Ihnen sprechen!» und dann den Rückzug anzutreten. Bei Passant*innen um Hilfe zu bitten, kann funktionieren – aber oft bringt es leider nichts. Besser wäre es, direkt die Polizei zu rufen. Für eine sichere Rückkehr wäre allenfalls eine Taxifahrt zielführender als das Risiko einzugehen, den Aggressoren noch einmal zu begegnen oder sogar von ihnen verfolgt zu werden. 

Tian Wanner (Bild: zVg)
Tian Wanner (Bild: zVg)

Tian Wanner ist Trainer für Deeskalation, Selbstbehauptung und Selbstverteidigung. Er gibt Workshops im gesamten DACH-Raum, um Menschen mehr Selbstsicherheit im Umgang mit Konflikten zu geben.

Überlege dir vorher, wie du dich verhalten solltest

Tian, wie unterscheidet sich die Selbstverteidigung für queere Menschen von der für andere Gruppen? Queere Personen sind leider besonders oft Anfeindungen ausgesetzt. Es gibt Subkulturen, die getriggert durch «buntere» optische Erscheinungsbilder bereits massive Aggressionen zeigen, insbesondere wenn sie in Gruppen unterwegs sind. Diese Diskriminierungserfahrung kann für die Betroffenen äusserst einschränkend und belastend sein.

Wie wichtig ist es eine gute körperliche Verfassung zu haben, um sich verteidigen zu können? Fitness ist zweitranging. An erster Stelle steht der Wille, die eigene Sicherheit an die oberste Stelle zu setzen.

Welche Techniken der Selbstverteidigung empfiehlst du? Für die körperliche Selbstverteidigung unterrichten wir ausschliesslich einfache und effektive Techniken, die auch im Hochstress einer Auseinandersetzung noch abrufbar sind. Grobmotorische und brachiale Angriffe auf Augen, Kopf und Genitalbereich haben die grösste Wahrscheinlichkeit zu funktionieren. Noch wichtiger ist allerdings die Fähigkeit, problematische Situationen frühzeitig zu erkennen und diese vermeiden oder lösen zu können. Deshalb muss ein praxisnahes Selbstverteidigungstraining auch Gewaltprävention, Deeskalation und Selbstbehauptung umfassen.

Was sind die häufigsten Angriffsmuster, denen queere Menschen ausgesetzt sind, und wie können sie sich dagegen verteidigen? Queere Personen sind besonders oft verbaler Gewalt ausgesetzt. Hier sollte sich jede*r überlegen, ob und wie ein Streitgespräch sinnvoll ist oder ob allenfalls andere Methoden wie beispielsweise Abgrenzung, Unterstützung holen oder Rückzug mehr Sicherheit bieten würden. Wenn jemand mit Hass kommt, den er über Jahre mit sich trägt, wie wahrscheinlich ist es, dass er diesen in der Konfliktsituation ablegt?

Was empfiehlst du, um die eigene Sicherheit zu erhöhen, wenn man allein unterwegs ist? Lerne Deeskalation, Selbstbehauptung und Selbstverteidigung. Das hilft dir dabei, in gefährlichen Situationen eine sicherheitsorientierte Entscheidung zu treffen, anstatt im Falle einer Bedrohung «irgend etwas» zu machen. Ansonsten: Vertraue deinem Bauchgefühl. Wenn sich etwas falsch anfühlt, ist es falsch. Geh so schnell wie möglich weg.

Was sind einige der häufigsten Fehler, die Menschen bei der Selbstverteidigung machen, und wie können queere Menschen diese vermeiden? Versuchen «Recht» zu haben, anstatt eine Lösung in der Situation zu finden. Zu lange warten, statt sich zu entziehen. Körperliche Angriffe gar nicht oder nicht genügend zu kontern. Am besten vermeidest du diese Fehler, indem du dir bereits vorher überlegst, wie du dich in solchen Situationen verhalten solltest. Die perfekte Verteidigung ist, wenn nichts passiert. Und: Das Training von moderner Selbstverteidigung hilft!

Selbstverteidigung für Queers: Freitag, 28. Juli, Bern, 9:00 bis 16:00

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