Reisen
Abenteuerlich Reisen: Der schwule Hintern im Fitnessstudio von Kabul
Nick Maddock lebt aus Rucksäcken und Vans und hat bereits 124 Länder bereist
Afghanistan, Syrien oder Libyen sind keine queeren Reiseziele: zu unberechenbar, zu instabil, zu gefährlich. Für Nick Maddock gilt das nicht. Der schwule Amerikaner reist dorthin, um Menschen zu begegnen und andere Kulturen zu verstehen – in der Hoffnung, auch selbst verstanden zu werden.
Das Video, das mich auf ihn aufmerksam machte, war kurz und provokativ: Ein blonder, blauäugiger Amerikaner trainiert in einem Fitnessstudio in Kabul. Kein Ort, an dem man queere Sichtbarkeit erwartet.
Der Titel: «Wenn mein schwuler Hintern in einem lokalen Fitnessstudio in Afghanistan trainieren kann, dann kannst du auch endlich die Solo-Backpacking-Reise nach Thailand machen, von der du schon immer geträumt hast.» Ein schwuler Mann in Afghanistan – das irritierte. So wurde ich auf Nick Maddock aufmerksam.
Was zunächst wie ein Instagram-Gag wirkte, entpuppte sich als Teil einer weit grösseren und tiefgründigeren Geschichte: eine Mischung aus unstillbarem Fernweh, innerer Unruhe und dem Wunsch, anders zu leben. Nick, der in den vergangenen acht Jahren fast täglich unterwegs war, sucht sich bewusst die schwierigsten, am meisten missverstandenen und oft gefährlichsten Regionen der Welt aus und bereist sie als Nomade, aber auch als schwuler Mann.
Nick ist weder Tourist noch klassischer Reise-Influencer, der mit Cocktail in der Hand auf einem Liegestuhl auf Mykonos posiert. Der 33-Jährige lebt aus Rucksäcken und Vans und hat bereits 124 Länder bereist, darunter Syrien, Afghanistan, Libyen und Haiti – alles Orte, an denen ein offenes Bekenntnis zur eigenen Homosexualität Haft, Gewalt oder Schlimmeres bedeuten kann.
Doch seine Reisen sind keine Abenteuer um des Nervenkitzels oder der Provokation willen. Neugier und Mitgefühl sind für ihn die wichtigsten Antriebsfedern, sagt er mir im Interview.
«Wenn ich morgen sterbe:Wäre ich dann glücklich mit dem Leben, das ich geführt habe?»
Nick Maddock
«Bin ich glücklich mit meinem Leben?» Am Anfang von Nicks nomadischem Leben stand nicht Fernweh, sondern Trauer. 2015 nahm sich sein Vater das Leben. Vier Wochen später erlitt sein Bruder einen schweren Schlaganfall. «Das brachte mich zum Nachdenken», sagt er. «Wenn ich morgen sterbe: Wäre ich dann glücklich mit dem Leben, das ich geführt habe?»
Zu dieser Zeit arbeitete Nick bei einer US-Bank und reiste im ganzen Land herum, um die Eröffnung von Bankfilialen zu begleiten. Erfolgreich sei er gewesen, aber auch zunehmend unzufrieden. Die vielen Geschäftsreisen hatten ihm bereits eine Art Pseudo-Nomadentum beschert. Warum also nicht bewusst reisen? Er erinnerte sich daran, wie sein Vater einmal gesagt hatte, dass seine Asche auf der ganzen Welt verstreut werden solle. Also packte Nick seine Sachen und machte es sich zum Ziel, die Überreste seines Vaters auf allen Kontinenten zu verstreuen.
«Ich habe keine Adresse», sagt er. Seit acht Jahren ist er unterwegs, vor sechs Jahren gab er seinen ständigen Wohnsitz auf. Kein festes Zuhause, kein geregelter Alltag, keine Komfortzone. Im Schnitt verbringt Nick 340 Tage im Jahr auf Reisen, die übrigen 25 bei seiner Mutter in St. Louis, Missouri – das Nächste, was für ihn einem Zuhause ähnelt.
Finanziert hat Nick sein Leben zunächst aus Ersparnissen und Investitionen, die er dank seiner Finanzkenntnisse tätigte. Seit 2025 lebt er von der Content-Produktion: Reisedokumentationen, Geschichten, Kooperationen mit Hotels und Marken. Er reist oft allein. «Bleibe ich länger als eine Woche an einem Ort, wird mir mit grosser Wahrscheinlichkeit langweilig», gibt er zu.
Selektives Schwulsein Seine Identität als schwuler Mann bringt zusätzliche Herausforderungen. In Afghanistan verbirgt er seine Sexualität, um sicher zu bleiben. In Syrien bewegt er sich vorsichtig, öffnet sich nur, wenn er es möchte. «Ich oute mich nur dann, wenn ich es will», sagt er. Diese Kontrolle – und das Privileg, sie ausüben zu können –, schütze ihn in feindseligen Umgebungen.
Und dennoch findet Nick selbst in konservativen Regionen die Community. In Belarus und Teilen Russlands stösst er auf lebendige queere Subkulturen, in Syrien auf eine ebenso lebendige Kunstszene. Als er mit seinem damaligen Freund in einer ländlichen Gegend in der Türkei unterwegs ist und von neugierigen Lastwagenfahrern angesprochen wird, erklärt er ihnen, dass sie nicht Brüder, sondern ein Paar seien. Nach einer kurzen, unbeholfenen Stille geht die Unterhaltung weiter. Nick hofft, dass die Begegnung den Truckern gut in Erinnerung bleibt und ihre Haltung gegenüber LGBTIQ-Menschen positiv beeinflusst. «Vielleicht denken sie in zwei Jahren daran, wenn in ihrem Dorf ein Junge sein Coming-out hat, und behandeln ihn besser», hofft er.
Was ihn am meisten überraschte? Syrien. «Das Land hat mich völlig umgehauen», sagt er. Damaskus mit seinen antiken Vierteln und widerstandsfähigen Menschen, Aleppo mit einer vielversprechende Kunstszene, die genauso in Brooklyn oder Bukarest passen würde. Afghanistan dagegen war schwieriger: «Ich war ständig mit Reiseführern unterwegs. Keine Freiheit zum Daten, kaum Raum für Selbstausdruck. Nicht, weil ich Angst vor einer Verhaftung hatte, sondern weil man nie weiss, was irgendjemand Unberechenbares tun könnte.»
Auch Haiti zeigte ihm seine Grenzen auf: Drei Monate nach der Ermordung des Präsidenten reiste er dorthin – und wurde innerhalb einer Stunde fast entführt und mit vorgehaltener Waffe ausgeraubt. «Wieder was gelernt», sagt er lakonisch. Er informiert sich vorab über Risiken und die aktuelle Situation im Land, über Whatsapp kontaktiert er lokale Guides. Länder wie Jemen, Somalia oder Sudan stehen noch auf Nicks Liste. Nicht gestrichen, nur verschoben.
So plant Nick Maddock
Für viele bedeutet Reisen: Koffer packen, ins Flugzeug steigen, abschalten. Für Nick Maddock beginnt der Trip lange vorher – mit gründlicher Recherche, Sicherheitschecks und Vorgesprächen mit Menschen vor Ort.
Sicherheitslage Wie stabil ist die politische Lage, in welchen Landesteilen drohen Konflikte oder Gewalt? Trotz innerer Kämpfe innerhalb der Milizen stufte Nick Libyen als sicher genug für eine Einreise ein – Länder wie Jemen oder Somalia meidet er derzeit.
Was sagen die Guides? Bevor er sich für ein Land entscheidet, sucht er Tourenanbieter und lokale Guides. «Fast alle sind über Whatsapp erreichbar», sagt er. «Sie sind ehrlich, wenn die Lage für westliche Besucher*innen zu gefährlich ist – dann raten sie dir auch von einer Reise ab.»
Kulturelle Besonderheiten Welche Bräuche und Tabus sind zu beachten? Wie offen kann er mit seiner Identität umgehen? «In keinem Land habe ich meine sexuelle Orientierung komplett verborgen, am meisten aber in Afghanistan», erzählt er. «Mein Guide und die lokalen Gastgeberfamilien wussten jedoch Bescheid.»
Budget und Notfallplan Wo kann man im Ernstfall schnell unterkommen, wo befindet sich die nächstgelegene Botschaft? Neben Visa, Passvorschriften und möglichen Einschränkungen für ausländische Staatsangehörige sorgt Nick immer auch für einen klaren Notfallplan und für genug finanzielle Reserven.
Folge Nick auf seinen Abenteuern: instagram.com/nickmaddockglobal
Mit der Liebe ist es schwierig Beziehungen? Schwierig. Zwei Partner hatte er in den letzten Jahren – einen Franzosen und einen Amerikaner. Beide begleiteten ihn auf einigen Reisen, doch sie konnten mit seinem Tempo nicht mithalten. «Ich bin sehr zufrieden, wenn ich alle drei, vier Tage einen neuen Ort sehe.» Für ihn ist das bereichernd – für seine Partner oft anstrengend. Als Nick seine Reisetagebücher auswertete, kam er zu einem deutlichen Fazit. Wenn er allein reist, prägt ihn das Erlebte mehr, als wenn er mit jemand Vertrautem unterwegs ist. «Ich reise nicht, um es bequem zu haben, sondern um meine Komfortzone zu verlassen.»
Das Verlassen der Komfortzone ist jedoch nicht immer mit schönen Gefühlen verbunden. In der syrischen Küstenregion schockieren ihn die Spuren des Massakers an der alawitischen Minderheit. Eine Frau schildert ihm, wie Milizen ihre Kinder an der Wohnzimmerwand aufreihten und sie exekutierten, während sie zusehen musste. «Einer der erschütterndsten Momente meiner acht Jahre auf Reisen», sagt er.
Privilegien nutzen Nick will die Welt sehen, aber auch die Klischees hinterfragen, die über sie erzählt werden. «Warum reist du als Schwuler nach Syrien?», wird er oft gefragt. «Weil jede Kultur etwas Schönes zu bieten hat», lautet seine Antwort. Indem er sich mit Einheimischen anfreundet, ihnen respektvoll begegnet und dabei sich selbst treu bleibt, will er einen Wandel herbeiführen. «Ich besuche diese Orte nicht, um mit der Regenbogenfahne zu wedeln, sondern weil ich an menschliche Verbindungen glaube.»
Was bedeutet für Nick Heimat? «Ein ruhiger Ort ohne Ablenkung», sagt er. Buenos Aires kommt diesem Gefühl am nächsten – dort kehrt er immer wieder zurück, um an seinem Buch über seine Reisen zu schreiben. «Am Anfang ging es darum, die Asche meines Vaters zu streuen. Dann ging es um Adrenalin. Jetzt geht es mir darum, die Wahrnehmung eines Orts mit der Realität zu verbinden.» Orte, an denen er zur Ruhe kommen kann, sind dort, wo sich seine Freund*innen befinden – zum Beispiel bei der Pride in Madrid.
«Am Anfang ging es darum, die Asche meines Vaters zu streuen. Dann ging es um Adrenalin. Jetzt geht es mir darum, die Wahrnehmung eines Orts mit der Realität zu verbinden.»
Nick Maddock
Nick ist sich seiner Privilegien bewusst. Er besitzt einen US-amerikanischen Pass und finanzielle Sicherheit, ist ein hellhäutiger Mann und hat die Möglichkeit, als hetero durchzugehen. Als westliche Frau in einem afghanischen Gym trainieren? Undenkbar. «Ich brauche alle vier Privilegien, um so zu reisen, wie ich es tue. Keines davon habe ich mir selbst verdient – das meiste ist Zufall, weil ich dort geboren wurde, wo ich geboren bin», sagt er.
Er will seine Vorteile und seine Reichweite auf Social Media nutzen, um die Wahrnehmungen von Menschen über andere Länder zu verändern, besonders bei seinen westlichen Followern. «Das Potenzial meiner Arbeit liegt vielleicht darin, Amerikaner*innen zu zeigen, dass Menschen in Syrien uns ähnlicher sind als viele denken», sagt er. «Sie sind nicht diese gesichtslosen, bedrohlichen ‹Anderen›. Sie sind Menschen wie wir. Sie lachen. Sie weinen. Sie sind stolz auf ihre Kultur.»
Wenn Nick in Afghanistan, Iran oder Syrien unterwegs ist, stellt er eine grosse Kluft fest zwischen der Art, wie die Einheimischen in westlichen Ländern dargestellt werden, und wie sie in Wirklichkeit sind. «Wir werden seit Jahren mit negativen Schlagzeilen gefüttert», sagt er, «aber Schlagzeilen sprechen nicht mit Menschen. Ich schon.» Ob beim Teetrinken in einem syrischen Innenhof oder beim Gespräch mit afghanischen Männern im Fitnessstudio – seine Inhalte sollen zeigen: Gefahr und Extremismus sind nicht die einzigen Geschichten aus diesen Ländern. «Wenn ich nur einer Person zeigen kann, dass diese Länder mehr sind als Orte der Angst, habe ich etwas erreicht.»
Samuel checkte sein Handy ständig – ohne echten Grund. Grindr, Games, Social Media: alles wurde zum Automatismus. Wie aus Gewohnheit problematisches Verhalten wurde und was ihm geholfen hat, das zu ändern (MANNSCHAFT-Story).
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