Trans Frauen zahlen hohen Preis für weibliche Kurven
Die gefährliche Praxis des Injizierens von Substanzen hinterlässt ihre Spuren
Seit über drei Jahrzehnten spritzen sich trans Frauen in Mexiko-Stadt billige Substanzen in den Körper – oft mit gravierenden Folgen, die sich erst Jahre später bemerkbar machen.
Palmira Mit einer geübten Bewegung und ganzer Armeskraft hievt sich Palmira auf den Rücksitz des Taxis und faltet ihren Rollstuhl zusammen. Allen Umständen zum Trotz bleibt die 50-jährige trans Frau dabei elegant, ohne eine Miene zu verziehen. Sie hat sich daran gewöhnt, mit dieser Erweiterung ihrer selbst zu leben.
Vor fast drei Jahren hat Palmira die Kontrolle über ihre Beine verloren – die folgenschwere Konsequenz einer Entscheidung, die sie als 17-Jährige fasste. Ein schweres Erdbeben hatte 1985 die Strassen zu den Vororten Mexiko-Stadts zerstört, und sie nutzte die Gelegenheit, in der Stadt zu bleiben und ihre Transition in Angriff zu nehmen. Kurz vor ihrem 18. Geburtstag liess sie sich einen Liter Mineralöl in ihr Gesäss spritzen, um ihm weibliche Kurven zu verleihen.
«In einem Augenblick hast du den Körper, von dem du geträumt hast»
Palmira
«Es war die grosse Mode», erinnert sie sich. «Alle haben es gemacht! Es war billig und die Wirkung setzte sofort ein.» Eine Freundin, die mit ihr zusammenlebte, kümmerte sich um die Injektionen. «In einem Augenblick hast du den Körper, von dem du geträumt hast.» Heute kann die Frau mit ihrem rechtwinklig geschnittenen Bob über ihre Naivität nur lachen. Sie blickt über ihre runden Brillengläser hinweg. «Ich wusste damals nicht einmal, dass es Mineralöl ist. Ich sah andere und wollte dasselbe. Heute sind wir alle krank.»
Es sind Mineral- und Speiseöle bis hin zu Silikon und Biopolymeren, die mexikanische Frauen – die meisten von ihnen trans – schon seit vielen Jahren in ihren Körper spritzen. Die Behandlungen ermöglichen es ihnen, den Körper ohne Operationen kostengünstig und mit sofortiger Wirkung zu formen. Die Folgen treten oft erst später ein.
Im Fall von Palmira schritten die Symptome schleichend voran, anfänglich mit Entzündungen, später kamen Schmerzen hinzu. Nach einigen Jahren verhärtete sich die Haut an ihren Beinen und verfärbte sich zuerst rot, dann immer dunkler. Das Öl war unter Wirkung der Schwerkraft aus dem Gewebe getreten. Mit 30 Jahren hatte sie mit Geschwüren zu kämpfen. «Im Krankenhaus wollte man mein Bein amputieren. Ich kämpfte sechs Monate lang mit einer Infektion, konnte es schlussendlich aber behalten», erinnert sie sich.
Sie sitzt an einem Tisch in der grossen runden Halle des Busbahnhofs Oriente, ganz in der Nähe des Instituts für Menschen mit Behinderungen in Mexiko-Stadt, an dem sie arbeitet. Sie hat dafür ihre Stelle in einem Friseursalon aufgegeben. Immer wieder entzünden sich ihre Nerven aufs Neue, ihre Beine sind in einer rechtwinkligen Position blockiert. «Die Ärzt*innen kennen diese Krankheit nicht gut und wissen nicht, wie sie uns behandeln sollen», sagt Palmira. «Deswegen sind schon viele Freundinnen daran gestorben.»
Seit mehreren Jahren durchquert sie einmal im Monat die Grossstadt und lässt sich in einem Krankenhaus von Dr. Adriana Lozano begutachten. Die Chirurgin behandelt die Geschwüre in ihren Beinen und entfernt abgestorbene Haut, um Infektionen zu vermeiden. Diese können lebensbedrohlich sein und haben sie schon mehrmals ans Krankenhausbett gefesselt.
«Das Öl hat sich mit Palmiras Gewebe vermischt», erklärt Dr. Lozano. «Wenn sich eine Wunde schliesst, öffnet sich eine andere. Das wird ihr ganzes Leben lang so bleiben, ein ernster Gesundheitszustand. Ich gebe den Patientinnen nie die Schuld für die Folgen ihres Handelns. Es ist schon schwierig genug für sie.» Lozana sieht viele trans Patientinnen. «Einige Ärzt*innen weigern sich, entgegen aller Ethik sie zu behandeln», sagt sie, die Empörung in ihrer Stimme ist nicht zu überhören.
Ein Kribbeln in den Beinen, eine Überempfindlichkeit gegen Kälte, Berührungen oder sogar Luft. Nebst den Schmerzen beklagt Palmira komische Gefühlsempfindungen, die mit dem Eindringen der Fremdsubstanz zusammenhängen. Heilungsaussichten gibt es nicht. «Es ist frustrierend, sowohl für die Patientin als auch für die Ärztin», sagt Lozano. Frustration ist ein Wort, das die Spezialistin immer wieder fallen lässt.
«In Mexiko gibt es viele solcher Fälle», sagt Dr. Gabriel Medrano. Der Rheumatologe am Hospital General de México ist einer der führenden Expert*innen der sogenannten «Modeling Disease». Anfang der Nullerjahre hat sich Medrano mit plastischen Chirurg*innen zusammengetan, um sich auf die Erforschung dieser Krankheit zu spezialisieren und Patientinnen mit ähnlichen Symptomen zu untersuchen. «Die klinischen Manifestationen zeigen sich sehr spät», sagt er. «Die Patientinnen selbst stellen den Zusammenhang mit dem, was sie vor zehn oder fünfzehn Jahren gemacht haben, nicht her. Sie sagen, dass sie wegen etwas anderem kommen. Und die meisten von ihnen wissen nicht genau, was ihnen injiziert wurde.»
Die Symptome sind von Patientin zu Patientin verschieden und hängen von genetischen Eigenschaften und der körperlichen Immunabwehr ab. Aufgrund der Fremdkörper entwickeln einige Menschen eine Autoimmunerkrankung wie Lupus oder rheumatoide Arthritis. Andere, so Dr. Medrano, spüren nur leichte Auswirkungen. «Da viele Ärzt*innen nicht wissen, was sie mit den Patientinnen machen sollen, schicken sie sie zu uns. So können wir viele Erfahrungen sammeln.»
Im Allgemeinen verschreibt der Rheumatologe eine kortisonbasierte Behandlung, um Entzündungen einzudämmen. Einige Patientinnen können nicht operiert werden, um die injizierte Substanz zu entfernen, weil ihre Haut durch Entzündungen oder Geschwüre zu stark geschädigt ist. «Diese Patientinnen befinden sich in der Schwebe, weil die Krankheit unheilbar ist und die psychologischen Folgen verheerend sein können.»
Dr. Medrano hat bereits mehrere Hundert Betroffene behandelt, darunter viele trans Frauen. Er bedauert sowohl die Grenzen der Medizin, die ihnen nicht immer helfen kann, als auch den Mangel an Prävention. Auch heute noch setzen Personen Spritzen mit schädlichen Inhaltsstoffen an. «Derzeit stelle ich zwischen zehn und fünfzehn neue Patientinnen pro Monat fest, es nimmt nicht ab», sagt er. «Und viele Patientinnen wollen aus Scham keinen Arzt sehen. Die Dunkelziffer ist also viel höher.»
Toña «Peplo . . . Peplopscoro. Ledertrazate. Coloikin . . . ». Toña versucht, die geschwungenen Buchstaben der Medikamente zu entziffern, die Dr. Medrano ihr verschrieben hat. «Es ist Kortison und Methotrexat», sagt sie schliesslich überzeugt.
Die 56-jährige trans Frau hat sich mehrere Mischungen von Silikon und Tieröl spritzen lassen, um Hüfte, Gesäss, Beine und Brüste zu formen. Ein «Arzt» habe die Behandlungen vor über 25 Jahren ihr und anderen Frauen in der trans Community angeboten. «Zuerst war ich mit dem Ergebnis zufrieden.» Vor rund zwei Jahren begann ihre Haut sich zu verhärten und zu erröten, es bildeten sich Blasen. Toña, die einen Friseursalon besitzt, musste ihr Arbeitspensum reduzieren. «Ich fühle mich schrecklich deswegen. Hätte es Alternativen gegeben, hätte ich diese Injektionen nicht machen lassen. Doch es gab keine.»
Heute lebt sie wieder bei ihrer 90-jährigen Mutter in Ecatepec, einem Vorort von Mexiko-Stadt. Immer wieder trifft sie auf junge trans Frauen und versucht, sie vor den Gefahren vielversprechender Injektionen zu warnen. «Sie hören aber nicht auf mich. Sie sagen, sie wollen das Beste aus ihrem Körper machen.»
Kenya Mit einer grossen Handbewegung zeichnet Kenya Cuevas ein rundes Gesäss in die Luft und zieht die Mundwinkel in ein müdes Lächeln. Die 46-jährige Trans-Aktivistin ist schön, selbstbewusst, anerkannt und von vielen bewundert. Und doch wollte sie ohne einen hübschen Hintern nicht mehr leben. «Ich hatte den Glauben an mich verloren», sagt sie heute.
Im Juli 2018 liess sie sich einen Liter Biopolymer auf Silikonbasis spritzen. Die Substanz hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten in ganz Lateinamerika einen zweifelhaften Namen gemacht, insbesondere in Venezuela, Kolumbien und Mexiko. «Der Tod hat einen prallen Hintern», lautete die Schlagzeile einer kolumbianischen Zeitung 2017 über die verheerenden Gesundheitsschäden.
«Ich weiss, dass ich mit den Injektionen einen Fehler gemacht habe, und kenne die Konsequenzen», sagt Kenya. «Doch ich stelle mich der Verantwortung. Ich war schon viele Male dem Tod nahe und habe keine Angst davor.»
Sabrina Sabrina (Name geändert) ist sich der Folgen der Injektionen genauso bewusst wie Kenya. Schliesslich setzt sie die Spritzen selbst an. Die 32-jährige trans Frau ist sichtlich nervös, dem Treffen sagte sie nur widerwillig zu. «Sie werden schockiert sein, aber ich weigere mich, Sie über mich urteilen zu lassen», sagt sie in einem bestimmten Ton.
Seit zwölf Jahren injiziert sie regelmässig Polymere auf Silikonbasis in andere trans Frauen. «Alle sind von meiner Arbeit begeistert. Ich liebe meinen Job und mache sie gerne schön. Ich bin mir bewusst, dass ich das Leben anderer gefährde. Sie wissen aber auch, welchen Risiken sie sich aussetzen.»
Sabrina sitzt lässig auf ihrem mit einer Leopardendecke bezogenen Bett und zeigt Fotos von ihren Injektionssitzungen. Die verwendeten Produkte sind mit Klebeband mit der Warnung «Fragile» eingepackt, die Labels mit der Aufschrift «Bio-Silk» hat sie selbst entworfen. Dem medizinischen Fachpersonal zufolge handelt es sich dabei um «zweifelhafte Ware, die nach Mexiko geschmuggelt wurde».
Für eine Injektion von einem Liter berechnet sie 9000 Mexikanische Pesos, rund 425 Euro oder 460 Franken. Sie bietet Behandlungen an den Beinen, Hüften oder am Gesäss, nicht aber an den Brüsten. Sie selbst litt bereits unter den Folgen von ausgelaufenem Mineralöl, nachdem sie als 12-Jährige ihre Brüste aufspritzen liess. Durch ihre Injektionen sei noch niemand krank geworden, behaupte sie, denn jede «weiss, was sie erwartet.»
Bety Mit dem Tod hat Bety hingegen ihre Erfahrung gemacht. Es war zur Zeit des «Fiebre del mineral», des Mineralölfiebers, das in den Achtziger- und Neunzigerjahren in der trans Community von Mexiko-Stadt ausbrach und bis heute seine tödlichen Kreise zieht. Die 54-Jährige ist gross und hat ein fröhliches Wesen. Da sie ihre Arbeit als «Spritzerin» schon lange hinter sich gelassen hat, erklärt sie sich zum Gespräch bereit. «Ich tat es immer nur als Gefallen, nie wegen des Geldes», sagt sie. Im Gegenzug erhielt sie Geschenke. Den Rest ihrer Zeit widmete sie sich der Sexarbeit.
«Als mir eine Freundin in die Beine spritzte, erschien es mir einfach, also begann ich auch damit», sagt sie. Die Injektionen probierte sie zuerst an sich selbst aus. «Zum Glück habe ich weder eine Vene noch eine Sehne erwischt!» Nachdem ihre Freundinnen ihren neuen Körper sahen, wollten sie auch. Es spiele keine Rolle, ob sie daran sterben würden. «Und so setzte sich die Mundpropaganda in Bewegung. Sie bestanden darauf, dass ich ihnen helfe.»
Während einer Sitzung verstarb eine Frau vor Betys Augen, nur wenige Augenblicke nach der Injektion. Das Öl war in die Lunge gedrungen. Die Familie der trans Frau habe ihr jedoch sofort verziehen: «Gott hat sie weggebracht. Wir wussten, dass sie sich injizieren lassen wollte.»
Von nun an assistierte sie nur noch bei den Injektionen, bevor sie selbst vor einigen Jahren krank wurde. «Manchmal frage ich mich: Habe ich Gutes getan? Habe ich Böses getan? Was habe ich getan?»
«Sie werden sich weiter spritzen lassen, weil sie es brauchen, weil es für sie wichtig ist»
Bety
«Ich möchte Substanzen finden, die risikolos injiziert werden können», sagt Dr. Adriana Lozana. Sie ist überzeugt, dass die Prävention bei trans Frauen an ihre Grenzen stösst. «Sie werden sich weiter spritzen lassen, weil sie weibliche Rundungen wollen, weil das für sie wichtig ist», sagt sie kopfschüttelnd. Sie hofft, dass die Medizin ihnen dabei helfen wird, statt sie zu verurteilen.
Reportage: Emmanuelle Steels
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