«Ein seriöser Film über Sexualität»: 50 Jahre «Deep Throat»

Der Porno-Klassiker mit Linda Lovelace kam 1972 ins Kino, ein Jahr nach dem schwulen Pionierfilm «Boys in the Sand»

Linda Lovelace auf dem Originalposter von «Deep Throat», 1972 (Foto: Wiki Commons)
Linda Lovelace auf dem Originalposter von «Deep Throat», 1972 (Foto: Wiki Commons)

Andere Filmstars hatten einen Agenten, Linda Lovelace hatte einen Zuhälter. Der Oralsex-Porno «Deep Throat» von 1972 ist der wohl merkwürdigste Meilenstein der Filmgeschichte. Arte erklärt, warum. Ein Bericht von Christof Bock.

Kann man sich das heute noch vorstellen? Will man es sich überhaupt heute noch vorstellen? Volle Kinosäle, meist mit eher männlichem Publikum, viele aus dem besten Mittelstand. Und vorne auf der Leinwand ein Mann mit Arztkittel und Schnauzbart, der erschrocken eine absurde Diagnose stellt: «Linda! Ihre Klitoris sitzt tief unten in der Kehle.» Und der prompt Oralsex mit seiner beseelten Patientin treibt.

Die DVD-Ausgabe von «Deep Throat» in der «deutschen Sprachfassung» (Foto: Momentum Pictures)
Die DVD-Ausgabe von «Deep Throat» in der «deutschen Sprachfassung» (Foto: Momentum Pictures)

So mancher Zuschauer reagierte bei den sehr expliziten Szenen geschockt. Der Hardcore-Porno «Deep Throat» – grösster Skandalfilm und Kassenschlager des Jahres 1972 – beschäftigt noch heute Cineasten wie Geschichts- und Sexualwissenschaft. Kurz vor dem 50. Geburtstag des Machwerks erläutert Arte in seiner Doku «Deep Throat – Als der Porno salonfähig wurde», warum dieser Streifen auch 2022 als wichtig gilt.

Die Schwulen waren schneller Er kam ein Jahr nach dem schwulen Pornoklassiker «Boys in the Sand» von Regisseur Wakefield Poole in die Kinos – womit hier die schwulen Pornografen ihren Heterokolleg*innen deutlich voraus waren. «Boys in the Sand»  war zugleich der erste Pornofilm, der in der New York Times mit einer Anzeige beworben und von Branchenblättern wie Variety rezensiert wurde – vernichtend, aber immerhin. (MANNSCHAFT berichtete über den Tod von Wakefield Poole und sein cineastisches Erbe.)

Die Anzeige für «Boys in the Sand», die 1971 in der New York Times zu sehen war (Foto: Wiki Commons)
Die Anzeige für «Boys in the Sand», die 1971 in der New York Times zu sehen war (Foto: Wiki Commons)

US-Historiker Whitney Strub sieht es im sehenswerten Dokumentarfilm von Agnès Poirier (Mittwoch, 22.05 Uhr) so: «Obwohl ‹Deep Throat› in vielerlei Hinsicht albern ist, ist er ein seriöser Film über Sexualität. Zu einer Zeit, als Amerika versuchte, herauszufinden, was sexuelle Revolution ist und was sie für den Alltag bedeutete.»

«In den 70ern legte kaum jemand Wert auf den Orgasmus der Frau» Die Produktion, die von dem filmbegeisterten Damenfriseur Gerard Damiano gedreht und von der Mafia bezahlt wurde, hat laut Strub nämlich einen genialen Dreh: Indem sie das weibliche Lustzentrum gaga-artig in den Hals versetzte, machte sie die Klitoris überhaupt erstmals zum Thema. (MANNSCHAFT berichtete über den neuen Tugendterror in den App-Stores, der viele erkämpfte Fortschritte der 70er-Jahre wieder rückgängig macht.)«In den 70ern legte kaum jemand Wert auf den Orgasmus der Frau. Nein, das war völlig unwichtig», erinnert sich Sexfilm-Darstellerin Annie Sprinkle. «Doch genau das ist die Geschichte dieses Films.» Regisseur Damiano hatte sich beim Frisieren jahrelang Kundinnenkummer angehört.

Hauptdarstellerin Linda Lovelace (1949-2002) stolperte ins seltsame Projekt inmitten von Jahren eines grausigen Ehe-Martyriums. Ihr Mann, der frühere Nachtclubbesitzer Chuck Traynor (1937-2002), war zugleich ihr Zuhälter und verkaufte seine Frau immer wieder für billigste Pornoproduktionen. Bei manchen besonders widerlichen Drehs habe er sie sogar mit dem Revolver bedroht, schrieb sie später in ihrer Autobiografie «Ich packe aus».

Lovelace hatte solche Abgründe erlebt, dass sie das hastige «Deep Throat»-Projekt in Florida als Aufstieg wahrnahm.

Sex sollte mehr sein als ein bisschen Kribbeln

Und sie legte enormes Gefühl in die wenigen dürftigen Dialoge. Linda beklagt sich in dem Film bei ihrer Freundin am Pool sitzend: «Sex sollte mehr sein als ein bisschen Kribbeln. Es sollten Glocken läuten, Dämme brechen, Bomben explodieren, irgendwas halt.»

Höhepunkt mit Glocken und Feuerwerk Porno-Regisseurin Paulita Pappel hat in dem Sexfilm viel gelacht, war aber über eine Szene doch sehr erstaunt: «In dem Moment des Orgasmus, wo sie endlich mal kommt, sehen wir Bilder von Glocken, Feuerwerk und so weiter. Das ist von der filmischen Perspektive her gesehen interessant. Denn es ist eigentlich nicht das, was der Pornokonsument sehen will.» (MANNSCHAFT berichtete über den aktuelle Streit mit Online-Pornoportalen zum Thema Jugendschutz.)

Pappel sieht aber auch andere bemerkenswerte Aspekte an dem Film. «Man könnte es auch aus einer anderen Perspektive sehen. Oralsex ist eine Praxis, wo zum Beispiel eine Frau nicht schwanger werden kann. Und somit hat es auch emanzipatorisches Potenzial.»

Dieser Sichtweise mag sich nicht jeder anschliessen. In den frühen 1970ern lösten alle diese beabsichtigten oder unbeabsichtigten Botschaften des Film aber Riesendebatten aus.

Zensur und queere Sichtbarkeit In den USA hatte die Zensur gerade ihren Schrecken verloren. Hatten die obersten Gerichte zehn Jahre zuvor noch Klassiker aus dem 19. Jahrhundert als obszön gebannt, hatten sie inzwischen nach immer neuen Prozessen resigniert. Und oft den Bürgern überlassen, was man obszön finden kann. In dieser Situation stieg die 23-jährige Lovelace zum ersten Pornostar auf. Sie fand sich unversehens als Ikone der sexuellen Revolution wieder.

Auch Casey Donovan, der Star aus «Boys in the Sand» wurde zu einer Ikone der Gay-Liberation-Bewegung. Er starb 1987 an AIDS. Über ihn wurde bislang noch keine Doku gedreht – und Arte widmete dem wichtigen Phänomen der schwulen Pornobranche bislang auch noch keine eigene Doku. Trotz aller Bekundungen zu Diversität und Offenheit.

Poster zur Ausstellung «Porn That Way» 2014 (Foto: Schwules Museum Berlin)
Poster zur Ausstellung «Porn That Way» 2014 (Foto: Schwules Museum Berlin)

Immerhin wurde das Thema vom Schwulen Museum Berlin in der Ausstellung «Porn That Way» aus erweiterter LGBTIQ-Perspektive behandelt. Einen Katalog zur Ausstellung konnte sich das Museum 2014 leider nicht leisten, obwohl die Schau selbst ein Publikumserfolg war und viele Besucher*innen nach einer Veröffentlichung fragten.

 

Das könnte dich auch interessieren