Wie Noah um seine Kneipe in Hamburg kämpft

Zwischen Klinikalltag und Kneipenrettung: Noah stemmt zwei Jobs und gibt nicht auf

Noah kämpft mit Herz für das Überleben seiner Bar El Brujito
Noah kämpft mit Herz für das Überleben seiner Bar El Brujito (Bild: Ariel Oscar Greith)

Noah Titus Hasseler hat in seinem Leben gleich mehrere Herausforderungen meistern müssen. Momente, in denen der heute 33-jährige trans Mann alle Kräfte bündelte, um den Kopf über Wasser zu halten. Um nicht unterzugehen.

Noah stellte schon als Kind fest, dass das ihm zugewiesene weibliche Geschlecht nicht dem entsprach, was er in seinem Inneren fühlte. Statt mit Puppen zu spielen, sich Mädchengruppen anzuschliessen oder Kleider zu tragen, schlug der gebürtige Ostfriese einen anderen Weg ein. 

«Mit sechs Jahren fing ich an, Fussball zu spielen, schwamm in Badeshorts, trug typische Jungs-Klamotten und war nur mit Jungs befreundet.» Mit den Jahren wuchs in Noah das Verlangen, seine gefühlte Identität auch nach aussen zu tragen. «Ich sehnte mich nach all den Dingen, die meine Freunde hatten. Eine tiefere Stimme, einen Bart, Muskeln, einen Penis, Körperbehaarung. Ich rasierte mich, lernte tiefer zu sprechen, steckte Socken in die Hosen und trieb viel Sport. Meine Zuneigung zu Mädchen wuchs, aber ich unterdrückte sie.» 

Noah: «Heute bin ich stolz, der Mensch zu sein, der ich immer sein wollte.»
Noah: «Heute bin ich stolz, der Mensch zu sein, der ich immer sein wollte.» (Bild: Ariel Oscar Greith)

So kämpfte der Heranwachsende täglich mit sich und seiner Umwelt. War zerrissen. Als seine Mutter in seinen Teenagerjahren verstarb, wollte er seine Schwester und seinen Vater nicht mit seinen Identitätsproblemen belasten. Also schwieg er über seine Orientierung und sein Geschlecht, anstatt Unterstützung in der Familie zu suchen. Doch war es nur eine Frage der Zeit, bis das Kartenhaus, das er sorgfältig um sein wahres Ich gebaut hatte, zusammenbrechen musste. Und das geschah, als Noah 25 Jahre alt war und nach Hamburg zog.

«Ich habe meine Vergangenheit aufgearbeitet und mich als transident geoutet. Mein Leben begann von vorne.»

Noah Titus Hasseler

Ruhe nach dem Sturm «Ich habe sofort mit einer Psychotherapie begonnen, meine Vergangenheit aufgearbeitet und mich als transident geoutet. Mein Leben begann von vorne.» Heute bezeichnet Noah diesen Moment als eine Art zweiten Geburtstag. Mit jedem neuen Schritt seiner Transition fand er mehr zu sich selbst - obwohl dies mit gemischten Gefühlen einherging. 

«Alle elf Wochen bekam ich meine Testosteronspritze. Die Hormone lösten in mir aber nicht nur Positives aus. Der Blick in den Spiegel war oft schwer zu ertragen, denn mein Kopf war schon viel weiter als mein Körper.» Es folgten geschlechtsangleichende Eingriffe und schliesslich auch die Personenstandsänderung, die sich als Herausforderung erwies. 

«Als Auszubildender konnte ich mir diesen Prozess nicht leisten.» Deshalb wartete Noah bis zum Winter 2024, als in Deutschland das neue Selbstbestimmungsgesetz in Kraft trat (MANNSCHAFT berichtete). Endlich konnte er ohne Gutachten und grössere finanzielle Ausgaben den Begriff «männlich» sowie den Namen Noah Titus in seinen Pass eintragen lassen. 

Noah bedeutet «der Trost- oder Ruhe-Bringende», während Titus für «Ruhm» oder «Verdienst» steht. Passender hätte Noah diesen Teil seiner Selbstwerdung nicht krönen können. Das Durchhalten hatte sich ausgezahlt und ihm inneren Frieden verschafft. «Es gab viele Höhen und Tiefen, aber heute bin ich stolz, genau der Mensch zu sein, der ich immer sein wollte.»

«Heute bin ich stolz, der Mensch zu sein, der ich immer sein wollte.»

Noah Titus Hasseler

Noahs Umfeld – auch seine Familie – reagierte anders als erwartet mit Verständnis und Liebe. «Ich kann mir vorstellen, wie schwer es meinem Vater gefallen sein muss, mich Noah zu nennen und nicht mehr so, wie er und meine Mutter es sich bei meiner Geburt überlegt hatten. Dafür bin ich besonders dankbar. Das hat mir gezeigt, wie wertschätzend meine Familie ist!» 

Ein wichtiger emotionaler Puffer, den Noah nutzte, um Herausforderungen während seiner Transition zu meistern: «Ich sah immer männlich aus und wurde kaum als Frau angesprochen. Die Benutzung der Herrentoilette war für mich trotzdem lange belastend, weil ich immer vor der Kabine warten musste, statt mich ans Pissoir zu stellen. Dafür habe ich mir dann Sprüche anhören müssen. 

Auch der Umgang mit Ausweispapieren war selten angenehm. Die Leute sind wenig informiert und fragen laut und für alle hörbar, ob man nicht aus Versehen die Karte der Partnerin eingesteckt hat. Wie oft wurde ich beim Betreten von Clubs schräg angeschaut oder habe Pakete nicht bekommen, weil man mir nicht geglaubt hat, dass mein Ausweis mir gehört?»

Noah Titus Hasseler
Zwischen Klinikalltag und Kneipenrettung: Noah stemmt zwei Jobs und gibt nicht auf – trotz Stress. (Bild: Ariel Oscar Greith)
Noah Titus Hasseler
Noah: «Es gibt mir noch mehr Kraft, öffentlich darüber zu sprechen, um den Menschen zu zeigen, dass das Bild von Transidentität, das sie haben, verzerrt ist.» (Bild: Ariel Oscar Greith)
Noah Titus Hasseler
Noah: «Die Benutzung der Herrentoilette war für mich trotzdem lange belastend, weil ich immer vor der Kabine warten musste, statt mich ans Pissoir zu stellen» (Bild: Ariel Oscar Greith)

Vom unmotivierten Schüler zum passionierten Lehrer Wie vieles in seinem Leben verlief auch Noahs Bildungsweg nicht geradlinig. Nach dem vorzeitigen Abbruch des Wirtschaftsgymnasiums absolvierte er eine Ausbildung zur Fachkraft für Kurier-, Express- und Postdienstleistungen. «Ja, ich war Postbote», witzelt Noah. Er gab sich damit aber nicht zufrieden und holte über den zweiten Bildungsweg das Abitur nach – mit «katastrophalen Noten», wie er selbst sagt. 

Daher musste das ersehnte Studium der Sportwissenschaften warten. Noah arbeitete indes als Pflegehelfer, fing Feuer und entschied sich für eine Ausbildung zur Pflegefachkraft, die er 2023 abschloss. Seitdem ist er auf einer geschlossenen psychiatrischen Station tätig und bildet als Praxisanleiter den Nachwuchs aus. 

Noah musste lernen, dass das Gesundheitssystem im Umgang mit Transgeschlechtlichkeit Nachholbedarf hat. Als er sich bei seinen Kolleg*innen outete, blickte er in viele ratlose Gesichter. Ein Umstand, den Noah heute aktiv angeht, indem er Öffentlichkeitsarbeit betreibt und gezielt Berufsschulen besucht, um seine Erfahrungen zu teilen.

Buch für Pflegende

Das Buch «LSBTI* in Pflege und Medizin: Queere Menschen besser behandeln» (Thieme Verlag) richtet sich an Menschen, die in der Pflege arbeiten. In verschiedenen Kapiteln beschäftigen sich die Autor*innen mit der Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung, erklären Begriffe und bieten Ansätze, wie der Kontakt mit LGBTIQ im Gesundheitswesen professionell und einfühlsam gestaltet werden kann.

Das Buch stellt verschiedene Gruppen (schwul, lesbisch, bisexuell, trans oder intergeschlechtlich) detailliert vor und arbeitet Besonderheiten für eine optimale Versorgung heraus. Ein wichtiger Schritt für eine menschenwürdigere Behandlung (als E-Magazin lesen).

«Es ist entscheidend, angehende Pflegefachkräfte zu sensibilisieren. In unseren Gesprächen öffnen sich die Schüler*innen, stellen Fragen und erweitern ihr Wissen. Der persönliche Austausch weckt Neugier, sich intensiver mit Transgeschlechtlichkeit auseinanderzusetzen und eigene Stereotype zu hinterfragen.» Wie wichtig dies ist, zeigen die Erfahrungen, die Noah auf seinem Transitionsweg machen musste und die stellvertretend für viele trans Personen sind.

Diskriminierung im Hilfesystem Medizinische Unterstützung während der Transition erfordert etliche Schritte, bei denen man mit Ärzt*innen, Psycholog*innen, Psychotherapeut*innen und Pflegefachkräften in Kontakt kommt. Das allein ist schon herausfordernd. Wenn Betroffene zudem auf Vorurteile und Diskriminierung treffen, können sie Hoffnung und Glauben an das Gesundheitssystem schnell verlieren. 

«Ich ging über ein Jahr lang zu einer Therapeutin, die mir dann sagte, dass sie sich mit dem Thema Transsexualität nicht sicher fühle und deshalb keine Indikation für meine Hormonbehandlung ausstellen würde. Körperliche Eingriffe könne sie nicht gutheissen», erzählt Noah. «Das war ein Schock für mich und riss mir den Boden unter den Füssen weg.» 

Erst ein zweiter Anlauf brachte mehr Erfolg. «Ich hatte das Glück, schnell einen neuen Therapeuten zu finden, der mir half. Mit Ärzten hingegen machte ich durchweg gute Erfahrungen. Meine Operationen führten Spezialisten durch, die einfühlsam waren und mit mir auf Augenhöhe kommunizierten.» 

Ausgerechnet seine Berufsgruppe fiel negativ auf. «Auf einer gynäkologischen Station belächelte man mich und sagte mir, ich sei wohl auf der falschen Station.» Erst als Noah den Behandlungsvertrag für seine Gebärmutterentfernung hervorgeholt hatte, glaubte man ihm.

Noah Titus Hasseler
Noah: «Ich sah immer männlich aus und wurde kaum als Frau angesprochen.» (Bild: Ariel Oscar Greith)

Hoffnungsschimmer So etwas darf in einem so persönlichen Bereich nicht passieren. Das sehen auch die Autor*innen des Buches «LSBTI* in Pflege und Medizin» so. Sie möchten, dass Fachkräfte mehr über die Behandlung queerer Menschen lernen.

«Die Ideen im Buch sprechen mir aus der Seele», sagt Noah. Er findet es wichtig, dass Pflegekräfte und Ärzt*innen gut darauf vorbereitet sind, mit verschiedenen Gruppen von Menschen zu arbeiten. Besonders wichtig ist ihm, dass die Bedürfnisse von trans Personen in Krankenhäusern, Pflegeheimen und bei Pflegediensten besser beachtet werden.

Noah nutzt jede Chance, um darüber zu sprechen. Anstatt sich zu verstecken – was er lange Zeit gemacht hat – sucht er jetzt die Öffentlichkeit. Er lässt sich für Zeitungen interviewen oder ist im Fernsehen zu sehen, zum Beispiel bei «Shopping Queen» oder «Top Dog Germany», wo er zusammen mit seiner gehörlosen Hündin Matilda verschiedene Aufgaben meisterte. 

Noah spricht offen über seine Transidentität, auch wenn es ihn immer noch Mut kostet. Schliesslich ist das Internet voll von Menschen, die mit Hass auf das reagieren, was anders ist. Doch Noah versucht sich auf die Rückmeldungen zu konzentrieren, die Unterstützung signalisieren: «Ich habe für alle Formate sehr gutes Feedback bekommen, bis auf ein paar geschmacklose Kommentare in den sozialen Medien.» Hetze sporne ihn noch mehr an, für Randgruppen zu kämpfen: «Es gibt mir noch mehr Kraft, öffentlich darüber zu sprechen, um den Menschen zu zeigen, dass das Bild von Transidentität, das sie haben, verzerrt ist.» Unterstützt wird er dabei von seiner Partnerin.

Noah und die Liebe «Meine Freundin Laura habe ich bei einem Praktikum während meiner Ausbildung kennengelernt.» Sie arbeitete als Heilpädagogin in einer Einrichtung, die sich um Kinder mit Behinderungen kümmert. «Wir verstanden uns sofort, waren auf einer Wellenlänge, und die Arbeit verging wie im Flug. Nach meinem Einsatz blieben wir in Kontakt – und verliebten uns.» Heute leben die beiden zusammen. Und Noah gelingt es immer besser, einige seiner Dämonen zum Schweigen zu bringen. Das war nicht immer so. 

In früheren Beziehungen gab es Probleme: «Zu Beginn meiner Transition war meine damalige Freundin überfordert, und wir trennten uns. Das hat mich hart getroffen. Warum geht eine Beziehung zu Ende, wenn man versucht, sich selbst zu sein?» Zweifel machten sich in Noah breit. «Sex war für mich lange Zeit eine Möglichkeit, mich selbst zu spüren und Anerkennung zu finden», erinnert er sich. «Erst später habe ich gemerkt, dass ich das nicht brauche.» Heute ist Sexualität für sein Selbstwertgefühl zweitrangig, denn mit Laura verbindet ihn etwas viel Wichtigeres: Nähe. Diese Nähe gibt ihm Kraft für andere Dinge im Leben. 

Zum Beispiel in seinem Job als Geschäftsführer des El Brujito – einer echten Altonaer Kneipen-Institution. Für viele Mitglieder der LGBTIQ-Community ist das El Brujito zu einem Safe Space geworden, weil es ein klares Motto gibt: Rassismus, Sexismus, Diskriminierung, Homo-/Transphobie und Faschismus jeglicher Art bleiben draussen.

Bedroht Die Doppelbelastung als Pflegefachkraft und Betreiber des El Brujito fordert Noah einiges ab. Doch dank einer verständnisvollen Stationsleitung, die bei der Schichtplanung Rücksicht nimmt, gelingt dieser Spagat – zumindest irgendwie. Im El Brujito übernimmt Noah unterschiedlichste Aufgaben: arbeitet in der Küche, hinter dem Tresen, erledigt Einkäufe und kämpft um das finanzielle Überleben der charmanten Tapasbar. 

Denn das El Brujito steht vor dem Aus. Rückforderungen für geleistete Corona-Hilfen, eine Mieterhöhung, steigende Lebensmittel-, Neben- und Personalkosten; täglich verdunkeln sich die roten Zahlen in der Buchhaltung und Noah raucht der Kopf. Statt aufzugeben, zapft der Tausendsassa seine Kreativität an und organisiert Spenden- und Rettungsaktionen. Noahs Hartnäckigkeit, sich Herausforderungen zu stellen, beeindruckt. Doch sie fordert ihren Preis.

Den Stein ins Rollen bringen «An manchen Tagen merke ich den Stress nicht mehr», sagt Noah. Ein kritisches Zeichen, denn er scheint sich daran gewöhnt zu haben, seine Belastungsgrenzen zu überschreiten. Immerhin weiss Noah, dass er Pausen braucht, um sich zu regenerieren und langfristig zufrieden zu sein. Den inneren Drang, auf hundert Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen und nebenbei noch die Welt zu retten, blendet der Mittdreissiger deshalb manchmal bewusst aus. «Mit der richtigen Partnerin und den richtigen Leuten hält man das aus und lernt dazu», resümiert er. Es ist dieser Optimismus, den das sympathische Nordlicht ausstrahlt. Die Zuversicht, dass am Ende alles gut wird.

Spende für Safe Space

Jede kleine Spende kann helfen. Wer das El Brujito und Noah unterstützen möchte – durch Sach- oder Geldspenden – kann dies via GoFundMe tun!

Noahs Geschichte zeigt, dass Herausforderungen wie zwei Seiten einer Medaille sind. Einerseits zerren sie an unseren Nerven und greifen unsere Ressourcen an, andererseits ermöglichen sie es auch, über uns hinauszuwachsen. Für die Zukunft wünscht sich Noah, dass mehr Menschen erkennen, dass es nicht viel braucht, um die Hürden für andere möglichst klein zu halten: «Ausgrenzung und Diskriminierung machen Menschen psychisch krank. Doch es ist so einfach, dem entgegenzuwirken. Man muss nur den Stein ins Rollen bringen und Bewusstsein schaffen.»  

Sie könnte gross werden, ist sie aber noch nicht: Die Indie-Pop-Sängerin Dana bringt alles mit, was es braucht. Intime Zeilen, drängende Töne, Stil und Biss. Im MANNSCHAFT-Interview sprach sie ihr über ihr revolutioniertes Liebesleben und ihre neue Single.

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