Kriegsroman aus Bosnien – über zwei schwule Väter und ihre Tochter
In «Die Welt und alles, was sie enthält» wird die Liebe zwischen Pinto und Osman zum heroischen Akt des Widerstands
Als 2023 Aleksandar Hemons «The World and All That it Holds» erschien, gab es wenig Resonanz in der LGBTIQ-Presse. Auch die deutsche Ausgabe 2024 interessierte queere Medien kaum. Dabei wird eine ungewöhnliche schwule Liebesgeschichte erzählt.
Zugegeben, das Genre des Kriegsromans steht typischerweise nicht im Zentrum der LGBTIQ-Wahrnehmung. Weil die darin oftmals behandelten Themen von Vaterlandsliebe, Kampfeslust, Gefolgschaftstreue oder Trauer über Zerstörung und Tod nicht gerade das sind, worum sich auf dem Buchmarkt queeres Erzählen dreht.
Gerade wenn es um neuere Kriegsliteratur geht – wie zum Beispiel beim 1964 in Sarajevo geborenen Aleksandar Hemon, der vom Trauma der Vertreibung und Entwurzelung im Kontext des Bosnienkriegs schreibt – sind die Geschichten meist heterosexuell und für heterosexuelle Lesende. Anders als bei Male-Male-Romance gibt’s auch keine nennenswerte weibliche Leser*innenschaft, die sich auf solche Storys stürzt und sie in die Bestsellerlisten katapultiert (wie bei «Du und ich und der Sommer», MANNSCHAFT berichtete).
In den Schützengräben Galiziens Umso erstaunlicher ist es, dass Hemon, der inzwischen mit Frau und Kindern in den USA lebt und schreibt (u.a. auch das Drehbuch für «The Matrix Resurrections», zusammen mit Lana Wachowski), nun einen Roman von geradezu epischer Breite veröffentlicht hat, der seinen Ausgang in Sarajevo bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 nimmt und dann die Geschichte des schwulen jüdischen Apothekers Pinto schildert, der in den Schützengräben Galiziens den ebenfalls aus Bosnien stammenden Muslim Osman trifft – und sich in diesen verliebt.
Es geht danach jedoch nicht um Coming-outs oder darum, ob Osman ihn zurückliebt. Er tut es. Mehr noch, die Kameraden der beiden haben mit dieser Liebe gar kein Problem. Das eigentliche Drama beginnt erst, als der Krieg 1918 vorbei ist und Pinto und Osman verschleppt werden nach Russland. Die Lebensbedingungen im Kriegsgefangenenlager sind grausam – noch grausamer ist der Alltag in Tashkent, wo die Bolschewisten mit Säuberungskationen beschäftigt sind, die alle treffen, die sich nicht hundertprozentig zum Kommunismus bekennen.
Flucht mit dem frisch geborenen Baby Wieder finden Pinto und Osman einen Weg zusammen zu sein. Doch dann reisst sie der Versuch auseinander, gemeinsam nach Sarajevo zurückzukehren. Pinto flieht mit dem frisch geborenen Baby einer bei der Geburt verstorbenen Freundin Richtung Shanghai, Osman versucht, die mörderischen Bolschewisten aufzuhalten und nachzukommen.
Was folgt, ist eine Odyssee, bei der für Pinto nur die imaginierten Gespräche mit Osman und die Nähe zu ihrer gemeinsamen «Tochter» Rahela so etwas wie «Heimat» darstellen. Und man sich beim Lesen immer intensiver fragt: Werden sie alle drei irgendwann wieder zusammenkommen? In Shanghai, Sarajevo oder anderswo?
Man glaubt, das ganze Buch basiert auf einer wahren Vorlage
Während Hemon ein gewaltiges Geschichtspanorama ausbreitet – wobei er einen frappierend originellen Tonfall als Gemisch aus vielen Sprachen kreiert, die in Pintos Kopf umherschwirren –, erfährt man in einem Epilog, dass der fiktive Autor des Buchs (den man leicht mit dem realen Hemon verwechseln könnte) 2001 in Jerusalem eine alte Frau kennenlernte, die ihm von ihren «beiden Vätern» erzählt und ihm nahelegt, deren Geschichte aufzuschreiben. Das wirkt so real, dass man versucht ist zu glauben, das ganze Buch basiere auf einer wahren Vorlage. Aber ein Blick in die Danksagungen verrät, dass das nicht der Fall ist.
Sprachliche Brillanz Das ändert nichts daran, dass es ein zutiefst ergreifendes Buch ist, in dem Hemon eine schwule Liebesgeschichte so selbstverständlich einfügt, wie das in vergleichbaren Romanen selten bis nie der Fall ist. Er tut das mit sprachlicher Brillanz und meisterhafter Erzählkunst, bei der die Perspektiven ständig changieren. Spätestens am Schluss (vorm Epilog) kann einem dann beim Lesen kurz das Herz stehen bleiben, mit einem Finale, das wirklich lange nachhallt.
Spannend ist, dieses Grosspanorama, das das gesamt 20. Jahrhundert umspannt, zu vergleichen mit anderen neueren schwulen Kriegsgeschichten. Auch «Alec» von William di Canzio erzählt – als Fortsetzung der E.M.-Forster-Geschichte von Alec Scudder und Maurice – vom Ersten Weltkrieg und dessen Traumata bzw. Auswirkungen auf die Liebesbeziehung der beiden Hauptfiguren. Aber es bleibt ein kleiner geschichtlicher Ausschnitt, begrenzt auf die Zeit um 1914/18.
Patrick Gale beschreibt in «Mother’s Boy» ebenfalls eine Erste-Weltkriegsgeschichte, mit dem Marinesoldaten Charles im Zentrum, der im Einsatz zu sich und seiner Sexualität findet. Erwähnenswert ist auch Danny Ramadans «The Foghorn Echoes», das im Gegensatz zu den beiden letztgenannten Büchern auch in deutscher Übersetzung als «Nebelhorn Echos» vorliegt (MANNSCHAFT berichtete). Darin zerbricht eine schwule Jugendliebe am Krieg in Syrien und an Vertreibung und Flucht. Es ist eine Geschichte, sehr viel näher dran an der Gegenwart. Und unbedingt lesenswert. Aber es bleibt die Stärke von Hemon, in seinem viel weiter gespannten historischen Spektrum mehr als eine Momentaufnahme zu schildern – sondern ein ganzes Leben im Zeichen einer einzigen Liebe einzufangen.
Trotz aller Gefühlstiefe ist das niemals kitschig. Und es macht aus Pinto und Osman eines der ganz grossen Liebespaare der Weltliteratur.
Das macht aus Pinto und Osman eines der grossen Liebespaare der Weltliteratur
Musikalbum zum Roman In einem Interview erzählte Hemon, dass er sich beim Schreiben des Buchs mit einem Freund namens Damir Imamović ausgetauscht habe, einem Sevda-Sänger. Sevda ist eine traditionelle Form bosnischer Musik, nah verwandt mit der Musik, die die Sephardim nach Bosnien gebracht haben. Historisch gesehen haben vor allem Frauen Sevda als Liebeslieder an Männer gesungen. Imamović hat als schwuler Mann diese Tradition neu belebt.
Hemon überlegte mit Imamović ein Album zum Buch zu machen. «Er schickte mir Demos von Liedern, die er geschrieben hatte, so dass ich sie in meinen Text einbauen konnte», erinnert sich Hemon. Das Album mit dem gleichen Titel enthält melancholische Lieder, die von der Liebe zwischen Pinto und Osman handeln. (Im Booklet findet sich dazu eine englische Übersetzung der bosnischen Liedtexte.)
Mit dem Album kann man die Lektüre von «Die Welt und alles, was sie enthält» auf ungewöhnliche Weise weiter nachhallen lassen. Und nach allem, was man mit Pinto und Osman sowie Tochter Rahela im Buch erlebt, werden manche vermutlich dringend Zeit zum Nachhallenlassen brauchen.
Zur Pride in Sarajevo am vergangenen Wochenende (unter dem Motto «I love not to be afraid») wollte Hemon übrigens anreisen, kündigte er vorab an, um als DJ aufzulegen und die LGBTIQ-Community vor Ort zu unterstützen.
Ebenfalls im Juni erscheint – passend zum Pride-Monat – die erste bosnische Übersetzung des Buchs. Aus der bosnischen Diaspora, die den Roman zuvor auf Englisch gelesen hatte, bekam Hemon «überwältigend zustimmende Reaktionen», erzählt er. Ob das in Bosnien selbst auch so sein wird, muss man abwarten.
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