Späte Gewissheit: Homophober Mord von 1997 war rechtsmotiviert

Das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen hat 30 Fälle auf rechten Hintergrund geprüft

Bochum: Anton Gera starb 1997 nach schwerer Gewalt. (Bild: Facebook/Wikimedia Commons CC BY-SA 3.0)
Bochum: Anton Gera starb 1997 nach schwerer Gewalt. (Bild: Facebook/Wikimedia Commons CC BY-SA 3.0)

Der homophobe Mord an Josef Gera war rechtsmotiviert, so das Projekt «Tore G NRW» des Landeskriminalamts Nordrhein-Westfalen. Ein Interview mit Projektleiter Jonathan Widmann.

Jonathan Widmann (42) ist Politikwissenschaftler und Leiter des Projektes «Tore G NRW» (Todesopfer rechter Gewalt in Nordrhein-Westfalen) beim Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen. Mit seinem Team hat er 30 Gewaltdelikte zwischen 1984 und 2020 auf einen möglichen rechten Hintergrund geprüft. Durch ihre Arbeit konnten nachträglich sieben Fälle als rechtsmotiviert bewertet werden. Darunter auch der Mord am schwulen Obdachlosen Josef Gera (MANNSCHAFT berichtete).

Herr Widmann, Auslöser für die Neuprüfung war der Dreifach Mord von Overath. Warum wurde dieser Mord überhaupt neu bewertet? Der Anstoss kam durch eine Presseanfrage der Lausitzer Rundschau. Sie haben gefragt, ob dieser Fall rechtsmotiviert einzuschätzen ist. Es war also eine Anfrage aus der Zivilgesellschaft. Dieser hat man sich von Seiten des Landeskriminalamts Nordrhein-Westfalen angenommen und den Fall nochmal geprüft.

Nach dem Fall von Overath haben Sie weitere Taten neu auf einen rechtsextremistischen Hintergrund geprüft. Nach welchen Kriterien? Der Fall von Overath war die Vorlage der Vorgehensweise. Wir haben uns Urteile weiterer sogenannter Grenzfälle aus Nordrhein-Westfalen angeschaut und anhand dieser Urteile Merkmale identifiziert, um Fälle neu zu bewerten. Über allem stand die Frage: Ist dieser Fall als rechtsextremistisch einzustufen? Wir haben die aktuell gültigen Kriterien des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes in Fällen politisch motivierter Kriminalität (KPMD-PMK) angewendet.

Was ist der KPMD-PMK? Das bundesweit abgestimmte Erfassungssystem, das wir angewendet haben, heisst KPMD-PMK. Es ist eine systematische Erhebung zu politisch-motivierten Straftaten. Es wurde 2001 eingeführt. Seitdem haben sich stetige Fortentwicklungen ergeben, unter anderem im Bereich der Hasskriminalität. Es ist ein lebendiges und lernendes System.

Bedeutet das, dass der heutige KPMD-PMK neue Kriterien innehat, die zu den damaligen Tatzeiten noch nicht berücksichtigt wurden? Die Kriterien im Bereich der Hasskriminalität und sexueller Orientierung gab es mit Einführung 2001 schon. Aber es gibt eine Veränderung in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Taten. Der zeithistorische Kontext mag damals anders geprägt gewesen sein. Wir haben eine Veränderung in der Perspektive und vor allem auch in der Sensibilität und das führt zu einer neuen Bewertung der Taten.

Wurde die sexuelle Orientierung als Kriterium auch schon vor dem KPMD-PMK berücksichtigt? Ich kann nur für den KPMD-PMK sprechen. Weitere Ausführungen kann ich dazu nicht tätigen, das liegt im Bereich der Fachexpert*innen.

Der KPMD-PMK wurde 2001 eingeführt. In Ihrer Forschung haben Sie auch drei Taten als rechtsextrem bewertet, die sich nach 2001 ereigneten. Warum wurden diese nicht schon von Anfang an als rechtsextrem-motiviert eingestuft, wenn man das Bewertungssystem doch schon hatte? Das, was ich über die gesteigerte Sensibilität gesagt habe, gilt auch für diese Fälle. Ein Fall von 2005 ist bald 20 Jahre her. Da hat sich einiges getan. Rechtsextreme Taten sind sehr herausfordernd und komplex. Man benötigt ein hohes Mass an Expertise. Auch hier haben sich in den letzten 20 Jahren die Perspektiven geändert. Wir haben eine Öffnung der Polizei erlebt. Wir haben neue Kolleg*innen hinzubekommen, die in der Einzelfallbetrachtung neue Ansätze einfliessen liessen. Heutzutage haben wir einen interdisziplinären Ansatz mit Kriminolog*innen, mit Sozialwissenschaftler*innen, mit Politikwissenschaftler*innen aber auch mit Psycholog*innen.

Jonathan Widmann vom Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen. (Bild: zvg)
Jonathan Widmann vom Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen. (Bild: zvg)

Für das Mannschaft Magazin von besonderem Interesse ist der Fall des Josef Gera, der 1997 wegen seiner sexuellen Orientierung ermordet wurde. Wie hat sich die Tat zugetragen? Josef Anton Gera ist am 17. Oktober 1997 in Bochum gestorben. Er war Teil der Obdachlosen- und Trinker-Szene. Er hat sich mit den Tätern in einer Baracke auf einem früheren Werksgelände getroffen. Sie haben miteinander getrunken. Im Laufe des Trinkgelage haben sich die beiden Täter vorgenommen, Josef Gera zu provozieren. Sie wussten von seiner Homosexualität. Das haben die beiden als Anlass genommen, ihn zunächst zu diffamieren und ihn dann gewaltvoll zu misshandeln und ihm schwere körperliche Schäden zuzufügen.

Das Opfer hat es noch geschafft, sich bis zur Strasse zu schleppen, konnte da noch um Hilfe rufen und aussagen, dass ihn Rechtsradikale so schwer zugerichtet haben. Er wurde in ein Krankenhaus gebracht. Wenige Tage danach ist er an den schweren Folgen der Tat gestorben.

Im Zuge der Ermittlungen wurde bekannt, dass Hakenkreuze und SS-Runen in dieser Hütte anzutreffen waren. Und dass die Täter Josef Gera schwer beleidigt haben aufgrund seiner sexuellen Orientierung. Das kann man als deutlich rechtsradikale Gesinnung einordnen.

Warum wurde die Tat erst so spät als rechtsextremistisch-motiviert bewertet, obwohl Josef Gera die Täter als Rechtsradikale beschrieben hat? Wir haben uns das Urteil genau angeschaut. Das Urteil ist die Instanz, in der die abschliessende Beweiswürdigung stattfindet. Dort wurden auch die verschiedenen Eingebungen der Zeug*innen hervorgebracht. Doch wie diese im Sinne der Beweiswürdigung bewertet wurden oblag dem Gericht. Die heutige polizeiliche Bewertung des Urteils hingegen unterliegt bei einem so grossen zeitlichen Abstand unterschiedlichen Perspektiven.

Das Gericht hat diese Quelle also nicht so gewertet, wie man es heute machen würde. Warum wurde die Tat heute als rechtsextrem gewertet? Entscheidend und unbedingt zu berücksichtigen ist, dass die polizeiliche Bewertung des Urteils damals anders stattfand. Über das Gericht können wir nicht urteilen oder bewerten. Wir haben in der Projektarbeit rückblickend sehr deutlich erkannt, dass das Tatgeschehen eine Dynamik aufzeigt, in der die Täter aus homophoben Gründen gewirkt haben. Letztlich war die sexuelle Orientierung ihres Opfers entscheidend für ihre Tat. So kommen wir heute zu einer Bewertung, die sich anders darstellt als damals.

Graffiti Street-Art über Josef Anton Gera in der Bochumer Innenstadt. (Bild: Ypsin, CC BY-SA 4.0)
Graffiti Street-Art über Josef Anton Gera in der Bochumer Innenstadt. (Bild: Ypsin, CC BY-SA 4.0)

Warum ist es wichtig, dass rechtsextreme Gewalttaten noch Jahre später als solche benannt werden? Es ist wichtig gegenüber den Opfern, die grosses Leid erfahren haben. Auch gegenüber den Hinterbliebenen wollen wir eine Verantwortung wahrnehmen. Das Projekt hat zudem Relevanz, weil es zur korrekten Erfassung der Taten beiträgt. Wir sprechen hier von Tötungsdelikten. Wenn wir hier Zahlen korrigieren und das im bundesweiten Austausch, können wir sagen, wie viele Menschen letztendlich aus rechtsmotivierten Gründen getötet wurden. Die Statistik verändert sich. Aus dieser Statistik leiten wir polizeiliche Präventionsmassnahmen ab und erstellen Prognosen. Das Projekt steht für eine proaktive Fehlerkultur. Es bedeutet Verantwortung.

Denken Sie, dass das Projekt beeinflussen wird, wie Fälle in Zukunft bewertet werden? Wir sind im Austausch mit den Expert*innen, die den KPMD-PMK massgeblich pflegen und weiterentwickeln. Wir bringen die Projektergebnisse ein und versuchen einen Anstoss für Diskussionen zu geben.

Mehr: Bei der Weltpremiere von «Queer» gab es in Venedig für Daniel Craig eine neunminütige stehende Ovation (MANNSCHAFT berichtete).

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