Wie sich Georgine Kellermann aus «der falschen Verpackung» befreite
Die Journalistin erzählt vom Coming-out als trans Frau nach über 60 Jahren
Einst war sie bekannt als ARD-Korrespondent Georg Kellermann, im Einsatz in Washington und Paris: Doch nach Dienstschluss wurde sie zu Georgine. Das Coming-out kam mit über 60 Jahren – nach einer zufälligen Begegnung im Bahnhof.
Von Christoph Driessen, dpa
Georgine Kellermann streicht sich schnell noch eine Haarsträhne aus dem Gesicht und kontrolliert ihren Lippenstift. «Sorry, ich bin eitel», sagt sie mit einem Lächeln. Ein Mann, der hinter ihr in einem Kölner Café sitzt, mustert sie mit forschendem Blick. Sie bemerkt es nicht, und wenn es ihr doch aufgefallen wäre, dann hätte es ihr vermutlich nichts ausgemacht. Über dieses Stadium ist sie lange hinaus.
Vier Jahre ist es jetzt her, seit sich die Journalistin auch im Beruf als trans Frau geoutet hat (MANNSCHAFT berichtete). Von einem Tag auf den anderen ist sie geschminkt und mit Rock im Büro erschienen und hat sich dazu bekannt: «Ja, ich bin eine Frau.» 62 Jahre war sie da schon alt.
«Es hat fast ein ganzes Leben gedauert» Dementsprechend heisst ihr jetzt veröffentlichtes Buch «Georgine – Der lange Weg zu mir selbst». Es hat fast ein ganzes Leben gedauert, ehe sie den Mut dazu fand, die zu sein, die sie nach eigenem Empfinden immer schon war. Der ARD-Auslandskorrespondent Kellermann in Washington und Paris, als den sie viele Fernsehzuschauer*innen noch in Erinnerung haben, war für sie immer nur eine Rolle.
Schon als Kind wusste sie: «Irgendwas mit mir ist anders.» Aber das war zunächst nur ein unbestimmtes Gefühl, das sich nicht einordnen liess. «Der Begriff ‹trans› war zwar schon in der Welt, aber ich kannte ihn nicht. Das Einzige, was ich kannte, war das Wort ‹schwul›. Darunter wurde alles zusammengefasst, was wir heute ‹queer› nennen. Meist war das Wort als Schimpfwort gemeint.»
Mit Anfang 20 wurde Kellermann klar, dass sie «in der falschen Hülle oder falschen Verpackung» steckte. Geschlechtsangleichende Operationen waren damals, in den 70er Jahren, noch eine Seltenheit. «Dennoch habe ich das sehr ernsthaft erwogen. Ich hatte ja noch mein ganzes Leben vor mir, und das wäre eine Tür gewesen, die sich geöffnet hätte. Aber es hätte sich eine andere Tür geschlossen, nämlich die zu meiner Karriere.»
«Damals noch jenseits des Vorstellbaren» Kellermann strebte in den TV-Journalismus, wollte am liebsten ins Ausland. Ihren Arbeitgeber, den Westdeutschen Rundfunk (WDR), erlebte sie als durchaus liberal, doch eine trans Person vor der Kamera war damals noch jenseits des Vorstellbaren. Sie musste sich entscheiden – und sie wählte die Karriere (MANNSCHAFT berichtete).
Fortan führte sie zwei Leben: Tagsüber war sie Auslandskorrespondent und Redaktionsleiter Georg Kellermann, nach Feierabend Georgine Kellermann, die sich unter anderem für Mode interessierte. Überschneidungen gab es zunächst nur sehr diskret: «Georg ging allmählich dazu über, sich eher androgyne Kleidung zu kaufen – Jeans aus der Damenabteilung, die einen Tacken anders geschnitten waren, oder Blusen, die auch als Hemd durchgehen konnten.»
Ein Meilenstein war, als sie sich einer Kollegin anvertraute, und diese daraufhin verkündete, nun würden sie zusammen Schuhe kaufen gehen – Damenschuhe. «Die Verkäuferin hat fast Schnappatmung bekommen, aber ich habe die Schuhe anprobiert und gekauft. Das fühlte sich grossartig an.»
Ihre Partnerinnen hätten immer gewusst, dass sie sich eigentlich als Frau gefühlt habe. «Das war für sie nie ein Problem, im Gegenteil, sie haben mich darin unterstützt, wofür ich jeder einzelnen unendlich dankbar bin. Sie haben mir vor allem dabei geholfen, mich selbst zu akzeptieren.» Astrid, die für 13 Jahre ihre Partnerin war, habe zum Beispiel wesentlich dazu beigetragen, dass sie sich schliesslich in Frauenkleidern in die Öffentlichkeit getraut habe.
«Da schwingt dann schon ein bisschen Reue mit» «Lange habe ich mich zu Hause eingeigelt, weil ich dort ich selbst sein konnte. Wenn ich heute ins Kino oder ins Theater gehe, so sorglos, so unbeschwert – fast so, als ob ich dorthin fliege – dann frage ich mich manchmal: Was habe ich verpasst? Da schwingt dann schon ein bisschen Reue mit, dass ich das nicht eher geschafft habe.»
Auf Operationen hat sie bis heute verzichtet – schliesslich konnte sie sich auch so in amtlichen Dokumenten wie dem Personalausweis als Frau anerkennen lassen. Schon 2011 hatte das Bundesverfassungsgericht geurteilt, dass zur Menschenwürde und zum Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung auch das Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung gehört.
Am Ende blieb nur Georgines Berufsalltag noch von ihrem Coming-out ausgenommen, hier gab sie weiterhin den Georg. Ursprünglich plante sie, erst am Tag ihrer Verabschiedung mit der Wahrheit herauszurücken. Doch dann begegnete sie auf dem Weg in den Urlaub im Bahnhof einer Kollegin, die sie trotz Make-up und Frauenkleidern erkannte. «Herr Kellermann, sind Sie verkleidet?», fragte sie. «Nein», antwortete sie. «Ich bin eine Frau.» Nach einer Sekunde des Verarbeitens sagte die Kollegin nur ein Wort dazu: «Cool!»
«Die allermeisten Menschen sind viel toleranter als man denkt» Dieses Erlebnis gab den Ausschlag dafür, dass Kellermann als Georgine in ihre Position als Leiterin des WDR-Landesstudios Essen zurückkehrte. «Die Reaktionen waren überwältigend – überwältigend positiv.»
Genau das ist auch die aufbauende Botschaft ihres Buches: Die allermeisten Menschen sind viel toleranter als man denkt – und deshalb sollten sich alle trauen, so zu leben, wie sie wirklich sind. Eine Auswahl von Georgines schönsten Erlebnissen: Sie steht mit Kolleginnen zusammen und wird ganz selbstverständlich in eine lange Unterhaltung über Damenschuhe einbezogen. Eine Engländerin kommt auf sie zu und sagt: «May I say you how very elegant you look?» Und als sie einmal in Portugal versehentlich auf die Herrentoilette zusteuert, macht eine junge Reinigungsfrau mit Schleier sie auf ihren Irrtum aufmerksam und dirigiert sie um.
«Noch nie, nie, nie bin ich auf der Damentoilette schräg angeschaut worden.» Ihre Augen strahlen, während sie das sagt. «Im Gegenteil, regelmässig entwickeln sich nette Gespräche. Wenn ich dann noch zum Lippenstift-Vergleich herangezogen werde, dann habe ich das Gefühl, voll und ganz dazuzugehören.»
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