Rio Reiser – 70 Jahre schwuler König von Deutschland
Den Anarchisten hatten sie damals gern, aber nicht den Mann, der sich nach Liebe sehnte, schreibt unser Kommentator
Vergangenen Donnerstag wäre Rio Reiser 70 Jahre alt geworden. Es wird Zeit, dass sich auch Jüngere wieder an den Musiker erinnern, der wie ein grosser Bruder dafür kämpfte, dass es anderen Menschen auch gut geht, schreibt Jan Feddersen, Vorstand des Queeren Kulturhauses E2H, in seinem Samstagskommentar*.
Am Donnerstag wäre er 70 geworden, kein Alter heutzutage mehr, aber dieser Musiker, eine Legende nicht nur in Berlin, seiner Heimatstadt, starb schon als jüngerer Mann, 46-jährig, in Nordfriesland, knapp vor der dänischen Grenze: Rio Reiser, begnadeter Musiker, Stimme der alternativen Bewegung, ein Mann, dessen Stimmbänder Gefühle tiefster Empfindsamkeit transportiert, von denen andere Sänger seiner Generation nicht einmal ahnten, dass man sie haben kann. Gefühle der Verletzung, der Versehrtheit, der Hoffnung und der Sehnsucht nach einem Besseren, nach Liebe etwa.
Sein Weg begann in den Sechziger Jahren. Die Jugend verbrachte er im Fränkischen, sein ästhetischer Mittelpunkt lag schon kurz darauf wie die meisten Jahre seines Lebens im Westen Berlins, in der Zeit der Hausbesetzungen, der Militanz, des Aufbruchs und des Aufruhrs. Mit ihm sind Klassiker wie «Keine Macht für niemand», «Macht kaputt, was euch kaputt macht» und «Rauch-Haus-Song».
Später waren es grandiose Popklassiker wie «König von Deutschland», den er für die SED-Nachfolgepartei PDS im Wahlkampf spielen liess, aber auch Balladen wie «Junimond» und «Für immer und dich» – ergreifende Texte zu perfekten Sounds: Rio Reiser war ein Kämpfer, ein leidenschaftlicher Streiter für eine bessere Welt, ein Wütender ob mieser Verhältnisse.
Verblüffend ist allein, dass Rio Reiser, immer schon schwul, nicht wie andere aus der Musikbranche, weder aus dem Schlager noch aus dem Independent Pop wie er, entweder im Schrank bleiben wollten oder gar die schwere heterosexuelle Camouflage spielten. Rio Reiser war indes kein schwuler Musiker – er war bei seinem Millionenpublikum eine Ikone, ein Vorsänger, ein Stichwortgeber womöglich, weil sein Schwulsein eher öffentlich keine Rolle spielte.
Ey, Jungs, ihr könnt gern schreiben, dass ich schwul bin.
Ich habe ihn Ende der Achtziger Jahre bei einer Pressekonferenz kennengelernt. Es ging um ein neues Album, und Rio Reiser erzählte dieses und jenes, aber dann sagte er, Ey, Jungs, ihr könnt gern schreiben, dass ich schwul bin. Mit glühendem Stift notierte ich eben dies sofort. Aber die anderen blieben bewegungslos. Bis einer sagte: Rio, schön und gut, aber das können wir nicht, weil – so’n warmer Junge, den mag das Publikum nicht.
Diese Episode gehört zu den für mich wichtigsten meiner Ereignisse zur schwulen Empfindsamkeit: Die da behaupteten, dass Schwules die Leute nicht vertrügen, waren ja keine anderen Homos – sondern Heteros. Und ihr freundliches Getue, mit der Diskretion zum Thema Homosexualität eigentlich dem Sänger, mithin Rio Reiser, einen Gefallen zu tun, war vergiftet.
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Sie wollten nicht über die andere, die nichtheterosexuelle Liebesfähigkeit, über Rios Sehnsucht sprechen – sie wollten ihn zu einem kalten Popprodukt machen, weil er ihren heterosexuellen Wünschen, nicht ihren Üblichkeiten entsprach. Ja, den Häuserkämpfer, den Anarchisten, den Rebell, den hatten sie gern, aber nicht den Mann, der sich nach Liebe sehnt (und der nicht allein Sex sucht).
Rio Reiser, so haben es politische Gremien in Berlin beschlossen, wird Endes Jahres mit einer besonderen Ehre bedacht – der Heinrichplatz am legendären SO36-Veranstaltungszentrum, dem Vatikan der Punkbewegung, wird in Rio-Reiser-Platz umbenannt (MANNSCHAFT berichtete). Sein Nachlass ist bereits, auch dies eine Ehre, vom Literaturarchiv Marbach in Obhut genommen worden.
Möglich, dass im 2023 zu eröffnenden Queeren Kulturhaus bald Rio Reisers Flügel einen würdigen Platz bekommt. Am Samstag findet in der Alten St. Matthäus-Kirche in Berlins Kreuzberg ein Gedenkliedernachmittag statt (zur Facebook-Veranstaltung). Es wird Zeit, dass sich auch Jüngere an jemanden wieder erinnern, der wie ein grosser Bruder dafür kämpfte, dass es anderen Menschen auch gut geht – umsichtig und mit einer Stimme, die an souliger und bluesiger Kraft so kernig und intim zugleich war keine andere in ihrer Zeit in unserer Welt: Für immer und ihn!
*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
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