Abschied in Neubrandenburg: «Passt gut auf unsere Stadt auf!»
Der schwule Oberbürgermeister Silvio Witt mahnt und geht
Neubrandenburg bekam zuletzt viele Schlagzeilen, nicht alle waren rühmlich. Mobbing gegen Oberbürgermeister Witt und ein Bahnhof ohne Züge gehörten dazu. Doch nicht die Schlagzeilen bestimmen den Takt.
Silvio Witt liess noch einmal vor dem Rathaus Regenbogenfahnen hissen. Es war das letzte Mal in seiner Amtszeit als Oberbürgermeister, die eigentlich bis 2029 gedauert hätte (MANNSCHAFT berichtete).
Eine Regenbogenfahne spielte keine kleine Rolle für den vorzeitigen Rückzug des offen homosexuell lebenden Politikers. Neubrandenburg kann ein hartes Pflaster sein. Eine Momentaufnahme aus der drittgrössten Stadt in Mecklenburg-Vorpommern.
«Ich bereue die Entscheidung nicht»
Silvio Witt
Der OB und die Regenbogenfahne Für Witt sind die Tage als OB gezählt. «Ich bereue die Entscheidung nicht», sagt der 47-Jährige, als am vergangenen Samstag drei bunte Fahnen vor dem Rathaus gehisst werden.
Vorigen Oktober war Neubrandenburg bundesweit in die Negativ-Schlagzeilen geraten, als die Stadtvertreter per Verbotsbeschluss die Regenbogenfahne, Symbol für die Freiheit aller sexuellen Orientierungen, für Vielfalt und Toleranz, vom Bahnhofsvorplatz verbannten (MANNSCHAFT berichtete). Für den seit 2015 amtierenden Oberbürgermeister war das der Tropfen, der das Fass überlaufen liess.
Aber eben nur ein Tropfen, denn Witt berichtete von Anfeindungen, fortlaufenden Beleidigungen, mangelndem Rückhalt in der Stadtvertretung. Es wurde ihm zu viel: «Meine Privatsphäre und die meiner Familie und Freunde haben mir immer viel bedeutet, und ich schütze sie.» Einigen Stadtvertreter*innen ging die grosse Aufmerksamkeit, die der Stadt wegen des Themas zuteilwurde, zu weit oder sie fürchteten, der Streit um die Flagge könne die Stadtgesellschaft spalten. Einer von Witts Gegenspielern hatte offen erklärt, dass der Verbotsantrag nur dem Zweck gedient habe, dass der Oberbürgermeister gehe.
Gegen Spaltungen müsste die heute rund 65'000 Einwohner*innen zählende Stadt eigentlich gewappnet sein. Denn sie hat schon ganz anderes überstanden, nicht zuletzt einen verheerenden Stadtbrand 1945, der über 80 Prozent der Innenstadt zerstörte. Aufs Schwerste beschädigt wurde auch die Marienkirche, die nach dem späten Wiederaufbau seit 2001 als Konzertkirche dient.
«Ich habe Neubrandenburg viel zu verdanken. Wir haben Neubrandenburg viel zu verdanken. Passt gut auf unsere Stadt auf. Dann geht es uns allen gut»
Silvio Witt
Dort hielt Witt am vorigen Samstag seine letzte Rede als OB anlässlich der Jugendweihe. «Ich habe Neubrandenburg viel zu verdanken. Wir haben Neubrandenburg viel zu verdanken. Passt gut auf unsere Stadt auf. Dann geht es uns allen gut», gab er den jungen Menschen mit auf den Weg.
Im Klanglabor Zwei Tage zuvor steht Daniel Geiss in der Konzertkirche am Dirigentenpult. Vor ihm spielen in Orchesterformation Nachwuchsmusiker*innen im Alter von zehn bis 18 Jahren. Es ist die Generalprobe von Camille Saint-Saëns' «Karneval der Tiere», die abends aufgeführt wird. Geiss, Generalmusikdirektor und Chefdirigent der Neubrandenburger Philharmonie, ist zufrieden mit der Leistung des Klangkörpers. Im Format Klanglabor können Frühstudierende und Musikschüler gemeinsam mit der Neubrandenburger Philharmonie grosse Orchesterwerke einzustudieren und aufführen. «Ich wollte einfach sehr viel für junge Leute machen», so Geiss.
Die Konzertkirche hat einen klangvollen Namen, der über Neubrandenburg und die Region hinausreicht. «Ich glaube, es gibt wirklich in einer Stadt dieser Grösse auch innerhalb Deutschlands nichts Vergleichbares», sagt Geiss, der viele Säle kennt und mehrere Monate im Jahr auf Konzerttour ist. Auch die ganz grosse Musik-Liga kennt er. Allein in den letzten drei Jahren habe er 25 Konzerte in der Elbphilharmonie gespielt. «Alle ausverkauft.» Auftritte hatte er auch am Teatro Colon in Buenos Aires, am Teatro Real Madrid und beim Zürcher Kammerorchester.
Der Kulturfinger Der gebürtige Essener Geiss ist seit rund zwei Jahren in Neubrandenburg, hat aber auch einen zweiten Wohnsitz in Mainz und pendelt zudem nach Köln. Ein Leben auf der Überholspur für die Musik. Das 68-köpfige Ensemble der Neubrandenburger Philharmonie hat es ihm angetan. «Das Orchester spielt auf einem wahnsinnig guten Niveau. Die Musikerinnen und Musiker fühlen sich wohl hier, und es gibt eine sehr, sehr tolle Ethik in diesem Orchester, auch sich vorzubereiten, die Sachen gutzumachen.» Belohnt wird das mit meist ausverkauften Konzerten vor 800 Besucher*innen.
Geiss geniesst auch etwas, was die Tourismusregion ausmacht, die Landschaft und die Natur. «Ich bin fast jeden Tag irgendwo im Park und am See und ich finde, das gibt schon eine unglaubliche Wohnqualität.»
Wirklich sichtbar wird das von der 15. Etage des sogenannten Kulturfingers aus, einem 56 Meter hohen Turmhochhaus an der Südseite des Zentrums Haus der Kultur und Bildung, das kurz «HKB» heisst. Dort zeigt sich, wie nah der grosse Tollensesee an die Stadt grenzt, wie zentral die Konzertkirche liegt, wie geordnet die Gebäude-Quadranten der Altstadt und die sie umgebende intakte 2,4 Kilometer lange Stadtmauer mit ihren vier Stadttoren verlaufen, die Neubrandenburg den Namen Vier-Tore-Stadt geben.
«Das prächtigste Tor ist das Stargarder Tor, denn die Front erinnert an den Ostgiebel der Marienkirche», sagt Kjell Tiedemann vom Regionalmuseum Neubrandenburg. Das Tor stammt aus dem 14. Jahrhundert und ist auf der Stadtseite mit Terrakotta-Figuren verziert, die aufgrund ihrer gebetsähnlichen Arm- und Handhaltung Adorantinnen genannt werden. Zweifelsfrei gesichert ist die Bedeutung der Figuren aber noch nicht.
Zug nach Nirgendwo Untergebracht ist das Regionalmuseum im historischen ehemaligen Franziskaner-Kloster, etwas mehr als einen Steinwurf vom Bahnhof entfernt. Der brachte Neubrandenburg zuletzt viel Spott ein, obwohl die Stadt nichts dafür konnte. «Alles steht still in Neubrandenburg», lautete eine Schlagzeile, die für den Bahnhof völlig zutreffend war. 14 Monate lang war das Oberzentrum im Südosten von MV wegen Bauarbeiten vom Zugverkehr abgekoppelt. «Das war schon ein Imageschaden für die Stadt und die Region», sagt Torsten Haasch, Hauptgeschäftsführer der IHK Neubrandenburg, deren Kammerbereich sich mit 10'000 Quadratkilometern auf fast die Hälfte des Landes MV erstreckt.
Haasch schüttelt noch heute den Kopf, wenn er daran denkt. Tausende Pendler mussten auf Schienenersatzverkehr umsteigen. Güterzüge rollten nicht durch den Bahnhof. «Das war wirklich ein grosses Problem.» Selbst ein Bahnsprecher hatte unumwunden eingeräumt: «Wir haben's versemmelt an der Stelle.» Zwar läuft der Verkehr seit dem 1. April wieder. Aber weiterhin ist es nicht möglich, ohne Umsteigen die Landeshauptstadt Schwerin zu erreichen. Auch ICE-Züge verkehren nicht, da die Bahnsteige dafür zu kurz sind.
16'000 Einpendler*innen täglich Doch Haasch, seit Jahrzehnten bei der Kammer und seit 2012 deren Hauptgeschäftsführer, hält sich nicht zu lange mit diesem Mangel auf. Für ihn ist Neubrandenburg, das im Herzen Mecklenburgs liege, ein Industriestandort. «Aber einer, der unterschätzt wird.» Durch die massive Expansion zu DDR-Zeiten – Neubrandenburg war Bezirkshauptstadt – entstanden grosse neue Wohngebiete wie die Oststadt und der Datzeberg. Neubrandenburg war die jüngste Stadt der DDR und zählte 1990 rund 90'000 Einwohner*innen.
Maschinenbau, Lebensmittelindustrie, erneuerbare Energien, Tourismus sind nur einige Wirtschaftszweige, die Haasch als Stärken aufzählt. Auch die Nähe zur polnischen Grenze und der Stadt Stettin sowie zum eineinhalb Bahnstunden entfernten Berlin sprächen für Neubrandenburg. «Wir haben mehr Arbeitsplätze als eigenes Arbeitskräftepotenzial aus der Bevölkerung, denn täglich pendeln etwa 16'000 Menschen aus der Region nach Neubrandenburg, um hier zu arbeiten.»
Nachtjacken auch am Morgen Dass die einstige kleine Ackerbürgerstadt, die in diesem Jahr das 777. Stadtjubiläum feiert, auch gut bürgerlich «kann», zeigt sie im Jahnviertel mit seinen repräsentativen Bürgerbauten aus der Gründerzeit und den Jahren zwischen 1875 und 1914. Die Gegend hinter dem Landgericht wird auch «Nachtjackenviertel» genannt. Der Grund: Die Villeneigentümer sollen durchaus auch am späteren Morgen in der «Nachtjacke» an der Tür erschienen sein. Text: Helmut Reuter
Im Kostümladen Witte in Wien schlägt jedes Verkleidungsherz Purzelbäume. Inhaber Günther Haas hat den traditionsreichen Laden ohne grossen Plan übernommen und bietet Dinge an, die niemand wirklich braucht, aber allen Spass machen – zum Beispiel zum Pride-Shopping am 23. Mai (MANNSCHAFT-Story).
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