Queer im Wallis – Im Paradies des Teufels
Aufwachsen in einer tief katholischen und stockkonservativen Gegend
«Ins Herz gemeisselt» heisst es so schön auf den Plakaten von Valais/Wallis Promotion. Ob Skifahren oder Wandern, das Sonnenland der Schweiz ist toll für einen Urlaub – doch zum Aufwachsen für jemanden mit nicht heteronormativer Gefühlslage eher schwierig. Mittlerweile scheint sich aber etwas getan zu haben im Wallis. Ein persönlicher Bericht.
Von: Sarah Stutte
Für diejenigen, die noch nie da waren: Das Wallis ist der drittgrösste Schweizer Kanton, der ganz unten im Südwesten liegt und an den französischen Teil (Romandie) des Landes grenzt. Deshalb ist das Wallis auch zweisprachig – im Oberwallis wird Deutsch gesprochen (oder zumindest ein für alle restlichen Schweizer*innen sowie Ausländer*innen ein vollkommen unverständlicher Dialekt) und im Unterwallis Französisch. Der Kantonshauptort Sitten (Sion) liegt im französischen Teil, hübsch eingebettet in die vielen beschaulichen Rebberge.
Im Oberwallis findet sich dafür das legendäre Matterhorn, samt dem Ferienort Zermatt und anderen Touristenmagneten. Auch der bis jetzt noch grösste Alpengletscher, der Aletsch, liegt in unmittelbarer Nähe. Das ist alles toll und an der Natur gibt es auch nichts zu beanstanden. Doch hier aufzuwachsen, ist kompliziert. Vor allem als Jugendliche auf Identitätssuche. Denn das Wallis ist überdies tief katholisch – im Grunde das Bayern der Schweiz – und deswegen auch stockkonservativ.
Andersartigkeit jeden Tag gespiegelt Ich bin mit einem eher offenen, deutschen Gemüt und meinen 13 Jahren von einer eher städtischen Umgebung nach «Zaniglas» (St. Niklaus) verpflanzt worden – ein Dorf im Mattertal mit knapp 2200 Einwohner*innen. Der längste Weiler im Oberwallis, in dem einmal im Jahr, nämlich am 6. Dezember, etwas Aufregendes passiert. Dann wird über den Zwiebelturm der katholischen Kirche der grösste Nikolaus der Welt gezogen, der es mit seinen 37 Metern Höhe sogar bis ins «Guiness Buch der Rekorde» geschafft hat. Die restlichen 364 Tage sagen sich hier – meist im Schatten des Tals – Fuchs und Hase gute Nacht, und vom Tod des Altpfarrers erfährt man schon, bevor dieser tatsächlich nicht mehr unter den Lebenden weilt.
Sich in diesem ureigenen Mikrokosmos mit seinen Regeln und Geheimnissen zurechtzufinden, umgeben von hohen Bergen, die manchmal genauso gespenstisch wirken wie die Geschichten, die von ihnen widerhallen, war für mich als Teenager erstmal nicht einfach. Ich fühlte mich innerlich zerrissen, da ich hier wie dort nicht dazugehörte und äusserlich gefangen, weil abgeschnitten von der Welt. Ich musste nicht erst merken, dass ich anders bin, mir wurde diese Andersartigkeit jeden Tag gespiegelt.
Es war, als ob ich mich auf einem fremden Planeten befand, auf dem alle sich in stillem Einvernehmen miteinander verständigten, während ich den Mund aufmachte und kein Wort über meine Lippen brachte. Stumm blieb. Das resignierte mich und in diesem Gefühl wollte ich nicht bleiben. Also versuchte ich nach und nach, die mir unwirtliche Umgebung zu erforschen, lernte die doch ganz irdischen Walliser*innen kennen, ihre durchaus komplizierte Sprache und Gepflogenheiten.
Kulturschock mit 20 Jahren Doch irgendetwas stimmte immer noch nicht – trotz der erweiterten Stufe mit Freundschaften und der mir heimisch gewordenen Dorf-Videothek (Ja, die gab es noch in den 90ern!), in der ich jede freie Minute verbrachte. Ich kam aber nicht darauf, was es war – und so verging die Zeit. Erst als ich mit 20 Jahren für ein Radiopraktikum nach Bern zog, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Ich mochte Frauen – und ein bisschen auch Männer, aber vielmehr Frauen.
In Bern prasselten so viele Zeichen wie ein Holzschlaghammer auf mich ein, dass ich sie gar nicht ignorieren konnte. Da war dieses lesbische Pärchen, das Hand in Hand in der Fussgängerzone schlenderte und sich mitten auf der Strasse küsste. Ich hatte im Studentenwohnheim plötzlich eine queere Nachbarin, und diese nahm mich dann auch noch mit in den damaligen Gay-Club «Samurai», wo mich buchstäblich der Kulturschock traf. Diesmal aber nicht, weil ich mich wieder auf einem fremden Planeten befand, sondern sich eher ein Gefühl von Heimat in mir ausbreitete.
Meine Mutter schnitt mir ein paar Jahre lang die «Dr. Sommer»-Seiten aus der Bravo heraus
Keine «Role Models» im Oberwallis Dieses ganze Universum voller Möglichkeiten war vor mir geheim gehalten worden, durch einen Ort, an dem es nicht existierte. Und das lag sicher nicht nur daran, dass ich eine Spätzünderin war, weil meine Mutter mir ein paar Jahre lang die «Dr. Sommer»-Seiten aus der Bravo herausgeschnitten hatte. Nein, der Grund war, dass ich in meiner Schule in St. Niklaus – wo damals noch in jedem Klassenzimmer ein Kreuz hing – im Aufklärungsunterricht nie etwas anderes gehört hatte als das heteronormative Geschlechtermodell.
Ich habe natürlich auch nie ein queeres Pärchen gesehen, das eng umschlungen bei Tageslicht auf den Dorfstrassen unseres entlegenen Tals herumspaziert wäre – Gott bewahre. Hier kennt jede*r jede*n und das Getuschel ist nie weit entfernt. Ich erinnere an den Pfarrer! Als ich im Oberwallis aufwuchs, gab es ferner noch keinerlei Beratungsstellen in den grösseren Städten Visp und Brig, die mich in irgendeiner Weise erleuchtet hätten. Auch das Internet steckte zu dieser Zeit noch in den Kinderschuhen respektive hatte ich keinen Zugang zu einem Computer – das kam alles erst viel später.
Zugegeben, dass die Vorbilder fehlten, war seinerzeit nicht nur im Wallis so, sondern auch anderswo in ländlichen Gegenden. Doch in Deutschland gibt es beispielsweise seit 1996 den Verein Fluss e.V., der im Raum Freiburg und überregional gesellschaftspolitische Bildungsarbeit zu Geschlecht und sexueller Orientierung leistet. Dazu bieten die ehrenamtlichen Mitarbeitenden neben Beratungen für queere Menschen unter anderem auch Workshops und Projekte in Schulen an, um dort ein grundlegendes Rollenverständnis und Themen wie Identitätsfindung überhaupt einmal aufs Trapez zu bringen.
Das wäre auch für das Oberwallis, für mich und andere Jugendliche, die in den frühen 90er-Jahren dort feststeckten, hilfreich gewesen. An ein Coming-out war unter diesen Umständen gar nicht zu denken. Vor allem nicht für trans Menschen, die für ihre Transitionsprozesse auf therapeutische Begleitung angewiesen sind. Dafür fehlte das Gefühl der Sicherheit in einer Umgebung, die so tat, als gäbe es uns nicht.
An den Gefühlen zerbrochen Wo waren die anderen queeren Jugendlichen und was ist mit ihnen passiert? Diese Frage habe ich mir später immer wieder gestellt. Denn es war sonnenklar, dass ich nicht die Einzige war. Viele sind vermutlich abgewandert und hatten wie ich Glück, dass der Selbstfindungsprozess sich erst nach ihrer Landflucht in Gang setzte.
Andere, die schon vorher mit ihren Gefühlen gerungen haben, hielten den Druck in sich vielleicht nicht mehr aus und wählten den Weg zur Ganterbrücke. Die Selbstmordrate im Oberwallis war damals sehr hoch. Allein in meiner Oberstufe nahmen sich innerhalb dreier Jahre mindestens drei Jugendliche das Leben. Das mag verschiedene Gründe gehabt haben, doch es kann gut sein, dass auch jemand darunter war, der sich aufgrund seiner sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität zermürbte und dem oder der im entscheidenden Moment niemand zur Seite stand.
Mit der ersten Pride, die im Sommer 2001 in Sitten stattfand, wurde dann erstmals ein Zeichen der Sichtbarkeit gesetzt. Dieses hatte sich die Koordinatorin des Anlasses, Marianne Bruchez, auf die Regenbogenfahne geschrieben. Die «Jeanne d’Arc von Sitten», wie sie aufgrund ihres unermüdlichen Einsatzes genannt wurde, bekam dafür natürlich reichlich Gegenwind zu spüren.
Da lag mein Coming-out schon drei Jahre zurück und ich war zwar nicht überrascht, aber durchaus befremdet von der vornehmlich religiösen Hetze im Vorfeld des Anlasses. Vor einer «teuflischen Versuchung» wurden beispielsweise in der Unterwalliser Zeitung Nouvelliste die Leser*innen mit einem ganzseitigen Inserat gewarnt. Was das gekostet haben muss! Das schien aber die geringste Sorge der Auftraggeberin zu sein – einer Gruppierung namens «RomanDit», die der schon seit über 40 Jahren im Wallis aktiven, erzkatholischen Piusbruderschaft nahesteht.
Je näher der Termin der ersten Pride rückte, desto grotesker wurde die Debatte
Erste Pride und Sturm der Entrüstung Hauptsache, sie konnten kundtun, dass «Homosexualität schädlich für die öffentliche Gesundheit, die Jugend, die Familie und die Kirche ist», wie in der Anzeige weiter zu lesen war. Einige Wochen zuvor hatte schon der damalige Bischof die Diskussion um die Pride befeuert, indem er ebenfalls den Teufel bemühte, der hier seine Hände im Spiel hätte. Anscheinend stiess die Kreativität an ihre katholischen Grenzen. Im Walliser Boten versuchte er dann zu verschlimmbessern, denn Homosexualität im Allgemeinen sei nicht das Problem, sondern «diese freizügige Parade». Ein solcher Anlass – ähnlich der Streetparade – gehöre schliesslich nach Zürich und nicht ins beschauliche Sitten.
Je näher der Termin der Pride rückte, desto grotesker wurde die Debatte. Von den Müttern, die mit ihren Kindern im Schlepptau vor der Sittener Kathedrale gegen den Anlass protestierten, um ihre Kinder vor «der Perversion» zu schützen, bis zu den «RomanDit’s», die einfach keine Ruhe gaben. Da der Teufel offenbar keine grosse Rückendeckung gab, versuchte sich die Gruppierung nun in Verschwörungstheorien. Von einer «internationalen Bewegung, die aus allen Jugendlichen Homosexuelle machen will», war die Rede.
Am Schluss half dann nur noch Beten vor einer Kirche im Stadtzentrum – da war der Umzug aber schon in vollem Gang, mit über 20’000 Menschen (einschliesslich mir), die sich friedlich feiernd und fröhlich tanzend ihr Leben nicht vorschreiben lassen wollten. Als 2015 dann die zweite Pride in Sitten stattfand, gab es wiederum Misstöne des Bischofs – inzwischen ein anderer – und Widerstand regte sich diesmal in den Untiefen der Social-Media-Gefilde. Doch die Kontrastimmen waren schon leiser geworden, weil im Wallis inzwischen bemerkt wurde, dass man sich selbst hier der Welt gegenüber nicht ganz verschliessen kann.
Oberems als Pionierin Die Pride war ein Türöffner und ebnete schliesslich den Weg für Anlaufstellen wie den Verein «QueerWallis», der sich 2016 formierte. Heute bietet dieser neben Beratungsangeboten für die Community und deren Angehörige auch regelmässige Anlässe wie Filmabende oder gemeinsame Ausflüge an. Mit öffentlichen Themenabenden unter dem Motto «Wir sind wie ihr – und queer» versuchen die Mitglieder zudem, Vorurteile in der Bevölkerung abzubauen. Und dann dies: Als im September 2021 über die «Ehe für alle»-Initiative abgestimmt wurde, nahm die kleine Oberwalliser Gemeinde Oberems mit sagenhaften 85,7 % die Vorlage an. Das mag nur eine Randnotiz sein, bedeutet mir persönlich aber sehr viel.
Dass dies ausgerechnet in dem Kanton geschehen ist, in dem ich früher nur selten das Gefühl hatte, zu mir selbst finden zu können, zeigt den Wandel, der sich in den Köpfen und Herzen mit den Jahren vollzogen hat, und dass auch das Wallis bezüglich Toleranz und liberaler Haltung gewachsen ist. Natürlich gibt es immer noch die Gegenstimmen und die Hater, die versteckt soziale Ausgrenzung im Alltag und die offen gezeigten Aggressionen. Da mache ich mir nichts vor.
Trotzdem ist etwas passiert. Das zeigt sich auch daran, dass der Kanton in eine Pionierrolle schlüpfen will und im Januar dieses Jahres einen umfassenden Aktionsplan gegen LGBTIQ-Diskriminierung vorstellte. Dieser beinhaltet ein breiteres Netz an Beratungsstellen sowie Schulungen für Fachpersonen oder in Schulklassen. Endlich. Im Sommer 2024 soll in der französischsprachigen Stadt Martigny im Unterwallis eine Pride stattfinden. Jetzt fehlt nur noch die erste Pride im Oberwallis – die hoffentlich nicht mehr allzu lange auf sich warten lässt.
Das Wallis bekommt wieder eine Pride – diesmal in Martigny: Nach den beiden Veranstaltungen in Sitten 2001 und 2015 wird die nächste Pride Valais 2024 in Martigny stattfinden. Der 12-köpfige Vorstand informierte über erste Details der Organisation (MANNSCHAFT berichtete).
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