«Cancel Culture»: Ein «Fehltritt» und du bist raus
Eine neue Form von LGBTIQ-Wadenbeisser-Aktivismus im Internet zielt darauf ab, unliebsame Menschen moralisch zu boykottieren, zu beschämen und aus dem öffentlichen Diskurs zu tilgen. Treffen kann es jeden!
Der Begriff «Cancel Culture» macht derzeit die Runde und wird in verschiedenen Medien diskutiert: Es handelt sich dabei um eine Form von Wadenbeisser-Internetaktivismus, der darauf abzielt, einen unliebsamen Menschen moralisch zu boykottieren, zu beschämen und aus dem öffentlichen Diskurs und Leben zu tilgen.
Als Folge werden Veranstaltungen mit den entsprechenden Personen «gecancelt». Das kann die Organisator*innen des CSD in Köln treffen, weil sie das Motto «Einigkeit, Recht, Freiheit» wählten («zu nationalistisch»). Aber auch US-Präsidentschaftskandidat Pete Buttigieg, der letzter Woche von linken Queer-Aktivist*innen niedergebrüllt wurde («nicht einer von uns»).
Unlängst versuchte Masha Gessen in The New Yorker zu erklären, warum etliche Queers so vehement gegen Buttigieg sind («The Queer Opposition to Pete Buttigieg, Explained»). Einer der zentralen Vorwürfe sei demnach, dass der Demokrat jahrelang seine Homosexualität geheim gehalten habe und als «straight» durchging – als Kriegsveteran, als Politiker, als Person des öffentlichen Lebens. Erst nachdem LGBTIQ-Aktivist_innen die Eheöffnung erkämpft hatten, habe sich Buttigieg zu einem Outing «entschieden» und zu seinem Partner Chasten Glezman bekannt. Mit dem er nun das Modell einer «heteronormativen» christlichen Ehe führe und sich somit dem Mainstream anpasse. Oder anbiedere.
Daraus folgt der Vorwurf, dass viele Queers nicht die «Wahl» hätten, ihre Queerness geheim zu halten und von Anfang an dafür kämpfen müssten, so sein zu dürfen, «wie» und «wer» sie sind. Deshalb nähmen sie es Buttigieg so übel, dass er diese existenzialistische Erfahrung nicht gemacht habe (meinen sie zumindest) und stattdessen den bequemen Weg des geringsten Widerstands gegangen sei. Und dieser zähle aus ihrer Sicht nicht. Mehr noch: Sie sehen diesen Weg als Verrat an der queeren Sache. Sie rufen daher zum Boykott des Kandidaten auf.
Weisse Mittelklasse Inzwischen gibt es die Website Queers Against Pete. Auf dieser kritisieren linke LGBTIQ-Gruppen Buttigieg u. a. dafür, dass er behauptet «Teil unserer Community» zu sein. Sie werfen ihm vor, er würde die Unterstützung von LGBTIQ-Gruppen nur ausnutzen wollen, während er sich als Bürgermeister für viele Themen, die besonders LGBTIQ betreffen und ganz besonders Queers of Color, nicht eingesetzt habe: «We are clear that LGBTQIA people are directly and disproportionately impacted by police violence, incarceration, unaffordable healthcare, homelessness, deportation, and economic inequality among other things.» Interessiert sich Buttigieg als weisser Mann, der als «straight» durchgeht/durchging, dafür keine Emapthie und kein Interesse? Hat er sich deshalb nicht für diese Themen eingesetzt als «Mayor Pete»?
Queers Against Pete organisierte letzten Freitag eine «Intervention», als Buttigieg im National LGBTQ Center for the Arts in San Francisco sprach. Oder sprechen wollte. Denn als er Fragen des Publikums beantworten sollte und auf seinen Ehemann angesprochen wurde, begann der Versuch, Buttigieg zu «canceln». Celi Tamayo-Lee von den Aktivisten wurde daraufhin von Sicherheitskräften hinauseskortiert und sagte der Zeitung The Guardian: «Es ist schwer Buttigieg als schwulen Kandidaten wertzuschätzen, weil er zu einem überwiegend weissen Mittelklassepublikum spricht.»
Deshalb wurde also mit brachialen Mitteln Buttigiegs Auftritt gestört und gegen ihn agiert, von einer vergleichsweise kleinen aber lautstarken Gruppe, die genau weiss, wie sie mit den richtigen Hashtags und Internetaktionen Schlagzeilen machen kann. Und das alles im Land der Meinungsfreiheit.
Karriere kaputt Ist das «Gesinnungsterror», wie viele auch im deutschsprachigen Bereich besorgt fragen? Was darf man überhaupt noch öffentlich sagen, ohne befürchten zu müssen, einen Shitstorm abzubekommen, der einen potenziell Job und Karriere kosten kann? Einmal das «falsche» Karnevalskostüm gewählt (Justin Trudeau), den «falschen» Link auf Twitter geliked (J. K. Rowling), ein «falsches» CSD-Motto vorgeschlagen, schon gilt man als «Rassist», als «transphob» oder als «rechtsnational». Die Liste liesse sich beliebig fortsetzen. Und schon heisst es, man sei unwählbar, dürfe nie wieder ein «Harry Potter»-Buch lesen oder den Kölner CSD besuchen. (MANNSCHAFT berichtete über den Rowling-Vorfall.)
Muss einer der wichtigsten LGBTIQ-Alliierten gehen?
Eine ernsthafte Diskussion und ein echter Meinungsaustausch scheint nach einem Cancel-Aufruf kaum mehr möglich. Till Randolf Amelung, der demnächst auf das Thema in dem Essayband «Irrwege. Analyse aktueller queerer Politik» eingehen wird (mit einem Beitrag über Identitätspolitik und Social-Media-Aktivismus), sagt zu MANNSCHAFT: «Cancel Culture zerstört jegliches Miteinander. Gerade durch Social Media als Verstärker werden da auch Existenzen zerstört – allzu oft lediglich aufgrund von Banalitäten oder gar falschen Behauptungen.» Er ergänzt mit Blick auf die Schwulenszene: «Ich würde nicht sagen, dass es typische Behauptungen für den Schwulensektor gibt. Es gibt eher typische Mechanismen der Rufschädigung, die jeden treffen können.»
Letztes Jahr twitterte beispielsweise eine antira-Aktivistin «Rassismusvorwürfe» gegen die Frankfurter Aidshilfe anlässlich eines Gottesdienstes zum Gedenken an Aidstote – weil die Aktivistin mit ihrem lebhaften Kleinkind höflich in die hinteren Reihen der Kirche gebeten worden sei.
Autoritäre Sehnsucht Wer entscheidet, was «richtig» und «falsch» ist? Was «rassitisch» und «politisch inkorrekt» ist? Wer hat die «Deutungshoheit»? Wieso spielen die tatsächlichen Gesetze eines Landes dabei fast keine Rolle mehr, sondern ausschließlich die Frage, wer den «Ruf» einer unliebsamen Person oder Organisation besser schädigen kann? Und wieso bekriegen sich vielfach auch LGBTIQ untereinander bis aufs Blut und schwächen dadurch ihre Position(en) gegenüber einer meistens nicht gerade wohlwollenden Gesellschaft um sie herum?
In einem Deutschlandfunk-Interview sprach Polititunte Patsy l’Amour laLove («Beissreflexe») von der «autoritären Sehnsucht selbst reguliert zu werden». Demnach würden es viele Menschen (auch LGBTIQ) begrüssen, wenn man ihnen sage, «wie es geht, sich richtig zu verhalten». Laut l’amour LaLove gibt es eine «Sehnsucht nach einfachen Antworten». Und scheinbar den Wunsch, wie ein Kleinkind gemassregelt zu werden.
Gefälligkeitsstichwörter Ein Problem dabei sei, dass «Gefälligkeitsstichwörter» eingestreut würden, um gut da zu stehen und sich als aufgeklärtes – «woke»! – Individuum inszenieren zu können. Oftmals gehe es «nicht darum, Rassismus oder Homosexuellenfeindlichkeit zu kritisieren, es gehe vorrangig darum, gleich einer Werbestrategie, nicht selbst als rassistisch oder homophob zu wirken», so l’Amour laLove. Denn wenn man nur den Anschein dieser Positionen erweckt, kann man jegliche «Karriere» und ernsthafte «Teilnahme» an der LGBTIQ-Szene vergessen.
Rassismus-Vorwurf gegen Schwules Museum – was ist da dran?
Auch Ex-Präsident Barack Obama stellte in einer Talkshow diese aktivistische Selbstinszenierung in Frage und plädierte statt einer immer extremer werdenden «Cancel Culture» für einen Umgang mit Doppeldeutigkeiten, da «kritisches Denken durch Irritationen in Bewegung» bleibe. Er erinnerte auch daran, dass die Welt «messy» sei, also chaotisch, und einfache Antworten vielfach nicht möglich seien. Stattdessen müsse man mit unendlich vielen Schattierungen zurechtkommen. Das sei anstrengend und verwirrend, aber nötig.
Patsy l’Amour laLove diagnostiziert in heutigen Auseinandersetzungen ebenfalls eine fehlende «Ambiguitätstoleranz». Dabei bereichere diese Form von Toleranz den Disput: Man könne den Anderen anders sein lassen, «was nicht bedeutet, dass man alles, was der andere sagt und macht, akzeptieren oder gut finden muss».
Ambiguitätstoleranz Doch von Ambiguitätstoleranz sind etliche innerhalb und ausserhalb der LGBTIQ-Community momentan weit entfernt. Es scheint nur noch ein klares «wir» gegen «die anderen» zu geben, und man muss sich für eine Gruppe entscheiden, wodurch selbst viele tendenziell eher linke Schwule plötzlich in rechte Lager gesteckt werden, wo sie nicht hingehören, wo sie aber kaum wieder rauskommen. Was zu grösseren Verschiebungen innerhalb der politischen Landschaft führt.
Und dann werden zwischen den Lagern wegen vergleichsweise nebensächlicher Aspekte «Stellvertreterdiskussionen» geführt, wie Amelung meint, etwa im Kontext von «rassistischen» Karnevals- oder Halloweenkostümen und Debatten um «kulturelle Aneignung», die nicht mal ansatzweise etwas an der realen Situation von Native Americans und anderen Gruppen verändern, stattdessen aber jemanden wie beispielsweise Gus Kenworthy als LGBTIQ-Idol demontieren. Er hatte sich zu Halloween einen Federschmuck auf den Kopf gesetzt und eine «heiliges Indianersymbol» zur reinen Verzierung auf seine muskulöse Brust gemalt. Was fast so ein vernichtendes Nachspiel hatte wie Trudeaus Alladin-Foto aus Studententagen.
Schwuler Selbsthass Interessanterweise argumentierte ein anderer Buttigieg-Kommentator unlängst, der Hass vieler Homosexueller auf den Präsidentschaftskandidaten basiere primär auf «Selbsthass»: Da viele Schwule (für die er in seinem Artikel spricht) aufgewachsen seien mit dem Vorwurf, dass mit ihnen «etwas nicht stimme» und dass sie «nichts wert» seien, könnten sie auch keinen offen schwulen Kandidaten wertschätzen – auch aus der internalisierten Angst heraus, mit jeglicher aufkeimenden Hoffnung auf einen ersten offen schwulen US-Präsidenten sowieso «nur enttäuscht» zu werden. Dann also lieber gleich dagegen sein!
Auch das ist eine kühne und nicht unproblematische These. Wenn man die Selbsthass-Erklärung kurzschliesst mit der «Cancel Culture», dann ergeben sich völlig neue Interpretationsmöglichkeiten. Ganz sicher wenn es um «Stellvertreterdiskussionen» geht.
Reif für Satire? Titania McGrath als parodistische «Woke»-Aktivist_in, frei erfunden vom britischen Kolumnisten Andrew Doyle und mit eigenem Twitter-Account versehen, nimmt die extremen Ausformungen der «Cancel Culture» fast täglich auf die Schippe und demonstriert, wie lächerlich und schädlich sie oftmals ist. Trotz aller berechtigter grundsätzlicher Anliegen und trotz des Wunsches auf eine bessere Welt für alle.
Der homosexuelle Andrew Doyle erläuterte seine Position und Erfahrung in einem Vortrag, den man Online anschauen kann. Er geht dabei auch darauf ein, wie große Medienhäuser und Zeitungspublikationen die «Cancel Culture» noch weiter verbreiten, quasi neben Social Media als zweiter Brandbeschleuniger funktionieren.
Patsy l’Amour laLove meint in ihrem Radiointerview, dass die Angst angegriffen zu werden und schlecht da zu stehen, jede weiterführende Diskussion verhindere und damit auch einen echten Kampf gegen Homosexuellenfeindlichkeit blockiere. Womit ein positives Grundanlegen mehr oder weniger ins Gegenteil verkehrt wird.
Auch damit muss man lernen, sich zu arrangieren. Bei der Veranstaltung in San Francisco letzten Freitag reagierten die übrigen Teilnehmer übrigens auf die «Cancel»-Intervention mit einem lauten «Boot Edge Edge»-Gesang.
Da war die Schlagzeile der meisten Medien allerdings schon gesetzt.
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