«Unterirdisch»: Matthias Döpfner zum transphoben Gastbeitrag in Die Welt
Der Vorstandschef von Axel Springer plädiert für eine andere Debattenkultur – auch innerhalb der queeren Community
Ein Gastkommentar in der Tageszeitung Die Welt zum Thema «Frühsexualisierung von Kindern» in Bezug auf Transsexualität sorgte für viel Protest aus der Community und führte zur Ausladung des Axel Springer Verlags von der queere Jobmesse Sticks & Stones (MANNSCHAFT berichtete). Jetzt meldet sich der Springer-Vorstandsvorsitzende Matthias Döpfner zu Wort.
Es geht um einen Gastkommentar von fünf Wissenschaftler*innen in Die Welt, der – auch nach Meinung von Matthias Döpfner – «oberflächlich, herablassend und ressentimentgeladen» gewesen sei, so Döpfner in einem offenen Brief an die Mitarbeiter*innen der Welt.
In seinem Brief schreibt Döpfner, die Empörung über die Äusserungen der fünf Wissenschaftler*innen sei von «besonderer Art» und berühre «sehr grundsätzliche gesellschaftliche Entwicklungen».
Er sagt, er finde den Gastbeitrag «unterirdisch»: «Statt des freiheitlichen Geistes des ‹jeder soll nach seiner Façon selig werden›, raunt es hier vom Schutz der ‹sittlichen Überzeugungen der Bevölkerung›. Der Text hat einen Sound, der für jeden freien toleranten Geist unangenehm ist.» Mehr noch: Für alle, die sich der LGBTIQ-Community zugehörig fühlten, sei er eine «Verletzung und Zumutung».
So weit, so selbstkritisch. Doch welche Konsequenzen zieht Döpfner daraus für sein Verlagshaus, in dem neben der Welt auch die Bild-Zeitung und die BZ erscheinen? (MANNSCHAFT berichtete über die Dating-App OkCupid, die dem Springer Verlag Nachhilfe ich Sachen Gendern gab.)
«Wichtig und heikel» Dass übers Thema Transsexualität nicht ausgewogen diskutiert werde, findet Döpfner «schade» und «sogar schlimm». Denn: «Das Thema – wie und wann man Kindern Diskussionen und Entscheidungen über fluide Geschlechtsidentitäten verweigert oder zumutet – ist ein ausgesprochen wichtiges und heikles.»
Einen Text, wie den Gastbeitrag der fünf Autor*innen in der Welt zum Start des Pride Month zu veröffentlichen, sei kein gutes Timing gewesen, so Döpfner. Er ergänzt jedoch: «Dennoch darf die Funktion des Gastkommentars nicht ignoriert werden. Die Idee von Gastkommentaren ist ja, das Spektrum des Sagbaren bis an die Grenzen auszuloten und auf diese Weise Debatten anzustossen. Deswegen schreiben da oft Autoren, die nie Eingang in normale Kommentarspalten finden würden. Sie sind nicht die Stimme der Redaktion, die ohnehin – gerade bei Welt – nicht einheitlich denkt, sondern ein diverses Meinungsspektrum verkörpert. Und erst recht nicht handelt es sich hierbei um die Stimme des ganzen Hauses. Unser Haus steht für Vielfalt. Also auch und gerade für Meinungsvielfalt.»
Damit schwenkt Döpfner um und blickt kritisch auf die Gegenseite: «Weil ein Gastbeitrag externer Autoren in einer der Publikationen des in 40 Ländern aktiven Unternehmens eine für die Uhlala-Group und die von ihr organisierte queere Jobmesse Sticks & Stones inakzeptable Position vertritt, werden knapp 18.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieses Unternehmens pauschal in Mithaftung genommen.»
«Beispiel für die Polarisierung von Publizistik und Gesellschaft» Döpfner schreibt, was im Zusammenhang mit dem umstrittenen Gastkommentar in Die Welt passiert sei, wäre «symptomatisch»: «Es ist ein Beispiel für die Polarisierung von Publizistik und Gesellschaft.» Verlernt werde seit Jahren «in besorgniserregendem Tempo» die demokratische Grundtugend, unterschiedlicher Meinung zu sein, meint der Vorstandsvorsitzende. «‹We agree to disagree› nennen die Engländer das. Man widerspricht sich. Aber man redet miteinander. Immer häufiger aber wird nicht mehr widersprochen, nicht mehr miteinander geredet, sondern einfach ausgegrenzt. Deine Meinung gefällt mir nicht. Also rede ich nicht mit dir. Ich ghoste oder cancel dich», so Döpfner. (MANNSCHAFT berichtete übers Phänomen Cancel Culture.)
Ausgrenzung aber behindere nicht nur Debatten, sondern auch Erkenntnis und Entwicklung, heisst es im Brief an die Mitarbeitenden der Welt. Ausgrenzung sei das exakte Gegenteil von Inklusion und Vielfalt. Mit Ausladung und Ausgrenzung fördere man nicht Toleranz und Verständnis, sondern Intoleranz. «Es ist eine fast tragische Pointe, wenn ausgerechnet der Kampf für Vielfalt und Inklusion, für Toleranz und Freiheit der Lebensformen mit den Mitteln von Ausgrenzung, Intoleranz und Unfreiheit geführt wird», so Döpfner.
Er erwähnt, dass Stuart Bruce Cameron als Uhlala-Geschäftsführer und Veranstalter der Sticks & Stones Jobmesse von der Welt-Redaktion eingeladen worden sei, eine ausführliche Gegenposition in der Zeitung zu vertreten. Döpfner hoffe, dass Cameron die Einladung annehmen werde. Er würde sich ebenfalls freuen, wenn Cameron die Ausladung des Axel Springer Verlags bei der Sticks & Stones zurücknähme.
Wenn durch die aktuelle Kontroverse der Pride Month «etwas nachdenklicher als geplant» ausfalle, halte er das für letztlich nicht für schlecht, meint Döpfner abschliessend.
«Debatten aus Sackgassen befreien» Ob es Gespräche mit der Redaktion oder Chefredakteur Ulf Poschardt gab, teilte Döpfner nicht mit. Unter Poschardts eigenen aktuellen Artikeln auf der Website von Die Welt findet sich ein Kommentar mit der Überschrift «Vom Schmerz der Modernisierung». Darin heisst es im Einklang mit Döpfner: «Die Welt ist ein Medium idealerweise radikaler Vielfalt und auch Vielstimmigkeit. Dieses Prinzip ist konstituierend für ein liberales Medium. Dazu gehört auch die Praxis, Gastbeiträge zu veröffentlichen, die nicht zwingend die Meinung der Redaktion abbilden, aber in der Lage sind, Debatten anzustossen, voranzutreiben, zu vertiefen oder auch aus Sackgassen zu befreien.»
Auch Poschardt spricht rückblickend sehr selbstkritisch über den veröffentlichten Text der fünf Gastautor*innen. Er entschuldigt sich am Schluss konkret bei Philipp Kaste, Datenmanager und ein «ebenso inspirierender wie kämpferischer Queer-Vertreter bei uns im Unternehmen».
Poschardt schreibt: «Er sass bei mir im Büro und war am Boden zerstört. Die Messe hatte uns ausgeladen, weitere Sanktionen drohten und ich fühlte, wie sehr wir mit diesem Text und den Reaktionen seine unglaublich verdienstvolle, wertvolle, besondere Arbeit kaputtgemacht haben. Wir haben schon oft über die Themen der LGBTIQ-Community gesprochen. Er weiss auch, wie wichtig mir mit meiner akademischen Vorgeschichte und meiner Doktorarbeit dieses Thema ist.»
«Wertvolle Chance auf Fortschritt» Poschardt habe Kaste «in die Hand versprochen», dass die Zeitung «die Dinge» künftig besser machen werde. «Wir Liberale glauben an nichts so sehr wie die Freiheit des Einzelnen, dies impliziert logischerweise und ganz selbstverständlich auch die persönliche Wahl, wen oder was man liebt. Und es impliziert auch die Frage nach dem Selbstverständnis, welche sexuelle Identität man leben will.»
Abschliessend konstatiert Poschardt: «Jeder Emanzipationsprozess, welcher Minderheit auch immer, bedeutet eine ungeheure und wertvolle Chance auf Fortschritt. Diese Prozesse wollen wir begleiten. Aber diese Prozesse können nur gelingen, wenn alle Teile der Gesellschaft gehört, gesehen und verstanden werden. Das ist unser Anspruch.»
Wie Poschardt (und Döpfner) diesen Anspruch künftig einlösen werden, muss man abwarten. Seine Aufforderung an Leser*innen: «Bitte melden Sie sich bei Kritik und Anregungen. Danke!»
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