Peinlich: Eine LGBTIQ-Community, die Menschen mit Behinderung ausgrenzt

Wenn behauptete Diversität nur eine Lüge ist

Ryan O’Connell (re) in «Special» (Foto: Netflix)
Ryan O’Connell (re) in «Special» (Foto: Netflix)

Eine queere Community, die Menschen mit Behinderung ausgrenzt, ist peinlich. Die von ihr dahin behauptete Diversität ist eine Lüge. Die queere Community muss sich öffnen für Menschen mit Behinderung, meint Stefan Hochgesand in seinem Samstagskommentar*: an analogen Party-Orten und auch im digitalen Safer Space.

«Bist du schwul, oder was?» ist auf dem Pausenhof und in der U-Bahn gleichermassen beliebt als Beschimpfung wie die Frage «Bist du behindert?» Stellt man die Hater zur Rede, beteuern sie oft (wenn sie nicht total aggro drauf sind), dass sie damit gar nicht wirklich «schwul» oder «behindert» meinen würden, sondern dass sie «schwul» und «behindert» einfach als Synonym für scheisse meinen. Umso schlimmer! Die vermeintliche Ausrede der Hater, die alles entschuldigen soll, entlarvt erst recht, wie hässlich sie die Worte meinen. Dass in dieser «Logik» alles, von Hausaufgaben bis Corona, «schwul» oder «behindert» sein kann, macht es ja nicht besser. In jedem Fall wird klar, dass «schwul» und behindert» in jeder Hinsicht unerwünscht sind bei jemandem, der so redet. Wie sollen sich schwule Menschen mit Behinderung fühlen?

Lange hab ich keine Queers mit Behinderung gekannt. Auch wenn ich mich auf Partys, etwa im SchwuZ in Berlin-Neukölln, immer gefreut habe, wenn da der Tanzboden offen für Menschen im Rollstuhl war. Manchmal kam mir im Discolicht kurz der Gedanke, dass die Nazis schwule und behinderte Menschen beide planvoll umbrachten – und dass ich zum Glück in einer anderen Zeit lebe. Aber wirklich Kontakt hatte auch ich nicht – bis ich im Sommer einen schwulen Jungen mit Gehbehinderung kennengelernt habe. Ich habe ihn zu mir hoch in den vierten Stock getragen. Mit dem Rollator hätte er das nicht gepackt. In meiner Wohnung ist er gekrabbelt bis zum Sofa, wo wir uns dann unterhielten. Er ist witzig, lieb und hat einen ganz schönen coolen Instagram-Account.

Was er mir erzählt hat, hat mich schockiert: dass er noch nie ein Date hatte; dass Männer ihn auf Grindr prompt blockieren oder ghosten, wenn er ihnen von seiner Behinderung erzählt. Warum sind wir so hässlich?

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu spricht von einem «loi de conservation de la violence», einem Gesetz der Gewaltkonservierung: Wer selbst Gewalt erfährt, neigt dazu, diese an andere weiterzutragen. Sprich: Queers ohne Behinderung, die Diskriminierung erfahren haben, grenzen dievermeintlich «noch Schwächeren» aus: die Queers mit Behinderung. Die Begrifflichkeit von Bourdieu neigt hier allerdings zur Entschuldigung: als hätte man es mit einem quasiphysikalischen Naturgesetz zu tun.

Tatsächlich haben wir Queers es aber in der Macht, an unserem Verhalten etwas zu ändern. Auch wenn wir Sprüche darüber mitbekommen, dass etwas «behindert» sei. Wenn eine queere Bar oder eine queere Disco es unmöglich macht, dass Menschen mit Behinderung klarkommen. Wenn gelästert wird im Freund*innenkreis. Eine queere Community, die Menschen mit Behinderung ausgrenzt, ist peinlich. Die von ihr dahin behauptete Diversität ist eine Lüge. Die queere Community muss sich öffnen für Menschen mit Behinderung: an analogen Party-Orten und auch im digitalen Safer Space.

Das Problem hat allerdings noch eine andere Seite: Menschen mit Behinderung wird oft auch von anderer Seite aus das Recht auf Queerness, überhaupt auf Sexualität abgesprochen. Der Junge, denich kennengelernt habe, wird von Freund*innen und Familie supportet, was sein Schwulsein angeht.Das ist allerdings längst nicht immer so. Wir müssen als Community Menschen mit Behinderung willkommen heissen. Schluss mit dem Hass auf den Date-Portalen.

Mehr Serien auf Netflix und Amazon Prime mit LGBTIQ-Charakteren

Ich selbst bin auch noch am Anfang eines Lernprozesses. Ich will mehr sehen und erfahren. Ich freu mich auf die zweite Staffel der Netflix-Serie «Special», eine Dramedy in kurzen Episoden, über Ryan, einen schwulen jungen Mann mit Behinderung (MANNSCHAFT berichtete). Das Drehbuch stammt von Ryan O’Connell, der auch die Hauptrolle spielt – und dabei auf seinen Erfahrungsschatz als schwuler Mann mit Behinderung zurückgreifen kann. Mehr davon! Selbst die Serien, die sich viel Diversity auf die Fahnen schreiben, zeigen selten Menschen mit Behinderung. «Sex Education», aus anderen Gründen zurecht vielgelobt, zeigt einen Jungen mit Behinderung, doch der ist dann gleich ein Bösewicht. Warum?! Wobei man darüber vielleicht sogar streiten kann: Immerhin ist er damit glasklar kein «Opfer», sondern selbstermächtigt. Trotzdem scheint mir das zu negativ aufgeladen, solang es noch so wenige Charaktere mit Behinderung in den Medien gibt.

Viel zu erfahren gibt’s bestimmt auch 2022 in Berlin im Schwulen Museum bei der Ausstellung «Queering the Crip, Cripping the Queer», kuratiert vom Autor und Professor Kenny Fries, der selber schwul ist und eine Behinderung hat. «Es ist interessant zu sehen, wie ähnlich queere Menschen und Menschen mit Behinderungen behandelt und betrachtet wurden», hat Fries der Siegessäule im Interview gesagt. Andererseits sei er in einer Gruppe von Menschen mit Behinderung immer «der Schwule» – und in einer Gruppe von Schwulen immer «der Behinderte». Wenn wir «queer» sagen und damit nur «queer ohne Behinderung» meinen, haben wir nichts verstanden. So lange sind wir Hass-Opfer und Handlanger der heteronormativen, normalnormativen Schmalspurdoktrin.

*Die Meinung der Autor*innen von Kolumnen, Kommentaren oder Gastbeiträgen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.

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