«Gewinnt Russland, werden wir um Jahre zurückgeworfen»
Der Krieg könne die Wahrnehmung von LGBTIQ in der Ukraine verändern
Der Ukrainer Mykola flüchtete vor der russischen Armee in die Schweiz, noch bevor der Krieg anfing. Der 20-jährige LGBTIQ-Aktivist spricht im Interview mit MANNSCHAFT+ über das Schwulsein in der Ukraine, über seine Zukunftsvision und den Hass auf russische Soldaten.
MANNSCHAFT: Wie sah dein Leben vor dem Krieg aus? Mykola: Ich bin in einem kleineren Vorort von Lwiw aufgewachsen, das ist eine Stadt ganz im Westen der Ukraine mit etwa 800’000 Einwohner*innen. Vergangenes Jahr zog ich dann in eine Mietwohnung im Stadtzentrum. Zurzeit stehe ich kurz vor meinem Bachelor-Abschluss und habe bereits einen Job in der IT-Branche. Auch wenn mein Alltag vielleicht unspektakulär klingt, genoss ich ihn sehr: freitags mal ein Bier mit Freunden, Spaziergänge an meine Lieblingsorte mit der Playlist, die gerade zu meiner Laune passte. Und Abende voller Lektüren, die mich daran erinnerten, dass ich ja eigentlich noch Student bin.
Dann wurde dieser friedliche Alltag gestört. Anfang Jahr gab es erste Alarmzeichen: russische Soldaten an unserer Grenze, Drohungen der russischen Regierung. Dazu kommt der seit 2014 andauernde Konflikt im Osten des Landes. Die Aufforderung an die Botschafter*innen, das Land zu verlassen, war für mich schliesslich das ultimative Warnsignal. Ich fragte meinen Arbeitgeber, ob ich zwei, drei Monate aus dem Ausland arbeiten könne.
Was war dein Plan? Einen guten Freund in Zürich zu besuchen, den ich übers Internet kennengelernt, aber noch nie persönlich getroffen hatte. Nach ein bis zwei Wochen sollte mich die Reise nach Polen führen, wo mein Vater lebt. Doch bald war es so, als ob sich mein Gehirn an die ständige Angst gewöhnt hätte. Dass ein Krieg ausbrechen könnte, schien mir unplausibel, meine Angst davor übertrieben. Da das Ticket schon gekauft und die Reise geplant war, wollte ich dann trotzdem nicht auf diese Gelegenheit verzichten. Der Besuch war anfangs sehr schön – doch in derselben Woche fing tatsächlich der Krieg an. Ich versuchte den ganzen Tag, mit meinen Freund*innen in meiner Heimat in Kontakt zu bleiben und las von morgens bis abends nur noch die News.
Was löste das in dir aus? Es war absolut niederschmetternd, zu sehen, wie Bomben auf Städte voller Menschen fielen. Meine Familie lebt zum Glück im Ausland und die meisten meiner Freund*innen sind in Lwiw, wo es keine grösseren Attacken gab. Einzig ein guter Freund von mir ist aus Mariupol. Diese Stadt ist mittlerweile fast vollständig zerstört. Es gelang ihm glücklicherweise, nach drei schlimmen Wochen von dort wegzukommen.
Du bist jetzt natürlich in Zürich geblieben. Konntest du dich in diesen zwei Monaten einleben? Ich habe mich bei einigen Projekten als Freiwilliger gemeldet. Beispielsweise übersetze ich offizielle Nachrichten für ausländische Medienanstalten. Ausserdem arbeite ich für die ukrainische «IT-Army» und bekämpfe Hackerangriffe aus Russland. Besonders stolz bin ich, im Steering Comitee des LGBTQ Emergency Fund for Ukraine zu sein. Es geht mir besser, wenn ich Leuten helfen kann und dabei diesen Zusammenhalt spüre.
Du warst ja bereits in der Ukraine als LGBTIQ-Aktivist tätig. Das ist richtig. Ich arbeitete zweieinhalb Jahre lang für das «Educational Center for Human Rights» (ECHR) in Lwiw. Dieses NGO beschäftigt sich mit LGBTIQ-Menschen, kümmert sich aber auch um andere Minderheiten und Themen wie Rassismus und psychische Gesundheit. Ich war als Übersetzer, in erster Linie jedoch als Illustrator aktiv. Ich mag sehr, wie man dort mit den Menschen kommuniziert; nämlich unaufdringlich mit aufklärerischen Aktivitäten. Das ist wohl noch immer die beste Art, LGBTIQ-Anliegen in der Ukraine zu thematisieren.
Wie war denn die Situation für die Community vor dem Krieg? War es wie in Russland sehr gefährlich, offen schwul zu leben? Die Situation war irgendwie unklar, aber bestimmt nicht so schlimm wie in Russland. An unseren ersten eindeutig queeren Veranstaltungen baten wir die Polizei, in Alarmbereitschaft zu sein – zum Glück passierte nie etwas. Es gibt noch viel Diskriminierung, aber es bessert sich. Das kann man etwa an der Entwicklung der Kyiv Pride in der Hauptstadt sehen: 2012 musste sie aus Angst vor Gewalt abgesagt werden, 2015 waren dann 250 mutige Menschen dabei. Im letzten Jahr waren es schon mehrere Tausend Leute. Auch das Gesetz spiegelt die Situation in der ukrainischen Gesellschaft wider: Es gibt kein Verbot von Homosexualität, es gibt aber auch keinen rechtlichen Schutz vor Diskriminierung. Den meisten Leuten ist es ziemlich egal, wenn du schwul bist. Die Jungen zieht es – genau wie mich – vielfach in die Städte, wo die Akzeptanz in der Regel grösser ist.
Hast du auch Angst, dass ein Sieg Russlands all diese Fortschritte der LGBTIQ-Community zunichtemachen könnte? Gewinnt Russland, wird der Fortschritt um Jahre zurückgeworfen. Doch das wird nicht passieren, davon bin ich überzeugt. Aber nur schon die Ziele sind wegen des Krieges innerhalb der Community wie in der gesamten Ukraine mittlerweile ganz andere: Es geht einfach nur ums Überleben. Alle vorhandenen Ressourcen werden für diesen Kampf eingesetzt. Selbst nach unserem Sieg wird es grosse soziale und kulturelle Herausforderungen geben, die allerdings auch eine Chance sein können.
Wie meinst du das? In einer kurzen Zeitspanne nach dem Sieg wird es die Gelegenheit geben, die Werte der neuen Ukraine zu definieren. Bekannte queere Persönlichkeiten können der Gesellschaft aufzeigen, wie die neue Ukraine aussehen könnte und wie es von dann an sein würde, als LGBTIQ-Person in der Ukraine zu leben. Dies könnte die Wahrnehmung von LGBTIQ in meiner Heimat fundamental verändern. Das gilt ebenso für die zahlreichen LGBTIQ-Menschen, die unser Land verteidigt haben und ihre Geschichte mit der Öffentlichkeit teilen werden.
Wie siehst du deine persönliche Zukunft? Wie sieht dein Leben etwa in einem Jahr aus? Das ist eine schwierige Frage… Ich war in den letzten Monaten mit so vielen schicksalshaften Entscheidungen konfrontiert, dass ich nicht genau sagen kann, wie diese meine Zukunft beeinflussen. Mit Sicherheit werde ich dann immer noch Ukrainer sein. Das ist etwas, das für immer in meinem Herzen bleiben wird. Vorerst verweile ich in der Schweiz und suche einen Job. Natürlich verfolge ich weiterhin die Nachrichten aus der Ukraine. Es wird immer noch viel Hilfe benötigt und wenn ich zumindest ein paar Menschen unterstützen kann, ist das meine Bemühungen wert. Nach dem Sieg will ich mich dafür einsetzen, dass die Stimmen der LGBTIQ-Aktivist*innen gehört werden – für eine bessere Zukunft in einem wiederaufgebauten Land.
Fühlst du Hass gegenüber der russischen Bevölkerung? Oder gegenüber den Soldaten und Putin? Ich bin Pazifist. Die Vorstellung von Hass ist für mich nicht fassbar. Um ehrlich zu sein, hatte ich deshalb grosse Mühe mit der radikalen Rhetorik meiner Freund*innen nach dem Kriegsausbruch. Ich hielt ihre harten Aussagen über die Russ*innen fast nicht aus. Doch dann beschäftigte ich mich immer mehr mit dem Thema und fing an, zu verstehen, was sie meinten. Ich konnte das anfangs nicht sehen, weil ich nicht dort war.
Du siehst es heute also anders? Ich verspüre noch immer keinen Hass. Eher Wut mit einem kühlen Kopf. Das hilft mir, zu verstehen, dass es nicht nur um Putin und die Soldaten geht. Das schreckliche Morden und Vergewaltigen, das macht nicht Putin selbst, das ist ein tiefverwurzelter Hass. Eine unabhängige Umfrage zeigte, dass über 70 Prozent der Russ*innen stolz sind auf den Krieg in der Ukraine. Das ist verrückt. Es liegt am System, das von der Gesellschaft gebaut und gestützt wurde. Natürlich geschah dies unter Zwang und mit dem Druckmittel der Angst. Dennoch sind es ja nur ein paar Dutzend Leute gegen etwa 145 Millionen Menschen, die frei sein könnten. Ich denke, dass schliesslich alle Russ*innen mitverantwortlich sind für das Böse, das meinem Land widerfährt.
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