Coming-out in der Arbeiterklasse: «Die Stimmung wurde gelöster»
Was haben eine trans Installateurin, ein schwuler Gärtner und eine lesbische Tontechnikerin gemeinsam?
Oft sind queere Menschen mit medialer Präsenz entweder Akademiker*innen oder Kunstschaffende wie zuletzt der Schauspieler Vladimir Burlakov (MANNSCHAFT berichtete). Dadurch kann das verzerrte Bild entstehen, dass die Arbeiterklasse eine ziemlich cis-heterosexuelle Sache ist. Die folgenden drei Menschen beweisen das Gegenteil.
Was haben eine trans Installateurin, ein schwuler Gärtner und eine lesbische Tontechnikerin gemeinsam (neben der Tatsache dass alle drei queer sind)? Genau, keine*r von ihnen hat je einen Uniabschluss gemacht.
Die Technikerin heisst Florina Diemer, die aktuell in einem Konzertlokal tätig ist, in dem sie gastierende Musiker*innen und Bands betreut. «Viele Menschen stellen sich darunter einen unglaublich spannenden Job vor – aufregende Gäste und Rock ’n’ Roll», lacht sie, «in Wirklichkeit gehts aber mehr ums Kabelverlegen». Die 31-jährige erscheint an unserem Treffen zwar ohne Schirm, aber mit viel Charme und einem Cap. Als wir zusammen am Fluss sitzen, erzählt sie, sie habe in ihrem Leben immer wieder gleichgeschlechtliche Beziehungen gehabt und bei der Arbeit nie ein Geheimnis daraus gemacht. Ihr Coming-out hatte sie schon mit 15, also vor ihrem ersten Stellenantritt. Generell habe sie die interessante Beobachtung gemacht, dass viele männliche Mitarbeiter froh seien, eine lesbische Kollegin zu haben. Sie würden sich mit ihr eher trauen, herumzutollen oder körperlich nahe zu sein, als mit einer Heterofrau.
«Ausserdem habe ich immer in toleranten Betrieben wie Jugendkulturhäusern oder Kulturzentren gearbeitet, in denen ich nie Anfeindungen befürchten musste. Das ist ein Privileg, denn in grossen, kommerziellen Unternehmen gehts tendenziell ruppiger zu und her. Da arbeite ich lieber an einem Ort, an dem ich zwar weniger verdiene, aber mich dafür wohlfühle im zwischenmenschlichen Umgang.»
Trotzdem habe es auch einzelne Situationen gegeben, in denen sie sich zurückgenommen habe, etwa bei früheren Arbeitseinsätzen an eher frommen Hochzeiten auf dem Land. Die Branche sei so wahnsinnig gross, dass da eine breite Palette an Menschen arbeite. «Bei riesigen Buden ist bestimmt ein Jürg dabei, der dumme Sprüche klopft», sagt Florina augenrollend, «aber auch in der kleineren, alternativen Technikszene kann es durchaus passieren. Dann muss ich halt mal Polizistin spielen», grinst sie und dreht ihr Cap zurecht.
Outing durchs Buschtelefon Den Tarif durchgeben musste Dean Tanner auch schon. Der schwule Gärtner mit dem urchig-charmanten Dialekt, der nach tiefster Zentralschweiz klingt, arbeitet noch immer im Dorf, in dem er aufgewachsen ist. Als wir uns auf dem Gelände der Gartenbaufirma treffen, bei der er angestellt ist, trägt er noch Arbeitsklamotten: graue Fleecejacke, grünschwarze Arbeitshose und massive Schuhe. «Ganz ehrlich, man hört unter Gärtnern schon üble Sprüche, und wenn du sie nicht einordnen kannst, wirst du verunsichert.»
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Der heute 27-Jährige habe mit 19 begonnen, sich zu outen, anfänglich nur bei der Familie und engen Freund*innen. Als die Reaktionen allesamt gut ausgefallen seien, habe er den Mut gewonnen, auch in der damaligen Firma die Karten offenzulegen. Der dortige Vorgesetzte sei immer hinter ihm gestanden, wie auch der jetzige, der es vor Arbeitsbeginn schon gewusst habe: «Das dörfliche Buschtelefon nimmt dir gewisse Arbeiten ab», lacht Dean.
Damals sei ihm bewusst geworden, wie selten jemand – selbst in einem kleinen Dorf, selbst in einer Baubude – wirklich ein Problem mit Homosexuellen habe. «Klar werden in dieser Branche Witze gerissen, aber für mich sind es dann halt einfach Witze. Darum kann er junge queere Personen, die einen handwerklichen Beruf erlernen wollen, nur dazu ermutigen. Ihr werdet auf mehr Offenheit stossen, als ihr denkt.» Positiv überrascht habe ihn beispielsweise die Reaktion seines Vorgesetzten auf das anfänglich angstbeladene Coming-out. «Er sagte nur, dass das überhaupt nichts ändere zwischen uns. Aber dass er auch verstehen könne, dass ich bei der Gesprächskultur meine Mitarbeiter als mögliche Bedrohung sähe. Er war also sehr einfühlsam.»
Es habe danach unter den Gärtnern höchstens etwas Unsicherheit gegeben, wie sie von nun an mit ihm umgehen sollten: Welche Sprüche darf man noch klopfen? Dürfen wir Dean darauf ansprechen, oder fühlt er sich mit seiner Sexualität in diesem Umfeld womöglich unwohl? Das habe dazu geführt, dass die meisten einfach geschwiegen hätten; ein Schweigen, das dem frisch Geouteten eher unangenehm war. Um ihnen zu beweisen, dass er sein Schwulsein durchaus selbstbewusst lebe, habe er einfach begonnen, die anderen zu provozieren. «Das waren dann so Kommentare wie: Okay, wenn ihr nackte Frauen aufhängt, hänge ich dafür einen Männerkalender auf!» Das habe für Entspannung gesorgt, die meisten hätten es lustig gefunden und sind auf den Humor eingegangen.
«Klar werden in dieser Branche Witze gerissen.»
Der unausweichliche Moment Etwas länger dauerte der Prozess für Domenica Priore, trans Frau und Sanitärinstallateurin. Sie fing schon mit sechs Jahren an zu merken, dass sie sich mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht nicht wohl fühlt. Bis sie aber auch öffentlich dazu stehen konnte, sollten noch Jahrzehnte vergehen.
Auch Domenica trägt noch ihre Arbeitskleidung, als wir uns fürs Gespräch auf eine Parkbank setzen. Wunderbar irritierend ist dabei, dass unter ihrer etwas abgewetzten, traditionell männlichen Kluft rote Fingernägel zum Vorschein kommen. Die 53-Jährige fing Anfang 20 an, in jenem Sanitärgeschäft zu arbeiten, bei dem sie heute noch angestellt ist. 30 Jahre also, wovon sie sich 20 gegen aussen als Mann gab. Das sei lange Zeit irgendwie machbar gewesen, da sie durch die Arbeit von ihrem wahren Selbst abgelenkt gewesen sei. «Anfangs lebte ich mein Frausein nur zuhause aus, dann langsam, nachts, auch auf der Strasse. Den Arbeitgeber einzuweihen, hat zusätzlich Überwindung gekostet.»
Irgendwann habe sie es einfach nicht mehr ausgehalten – das Versteckspiel, ihre Psyche und ihr Verhalten hätten immer mehr darunter gelitten. Die Arbeitskollegen hätten zunehmend gemerkt, dass etwas nicht stimme. Auch ihr Aussehen veränderte sich immer mehr, irgendwann liess sie sich die Haare wachsen, später fing sie an, Ohrstecker zu tragen – nicht gerade üblich unter Installateuren. Als sie sich dann auch noch «verplappert» und von sich selbst in der weiblichen Form gesprochen habe, sei eine Klarstellung unausweichlich gewesen. Sowohl Mitarbeitende als auch die Personalleitung hätten von sich aus das Gespräch gesucht.
Das sei der richtige Moment gewesen, sich erstmal bei der Geschäftsleitung zu outen. Diese sei anfangs etwas überfordert gewesen, da sie bis dahin noch nie mit einer trans Angestellten umgehen mussten. Nachdem sich die Leitung bei ausländischen Kolleg*innen Ratschläge eingeholt hatte, entschied sie, es mal zu versuchen – also Domenica ab sofort intern und extern als Frau zu behandeln und vorzustellen. Das Team wurde, zusammen mit Domenica und ihrer damaligen Psychologin, informiert. «Danach war die Stimmung untereinander viel gelöster, da alle wussten, woran sie waren. Sie konnten mein Verhalten und mein Aussehen endlich einordnen.»
«Männer erzählten mir von ihrer eigenen weiblichen Seite.»
Einige Mitarbeiter seien sogar offener und persönlicher geworden im Gespräch: «Sie erzählten mir von ihrer eigenen weiblichen Seite, zum Beispiel von Dingen, die sie mögen, obwohl sie in ihren Augen typisch weiblich sind.» Als sie das sagt, ist in ihrer Stimme Freude und Genugtuung zu spüren.
Nur keine Angriffsfläche bieten Eine allgemeine Erleichterung war auch in Deans Arbeitsalltag zu spüren. «Bauern, Lastwagenfahrer und Bauarbeiter, mit denen ich bei der Arbeit zu tun habe, fragten mich früher, ob ich denn nun endlich eine Freundin hätte. Heute erkundigen sie sich einfach nach einem Freund.» Es sei schön, an ihrem Privatleben teilzuhaben und auch selbst danach gefragt zu werden. Sein Chef frage vor dem Geschäftsessen immer, welche Partnerinnen und Partner dabei sein werden. Einige Kolleg*innen nähmen Dean sogar in Schutz, wenn jemand hinter seinem Rücken lästere. «Der Vorteil, sich in einer eher konservativen Branche zu outen, ist, dass man extrem daran wächst. Du weisst danach genau, wer du bist und wofür du einstehst», meint Dean mit ernster Miene.
«Ich habe gelernt, dass du, solange du keine Angriffsfläche bietest, auch kein Mobbingopfer werden kannst.» Solange seine Mitmenschen respektvoll und konstruktiv blieben, habe er kein Problem mit Sticheleien. «Sogenannt dumme Sprüche habe ich eigentlich immer akzeptiert, sie machen das Leben lockerer, weniger kompliziert – und lustiger.» Humor gebe ihm auch das Gefühl, integriert und akzeptiert zu sein; schliesslich mache sein Chef auch Witze über seine Heterokollegen, wenn sie zum Beispiel zu lange einer Frau nachschauten. Das sei Dean lieber als irgendeine Spezialbehandlung. Diese Direktheit sei auch eins von den Dingen, die er an dieser Branche am liebsten möge. Damals, während seiner kaufmännischen Ausbildung, sei das ganz anders gewesen; Kolleg*innen seien immer wieder «fake» gewesen, also nett im Gespräch, aber abschätzig in seiner Abwesenheit.
Auch die Verhältnisse auf dem Land werden von aussen oft falsch eingeschätzt. Es gebe sicher einzelne Gemeinden, wo Intoleranz herrsche, aber in seiner sei das nicht so. Er könne sich zum Beispiel an einen Shuttlebus-Chauffeur erinnern, der einen Schwulen nicht habe fahren wollen. «Dieser ist im Dorf ziemlich druntergekommen und hat auch seine Stelle verloren», erzählt Dean, während er sich Kaffee macht.
«Material schleppen ist für viele immer noch Männersache.»
Es sei ganz erstaunlich, wie Handwerker und Bauarbeiter, die normalerweise den Macho raushängen lassen, im Vertrauen ganz andere Seiten von sich zeigten – vor allem wenn sie angeheitert seien, schmunzelt Dean. «Schlussendlich wollen wir doch alle nach einem langen Arbeitstag nach Hause kommen und den Kopf in Schoss unserer Partner*innen legen – die Frage ist nur, ob wir es zugeben oder nicht.» Und da ist es wieder, das verschmitzte Lächeln. «Ich glaube mittlerweile, dass viele vermeintlich homofeindliche Männer in Wahrheit die Abneigung gar nicht wirklich haben; sie werden von ihrem Umfeld dazu gezwungen. Sie haben Angst, jemand könne Verdacht schöpfen, sie seien selbst schwul, wenn sie sich für Minderheiten einsetzen.»
Einen Job unter Handwerkern zu haben, kann jedoch auch Schwierigkeiten mit sich bringen – und je männerlastiger die Branche, desto mehr. Das kann Florina bestätigen: «Das ist voll schwul! Den Spruch höre ich auch heute noch immer wieder auf und hinter den Bühnen.» Sie habe da einiges an Aufklärung betreiben müssen, und mittlerweile konnte sie unter anderem ihren Chef dazu erziehen, das Wort «schwul» nicht mehr als Kraftausdruck zu benutzen. Und dieser tue dasselbe mit anderen. Aber man sei halt nicht davor gefeit, ausserhalb des Teams auf Homo- und Transphobie zu stossen. Unter Techniker*innen, die von Bands mitgebracht werden, könne so ein kaputtes Kabel schnell mal «voll schwul» sein. Und je nach Musikgenre und Szene seien auch intolerante Musiker*innen dabei: «In einer Hip-Hop-Crew herrscht ein anderer Umgangston als in einer Indieband», meint Florina etwas genervt. Viele Vorurteile beträfen allerdings eher das Frau- als das Lesbischsein. Aufgaben wie schweres Material zu schleppen oder komplexe Technik zu verstehen, seien für viele immer noch Männersache und würden ihr drum nicht zugetraut.
Ein weiteres leidiges Thema sei das Misgendern, also mit dem falschen Geschlecht angesprochen zu werden. Das passiere ihr vor allem mit Menschen, die sich noch nie mit Queerfeminismus auseinandergesetzt hätten: «Durch mein androgynes Aussehen werde ich oft als Mann gelesen, was zu angespannten Situationen führen kann.» Leute seien ihr schon ins Damenklo gefolgt, um ihr zu sagen, sie sei am falschen Ort. Und manche fänden es sogar obszön und seien darüber empört, dass sich eine Frau nicht traditionell weiblich gebe. «Wenn mich andere misgendern, habe ich immer etwas Angst, dass sie mich als Freak sehen, Berührungsängste haben, mich nicht ernst nehmen», sagt sie, und man spürt, wie sehr sie das beschäftigt.
Die Sache mit dem Umziehen Domenicas schlimmste Befürchtungen haben sich glücklicherweise nicht erfüllt. Sie habe zwar sichergestellt, dass sie bei Diskriminierungen eine interne Anlaufstelle habe (die damals erst einmal geschaffen werden musste), aber darauf zurückgreifen musste sie nie. «Körperlich bedroht oder angegriffen wurde ich nie – zumindest nicht während der Arbeit», erzählt sie, «und wenn mich mal jemand beschimpft hat, konnte ich es immer selbst regeln.» Die grösste Schwierigkeit nach dem Coming-out sei die Sache mit dem Vornamen und den Pronomen gewesen. Es habe ungefähr ein Jahr gedauert, bis es die Leute im Team gänzlich geschafft hätten, sie nicht mehr mit altem Namen anzusprechen.
Ähnlich wie bei Florina seien viele Hindernisse zur Gleichstellung mit dem Frausein in einer Männerbranche verbunden. Das meiste sei immer noch ausschliesslich auf Männer ausgerichtet, beispielsweise gibt es oft nur einen Umkleideraum. «Das führt dazu, dass ich auf Baustellen als Erste kommen oder als Letzte gehen muss, um mich nicht gleichzeitig umziehen zu müssen.» Domenica hat im Sanitärgeschäft eine Leitungsfunktion, was ihr zwei Vorteile einbringe: eine gewisse Autorität beziehungsweise Macht und wenig Kontakt mit Kund*innen. Ausserdem gehe sie davon aus, dass sie durch ihr spätes Coming-out weniger Konflikte gehabt habe: «Mein Gefühl sagt mir, dass sich gewisse Leute eher trauen, eine junge trans Person anzufeinden als eine ältere.»
Aber ja, auch für sie gebe es halt das Problem mit Externen; da sei es auch schon sehr unangenehm geworden. «Einer ist aufgrund meines Aussehens automatisch davon ausgegangen, dass ich etwas von ihm wolle, ein anderer hat sich nach meinen Geschlechtsteilen erkundigt. Als ich dann damit gedroht habe, zu ihren Vorgesetzten zu gehen, hatte ich schnell meine Ruhe.» Als wir uns schon fast verabschiedet haben, fügt Domenica hinzu, dass sie in ihrer Bude ein zweites Coming-out gehabt habe, nämlich als lesbische Frau. Das sei für viele eine doppelte Irritation gewesen, da die Allgemeinheit immer noch davon ausgehe, dass trans Frauen auf Männer stünden. «Das ist vielleicht das Einzige, das ich mir wirklich wünsche: mehr Aufklärung in den Betrieben, besonders unter Arbeitgeber*innen. Und zwar nicht immer auf einen Teilbereich beschränkt – entweder sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität – sondern intersektional gedacht.»
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