Schwule Weihnachten in Barcelona: Die Netflix-RomCom «Smiley»
Carlos Cuevas ist einer der Stars in dieser LGBTIQ-Liebesgeschichte
Die Sache mit Weihnachtsfilmen ist die, dass sie meist so sehr in Klischees rund um Weihnachtsbäume, Familienfeste und Schnee gefangen sind, dass es schwerfällt, sie als mehr zu sehen als vorhersehbare Stimmungsaufheller für die Festtage.
Klar, neuerdings kommen auch LGBTIQ-Charaktere in solchen Weihnachtswohlfühlfilmen vor (zuletzt u.a. «Single All the Way»), wobei es bislang meist nur attraktive schwule Paare ins Heile-Welt-Universum solcher extrem heteronormativen Holiday Specials geschafft haben. Lesben, trans, inter oder nicht-binäre Figuren sieht man eher selten. Und wenn LGBTIQ vorkommen, dann vorzugsweise smart lächelnd, aber ohne Sex. Man will ja niemanden verstören, so kurz vor Heiligabend. Ein romantischer Kuss unterm Mistelzweig (oder im Schneegestöber) ist da das höchste der Gefühle, scheint es. Und alle freuen sich über so viel Inklusivität.
Angesichts dieser Ausgangslage ist es gleich aus mehrfacher Hinsicht spektakulär, was Netflix da mit «Smiley» seit dieser Woche neu im Angebot hat. Denn hier wird die typische Weihnachtsromanze nicht nur mit einem schwulen Paar im Zentrum erzählt, sondern das Ganze gleich vom Spielfilm- zum Serienformat erweitert. Damit haben die Regisseur*innen David Martin Porras und Parta Pahissa acht Folgen à 45 Minuten Zeit, mehr zu erzählen als nur «Wie der muskulöse Barkeeper Àlex eines Tages den schüchternen Architekten Bruno kennenlernte».
Denn hier gibt’s in den diversen Nebenhandlungen – die eigentlich allesamt Haupthandlungen sind – lesbische Paare, Heteropaare, ältere Schwule, junge schwule Geflüchtete als dem Senegal, Marktfrauen, die sich nach Zärtlichkeit sehnen, und ganz viel Sex. Mit Sätzen wie «Ich lutsche am liebsten Ärsche und Schwänze», später ergänzt durch ein Muschi-Leck-Statement. Das ist in der Christmas-Filmwelt einigermassen revolutionär. Die entsprechenden Sexszenen sieht man übrigens auch. Weswegen Youtube für den Trailer eine Altersbestätigung verlangt!
«Tatsächlich Liebe» Die Serie «Smiley» ist ein spanisch-katalanisches Ensembleereignis, das man vielleicht vergleichen kann mit Klassikern wie «Tatsächlich… Liebe» (2003): es werden verschiedene Geschichten parallel zueinander erzählt und miteinander verwoben. Nur dass die hier rundum queer sind, selbst wenn’s um die Heteros geht, die sich Sorgen machen, dass jemand ihre kleinen Kinder mit geschlechtsspezifischen Pronomen ansprechen könnte und ihnen damit eine Gender-Identität aufzwingt, die möglicherweise nicht zu ihnen passt. (Was in der Serie ironisch reflektiert wird.)
Im Zentrum der in Barcelona spielenden Geschichte stehen Àlex und Bruno, beide Mitte 30. Sie lernen sich per Zufall kennen, weil Àlex einem Ex auf die Mailbox brüllt, was für ein Arschloch dieser sei. Aber er hat sich vom Festnetz aus verwählt und landet auf der Mailbox von Bruno, der romantische Filmkomödienklassiker liebt, mit seinem Hund lebt und sich nach einer Beziehung à la Cary Grant und Katherine Hepburn in «Leoparden küsst man nicht» (1938) sehnt. Obwohl sich Bruno-der-Architekt erst unsicher ist, ob er zurückrufen soll, meldet er sich bei Àlex um ihm zu sagen, dass seine Nachricht an der falschen Stelle angekommen sei. Die beiden treffen sich … und obwohl beide nicht so recht wissen, wie sie miteinander umgehen sollen, funkt es. Irgendwie.
Àlex fühlt sich angezogen von den Geschichten, die Bruno erzählt, die nichts zu tun haben mit Workout, Fitness, Muskelaufbau, Sex. Sondern stattdessen die romantische Ader bei Àlex treffen, die er hat – die aber alle seine One-Night-Stands nicht sehen (wollen). Àlex leidet darunter, dass alle mit ihm ficken wollen, aber niemand eine Beziehung möchte. Was sein älterer schwuler Chef Javier in der Bar als «echtes Dilemma» beschreibt, aus Sicht von jemandem, mit dem niemand vögeln will, weil er für die Grindr-Crowd zu alt ist (MANNSCHAFT berichtete). Was soll also das Jammern auf solchem Niveau?
Bruno wiederum fühlt sich körperlich zu Àlex hingezogen und mag dessen widerborstige Art. Er mag auch die Energie, die Àlex ausstrahlt. Und den Kick des Anderssein als er selbst. Die beiden landen im Bett. Gleich zu Beginn der Serie. Aber dann gehen die Probleme los. Denn wie soll es weitergehen? Der Sex war toll (für beide). Aber das wollen sie sich nicht eingestehen, denn sie passen ja grundsätzlich nicht zusammen. Es kracht. Und beide sind gleich wieder getrennt. Kommunikation scheint unmöglich. Doch dann kommen noch sechs lange Folgen?
«Pakt mit dem Kitsch» Wie der Kitschforscher Thomas Küpper in einem Interview zum Thema Weihnachtskitsch festgestellt hat: «Es gibt eine Art Kitschvertrag, einen Pakt mit dem Kitsch.» Der Vertrag setze ein grosses Vorvertrauen voraus, so Küpper. «Wenn ich mitleide mit einer Heldin oder einem Helden, muss ich darauf vertrauen können, dass es zum Happy End kommt. Ich investiere schliesslich Gefühle, ich bin verletzbar. Und es ist ein Paragraf meines Vertrags, dass die Geschichte gut ausgehen soll. Es kann zwischendurch Verwirrungen geben, die auch im Vertrag eingeräumt werden, sonst könnte ich ja nicht zwischendurch weinen. Aber ich muss die Gewissheit haben, dass am Ende alle glücklich sind.»
Aber ich muss die Gewissheit haben, dass am Ende alle glücklich sind
Trotz dieser Gewissheit im Hinterkopf entstehen in «Smiley» mehrfach Momente, wo man sich fragt: Vielleicht kommt es doch ganz anders? Denn sowohl Bruno (gespielt von Miki Esparbé mit herbem Dreitagebart-Charme) lernt einen charmanten Kollegen im Architekturbüro kennen, der total verknallt in ihn ist und in jeder Hinsicht der perfekte Lebensbegleiter wäre, als auch Àlex lernt einen fitnessbegeisterten Partyhengst kennen, der davon träumt, Àlex seinen Eltern im Senegal vorzustellen – auch wenn das Land für Homosexuelle nicht das einfachste Pflaster sei, wie er meint, und obwohl die LGBTIQ-Partyszene dort nicht so ausgeprägt sei. Immerhin: Sonne und Strand gibt es schon rund um Dakar, erfährt man. Und Easy Jet fliegt hin. Mit schwulem Bordpersonal!
Als Zuschauer*in sieht man die neuen Verpartnerungen und denkt sich: Realistisch betrachtet wäre das doch viel besser für Bruno und Àlex, oder? Aber Weihnachtsfilme sind – genau wie die Liebe im echten Leben – oft nicht realistisch. Sondern suchen das Besondere. «Magie» heisst es in «Smiley». Die Protagonist*innen wollen «Magie», und die Zuschauer*innen auch.
Lesbisches Paar in offener Beziehung Während Bruno und Àlex also ihren Weg zueinander suchen, sieht man zeitgleich die Beziehungskrise von Vero und Patri, die als lesbisches Paar beschliessen, ihre Beziehung zu öffnen und einen Dreier auszuprobieren. Dann sind da noch die Heteros Albert und Núria in einer Midlife Crisis (er hat nur noch mit sich selbst Sex, indem er masturbiert wenn die Kinder «Dora the Explorer» schauen). Auch die Geschichte von Àlex‘ Mutter und deren plötzlich wieder aufgetauchtem Jugendfreund wird erzählt, der einst der unzertrennliche Best Buddy ihres Mannes war.
Das Ganze basiert auf dem gleichnamigen Theaterstück von Guillem Clua, das 2012 in einem kleinen Theater in Barcelona herauskam. Das Stück transferierte an die grösseren kommerziellen Bühnen von Barcelona und lief dort bis 2015, dann kam es an zwei Theatern in Madrid raus. Zu diesem Zeitpunkt war der Text bereits in mehrere Sprachen übersetzt und wurde weltweit nachgespielt.
«Das Patriarchat ficken» Der vollbärtige Carlos Cuevas, der den Barkeeper Àlex spielt, kennen Netflix-Abonnent*innen aus der älteren Serie «Merlí» (sowie dem Spin-Off «Merlí: Sapere Aude»). Er hat sich vom Kinderstar zum imposanten Jungschauspieler weiterentwickelt. Als «Schönling» klagt er irgendwann, dass er es satt habe, jeden Tag die gleiche Routine zu absolvieren: «Aufstehen, Proteinshake, Fitnessstudio, Grindr, Ficken… und alles wieder von vorn.» Während Vero (gespielt von Meritxell Calvo) durchs Leben marschiert und «das Patriarchat fickt» (wie eine Freundin es formuliert), aber zur absoluten «Spiesserin» mutiert, wenn ihre Freundin mit jemand anderem (allein) im Bett gewesen sein könnte.
Das Tolle an der «Smiley»-Weihnachtsgeschichte ist, dass es keine reine Weihnachtsgeschichte ist, sondern die Handlung Silvester umfasst und bis zu den Heiligen Drei Königen am 6. Januar geht. Das Treffen der verschiedenen Paare und Familien unterm Weihnachtsbaum ist also nicht das unvermeidliche Finale, sondern nur eine Übergangsepisode. Toll ist auch, dass alle hier «erwachsen» sind und es keine typische LGBTIQ-Teenagergeschichte im Stil von «Élite», «Heartstopper» oder «Sex Education» ist.
«Gott, war das süss!» So viel sei verraten: Trotz Kitschvertrag und einer sich immer wieder ironisch kommentierenden Erzählung setzt das Drehbuch genügend Akzente, die daran erinnern, dass es nicht immer für alle gut ausgeht, trotz Liebe und Weihnachten und RomCom-Format. Aber damit wird die Handlung nicht überfrachtet, denn selbstverständlich soll jede*r Zuschauer*in am Ende sagen können: «Gott, war das süss!»
Cuevas und Esparbé sind es definitiv, ebenso Calvo mit Giannina Fruttero als ihrer Serienpartnerin Patri. Und alle anderen auch. Wobei es grossartig ist, dass hier nicht nur die Bel-Ami-Lookalikes Herzklopfen erleben, sondern Liebe gezeigt wird als etwas, das alle Generationen erleben, auf unterschiedliche Weise, aber dadurch nicht minder intensiv. Die Chemie stimmt zwischen den Mitwirkenden und das Drehbuch gleitet leicht und trotzdem mit Substanz dahin, nicht wie beim Mega-Flop «Bros» (MANNSCHAFT berichtete). Kurzum, ein schöneres Weihnachtsgeschenk hätte Netflix LGBTIQ-Zuschauer*innen 2022 nicht machen können.
Übrigens: Der Smiley, auf den der Titel anspielt, ist ein Emoji, das zwischen Bruno und Àlex nach dem ersten Kennenlernen verschickt wird, als Versuch einer Kontaktetablierung. Aber beide wissen nicht, wie sie darauf antworten sollen. Weil ein Smiley eben alles und nichts bedeuten kann, wenn jemand versucht zu sagen, dass er den anderen (vielleicht) liebt. Bis aus dem Smiley klare und unmissverständliche Worte werden, dauert es halt manchmal. Zum Beispiel acht Folgen à 45 Minuten.
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