Queere Avantgarde – Ausstellung mit «Wow»-Effekt

Bahnbrechende Kunstschau zur LGBTIQ-Vielfalt der Moderne in Düsseldorf

«Bank Holiday Monday» von Gluck aus dem Jahr 1937 (Ausschnitt)
«Bank Holiday Monday» von Gluck aus dem Jahr 1937 (Ausschnitt) (Bild: Privatsammlung, Courtesy of The Fine Art Society Ltd/VG Bild-Kunst, Bonn 2025)

Ein Gemälde, das Odysseus an den Rand drängt, Salons voller Exzentrik und verborgene Botschaften: Wie queere Künstler die Avantgarde prägten - und heute oft vergessen sind.

Es ist ein überraschender Blick auf eine vergessene oder marginalisierte Kunst der Avantgarde der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen (K20) in Düsseldorf zeigt mit «Queere Moderne. 1900 bis 1950» (vom 27. September 2025 bis 15. Februar 2026) die nach ihren Angaben erste umfassende Ausstellung in Europa zum Beitrag von Künstler*innen, die sich nicht mit dem traditionellen Rollenbild von Mann und Frau oder anderen gesellschaftlichen Normen rund um Geschlecht und Sexualität identifizierten.

Besucher*innen vorm Gemälde «Die Dekoration» von Dame Ethel Walker
Besucher*innen vorm Gemälde «Die Dekoration» von Dame Ethel Walker (Bild: Fabian Strauch/dpa )

Zu sehen sind mehr als 130 Werke, darunter Gemälde, Zeichnungen, Fotografien, Skulpturen und Filme sowie Literatur und Archivmaterial von 34 internationalen Kunstschaffenden. «Das, was wir als klassische Moderne bezeichnen, entsprach lange Zeit einem bestimmten westlich und männlich dominierten Narrativ», sagte Kunstsammlungschefin Susanne Gaensheimer bei der Vorstellung der Schau.

Ein frischer Blick auf die Moderne Nach dem Zweiten Weltkrieg sei Abstraktion das Kriterium für Relevanz und Qualität der Avantgarde geworden. Die Kunstsammlung wolle diese Perspektive erweitern und Kunst, Strömungen und Positionen vorstellen, die «am Rande oder gar nicht» gezeigt wurden. Damit solle ein «frischer Blick auf die Avantgarde» ermöglicht werden. Gaensheimer unterstrich auch die Aktualität der Schau: «Angesichts zunehmender Diskriminierung queeren Lebens in vielen Teilen der Welt und auch bei uns, ist es umso wichtiger, die Geschichte queerer Kultur sichtbar zu machen» (MANNSCHAFT berichtete über Diskriminierung an Schulen heute).

Odysseus ist unwichtig Schon beim Eintreten in den Ausstellungssaal des K20 stellt sich ein «Wow»-Effekt ein angesichts der vielfältigen und oft unbekannten Werke. Zu sehen ist ein wandfüllendes Gemälde der Schottin Dame Ethel Walker von 1920 mit einer Szene nackter Frauen aus Homers «Odyssee», in der Odysseus allerdings völlig bedeutungslos an den Rand gedrängt wird.

Gezeigt wird auch «Die Quelle» von Ludwig von Hofmann aus dem Jahr 1913. Das antikisierende Aktbild von drei schönen Jünglingen hatte der Schriftsteller Thomas Mann erworben, der sich zu Männern hingezogen fühlte und in vielen Werken über homoerotisches Begehren schrieb. Das Aktbild begleitete Mann bis ins Exil und hing in seinem Arbeitszimmer.

Lotte Lasersteins «Ich und mein Modell»
Lotte Lasersteins «Ich und mein Modell» (Bild: Privatsammlung, Courtesy Agnews, London/VG Bild-Kunst, Bonn 2025)

Viele Namen der Künstler*innen sind heute einer breiten Öffentlichkeit nicht oder kaum bekannt. Grossformatig in symbolistischem Stil porträtierte etwa die Amerikanerin Romaine Brooks (1874-1970) Frauen avantgardistischer Kreise. Lotte Laserstein (1898-1993), die vor den Nazis nach Schweden flüchtete, porträtierte sich zusammen mit ihrer Geliebten Traute Rose, die zärtlich ihre Hand auf Lasersteins Schulter legt.

Subtile Botschaften Oft weisen subtile Codes auf Homosexualität hin, etwa in dem Gemälde «Der sterbende Dandy» (1918) von Nils Dardel (1888-1943), in dem nur ein Mann um den von Frauen gehaltenen Sterbenden weint. Der schwedische Künstler Dardel pflegte auch eine Beziehung zu dem berühmten Galeristen Alfred Flechtheim, doch nach Gerüchten über seine Homosexualität heiratete er.

Die Idee zu der Ausstellung über queere Kunst hatte die Kunsthistorikerin Anke Kempkes, die zusammen mit Isabelle Malz die Präsentation kuratiert hat. Vor einigen Jahren stiess Kempkes nach eigenen Angaben mit ihrem Projekt in den grossen Museen noch auf Zurückhaltung. Als zu abseits und gewagt sei das queere Projekt mit seiner Vielfalt von undogmatischen, exzentrischen und neoromantischen Stilen angesehen worden.

Auch die Recherche zu den Kunstwerken erwies sich als kompliziert, da viele unkonventionell lebende Künstler und Künstlerinnen keine direkten Erben hatten, verfolgt wurden oder ihre Werke in den Wirren des Krieges zerstört worden waren.

Ludwig von Hofmanns «Die Quelle», 1913
Ludwig von Hofmanns «Die Quelle», 1913 (Bild: ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv/Stephan Bösch)

Vielfalt der Stile Queere Netzwerke habe es bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegeben, sagt Kuratorin Malz. Im Zentrum standen von lesbischen Frauen geführte Salons in Paris. Die einflussreichsten Literatur- und Kunstsalons wurden von den Dichterinnen Natalie Barney und Gertrude Stein sowie den Buchhändlerinnen Adrienne Monnier und Sylvia Beach geführt. Dorthin kamen auch Pablo Picasso oder James Joyce.

Das Plakat zur Ausstellung «Queere Moderne. 1900 bis 1950» an der Fassade der Kunstsammlung
Das Plakat zur Ausstellung «Queere Moderne. 1900 bis 1950» an der Fassade der Kunstsammlung in Düsseldorf (Bild: Fabian Strauch/dpa)

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als insbesondere Homosexualität unter Männern weithin kriminalisiert und Homosexualität unter Frauen tabuisiert wurde, lebten viele Künstler*innen nach aussen hin dennoch ein gesellschaftlich angepasstes Leben. Es gehe aber weniger darum, die sexuellen Orientierungen einzelner Künstler und Künstlerinnen zu zeigen, sagte Kempkes. Vielmehr sollten nicht konforme Identitäten, Begehrensformen und Lebensweisen sichtbar gemacht werden. Queere Kunst sei keine einheitliche Bewegung, sondern eine Vielfalt von Stilen, Themen und Haltungen, «die unser bisheriges Verständnis von moderner Kunst erweitern und interessant verkomplizieren».

«Ich weiss, was es bedeutet, im ländlichen Raum Vielfalt zu leben.» Sophie Koch ist die neue Queerbeauftragte der deutschen Bundesregierung (MANNSCHAFT berichtete).

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