Queers, was wollt Ihr denn noch? – Respekt wollen wir!

Unser Autor ist vorsichtig optimistisch nach der Bundestagswahl

Volker Wissing & Christian Lindner (FDP), Annalena Baerbock & Robert Habeck (Grüne) l Foto: R. Habeck/Instagram
Volker Wissing & Christian Lindner (FDP), Annalena Baerbock & Robert Habeck (Grüne) l Foto: R. Habeck/Instagram

Noch ist keine neue Koalition geschmiedet. Auch die künftigen Schwerpunkte in der LGBTIQ-Politik sind noch nicht festgezurrt. Die Blockierenden von gestern sind jedenfalls blockiert. Eine gute Nachricht, meint unser Kommentator*.

Die Stimmen sind ausgezählt, die Parteien freuen sich mehr oder weniger über das Ergebnis (MANNSCHAFT berichtete), manche freuen sich gar nicht und lecken die Wunden. Und quer durch die Republik betreiben alle Kaffeesatzlesen, wie wohl die neue Regierung aussieht. Ich trinke Tee und rate zum Abwarten.

Aus LGBTIQ Sicht sollte aber der Optimismus überwiegen. Die homophobe und transfeindliche AfD ist zwar weiter da, aber geschwächt. Durch das Wahlergebnis und durch die internen Grabenkämpfe. Beides sehr begrüssenswert. Und die Union, die Parteien der Dauer-Blockade einer umfassenden rechtlichen Gleichstellung von LGBTIQ , sind selbst blockiert. Es kann eine Regierung ohne sie gebildet werden. Und es bleibt zu erwarten und zu hoffen, dass die möglichen Koalitionspartner*innen für Jamaika, den Preis – gerade bei den LGBTIQ Themen – hochsetzen, falls verhandelt wird. Den Wahlprogrammen von Bündnis 90/ Die Grünen und FDP nach, müssen sie das auch tun. Und die Erfahrung aus vergangenen Legislaturperioden sollte ihnen eine Lehre sein, gerade hier im Koalitionsvertrag genau zu formulieren.

Auf jeden Fall sollten die Verhandelnden aus CDU/CSU lieber schon mal einen Kurs in gendergerechter Sprache belegen. Wie nach jeder Wahl schwirren die Worte «Aufbruch», «Neustart» und «Politikwechsel» herum. Und gerade bei den LGBTIQ Themen brauchen wir alles drei. Zu lange wurde das Notwendige verzögert, als unbedeutend auf die lange Bank geschoben, um am Ende ganz vergessen zu werden und unter die Parlamentstische zu fallen. Der Wahlsieger SPD ist hier in der Bringschuld, war er an der desaströsen LGBTIQ Politik in der Vergangenheit nicht unbeteiligt. Das Null-Ergebnis der letzten Legislatur hat die SPD als Regierungspartei mitzuverantworten. Nun kann sie zeigen, wie wichtig ihr das Thema ist, wenn sie nicht blockiert wird.

Was Aufbruch und Politikwechsel heissen kann, könnte sich ein zukünftiger Kanzler Scholz, der mit dem Schlagwort «Respekt» geworben hat, bei Joe Biden abschauen. Und ohne pathetisch zu klingen, geht es mir wie Martin Luther King: «I have a dream!» Es ist an der Zeit, dass LGBTIQ in der Antrittsrede des neuen Bundeskanzlers endlich prominent erwähnt werden. Es ist an der Zeit, dass eine neue Regierung die rechtliche Gleichstellung und Gleichbehandlung von nicht heterosexuellen Menschen zu einer Priorität erklärt. Es ist an der Zeit, dass unsere berechtigten Anliegen endlich einmal im Programm der ersten 100 Tage erwähnt und aufgenommen werden und nicht unter Verschiedenes eingeordnet werden. Es ist an der Zeit, auf die Community zu hören, statt sie mit halbgaren Gesetzen zu «beglücken». Es ist an der Zeit, dass bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus endlich auch der LGBTIQ Opfer gedacht wird und ein Redner oder Rednerin aus der Community zu Wort kommt. Die SPD stellt als stärkste Fraktion den oder die nächste Bundestagspräsident*in. Blockade-Schäuble ist Geschichte.

Je mehr man an die unnötigen Schleifen der letzten Jahre denkt, bis auch dem letzten Konservativen eine LGBTIQ Gesetzgebung nicht mehr gefährlich erschien, desto mehr hofft man auf das, was möglich und notwendig ist: die Reform des Transsexuellenrechts und damit die Verwirklichung der Menschenrechte für trans und inter Menschen. Ein zeitgemässes Abstammungsrecht, ein Asylrecht für in ihren Ländern verfolgte LGBTIQ, ein nationaler Aktionsplan gegen Homophobie und Transfeindlichkeit.

Die Liste liesse sich beliebig erweitern, aber auch beim Träumen wollen wir realistisch bleiben. LGBTIQ Lobbyist*innen kennen das vorwurfsvolle Augenrollen von Abgeordneten zu gut, das besagt: Was wollt ihr denn noch?! Ganz einfach: Respekt wollen wir. Mit der ersten rot-grünen Koalition kam die Eingetragene Lebenspartnerschaft und die Antidiskriminierungsgesetzgebung. Damals beides noch gegen den Willen der FDP. In einer Ampel-Koalition wäre ein solches Verhalten der FDP nicht zu erwarten. Aber, leider ist auch nicht zu erwarten, dass LGBTIQ Gleichstellungspolitik unter dieser Konstellation ein Selbstläufer wird. Wir sind aber auch schon zufrieden, wenn endlich ernsthaft und ohne ideologische Scheuklappen unsere Anliegen angegangen werden. Das Wahlergebnis brächte sogar in einer parteiübergreifenden Koalition der Vernünftigen, auch ohne die ganze Union eine Zweidrittelmehrheit für eine Grundgesetzergänzung in Art. 3 (3) zustande. Ein historischer Auftrag für die neue Regierung, das anzugehen.

Und die Community sollte vom ersten Tag der neuen Regierung auf die Finger schauen und klopfen. Beseitigung der Pandemiefolgen und Gleichstellungspolitik geht nebeneinander und nicht nur hintereinander. Klimapolitik für die Umwelt und eine Veränderung des Klimas der Ausgrenzung und des Hasses in der Gesellschaft ebenso. Also, diesmal bitte nicht wieder: entweder, oder. Und wer meint die Liste unserer Forderungen wäre zu lange, dem kann man nur erwidern, dass diese nur so lang ist, weil so lange nichts getan wurde. Deutschland ist bei LGBTIQ Gleichstellungspolitik im unteren Mittelfeld. Das muss sich ändern.

Und was macht derweilen die Blockade-Union? Sie kann versuchen, in der Opposition ihr traditionelles Profil zu schärfen. Friedrich Merz und andere würden bestimmt gerne das Messer wetzen. Dann kann weiter der respektlose Ton vom «Gender-Gaga» gepflegt werden im Überbietungswettkampf mit der AfD. Oder sie erkennt, dass man mit Rezepten des letzten Jahrhunderts keinen Blumentopf und erst recht keine Wahl gewinnen kann. Beides ist möglich, es soll ja nach der historischen Niederlage kein Stein mehr auf dem anderen bleiben in der Union. Fraglich, ob man an neuen Blockade-Mauern bauen wird, oder an einer modernen Gesellschaft.

Es wäre vermessen zu behaupten, dass man eine Woche nach der Wahl schon wüsste, wie es weiter geht. Es gibt Tendenzen, aber keine Sicherheiten. Vermutungen, Wahrscheinlichkeiten und Hoffnungen. Und es gibt den Herbst, wo man eine gute Tasse Tee zu schätzen weiss.

*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar oder eine Glosse zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.

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