Pride-Parade im Park: Nicht dein Ernst, Tel Aviv!
Ernüchterung beim CSD
Zehntausende Menschen haben bei der Pride Parade in Tel Aviv für LGBTIQ Menschenrechte demonstriert. So weit, so gut. Für eine Demo fehlte aber eine ganz wichtige Zutat, meint unser Autor in seinem Kommentar*.
Ja, die Bilder sind wieder spektakulär. Palmen neben Regenbogenfahnen vor blauem Himmel, dazu zum Ausrasten schöne Menschen, durchtrainierte Körper. Es ist die grösste Pride Parade im Nahen Osten – ein Superlativ, der nicht schwer zu erreichen ist, wenn die Nachbarländer Homosexuelle lieber wahlweise köpfen oder einsperren möchten und wenn LGBTIQ selbst in Jerusalem aus religiösen Kreisen angefeindet wird, weil eine Pride Parade dem heiligen Status der Stadt schade.
Alles bekannt soweit. Neu war in diesem Jahr, dass die Parade nicht durch die Stadt und am Strand entlang zog, sondern durch den Norden der Stadt: durch einen Park. Die Änderung der Strecke wurde mit den umfangreichen Bauarbeiten für die Metro in der ganzen Stadt begründet.
Und so liefen also 170.000 Menschen, so schätzt es die veranstaltende Stadt (MANNSCHAFT berichtete), unter Ausschluss der Öffentlichkeit durch einen Teil von Tel Aviv, in dem ich – vor Corona ein regelmässiger Gast der Stadt – noch nie war und wo ich auch nie sein wollte.
So demonstrierten wir gesäumt von sehr aufgeschlossenen Hecken und total toleranten Palmen. Insgesamt sehr wohlwollenes Grünzeug, das sich nicht gross stört an Männern, die ihre Körper an anderen Männer reiben, oder Frauen, die Frauen küssen. Höhepunkt war der Zubringer zur Stadtautobahn, die wir passiert haben, bevor wir das Festivalgelände im Park erreichten. Da wollte ich kurz vor Verzweiflung schreien.
Zuschauer*innen: Fehlanzeige.
Klar, es mögen sich Unterstützer*innen der LGBTIQ-Community unter die Teilnehmenden gemischt haben, um ein Stück in der senkrecht stehenden, unerbittlich brutzelnden Mittagssonne (über 30 Grad) mitzumarschieren. In der Stadt zwischen den Häusern hätte man wenigstens ab und zu Schatten gehabt, aber das nur am Rande.
Was aber nicht passiert ist, weil wir nicht im Zentrum unterwegs waren. Dort wo die Menschen sind. Stattdessen überliess man uns den Rand der Stadt. Danke für nix.
Da waren keine Kinder mit ihren Eltern, die gerade das Haus verliessen und sagten: Mama, wer sind diese Leute und was machen die hier? Eine Parade, die durch die Stadt läuft, hat den Vorteil, dass sie von LGBTIQ-Gegner*innen (die in Tel Aviv weniger zahlreich sein mögen als in Jerusalem) nicht ausblendet werden kann. Ein Zug mitten durch das Zentrum erreicht auch Leute, die sich (noch) nicht trauen, offen zu ihrer Mitgliedschaft zur Community zu stehen, und macht ihnen Mut. Nehmen wir arabische Jungs, die mit ihren Familien zu kämpfen haben. Die werden sich nicht in den Norden der Stadt verirren, um die Parade anzugucken, denn dann könnten sie sich auch direkt outen.
Das Zauberwort heisst Sichtbarkeit. Eine Pride Parade gehört in die Stadt, nicht in einen Park. So war es nicht mehr als eine Loveparade.
Das hat auch Avi Soffer so gesehen. Der Aktivist hatte am Freitag eine Art Alternativdemo organisiert, die durch die Dizengoff Street führte, eine der Hauptverkehrsstrassen, und am Ende zur grossen Parade auffschloss. 250 Menschen waren hier dabei, das ist ausbaufähig.
Aber geht das jetzt so weiter? Soll die grosse Parade nächstes Jahr wieder im Park stattfinden?
«Keine Ahnung», sagte mir Soffer. «Im Moment haben wir ein Problem mit der LGBTIQ-Vertretung im Stadtrat. Diejenigen mit Erfahrung sind gegangen und die, die da sind, haben keine Erfahrung.»
Vielleicht muss man es so sehen: Nach zwei Jahren Pandemie konnte die Pride wieder in fast alter Grösse stattfinden. Das ist ein Grund zur Freude. Letztes Jahr hatte die Polizei einen Mann festgenommen, der einen Angriff auf die Parade in Tel Aviv geplant hatte: Bei ihm wurden verschiedene Waffen für Attacken sichergestellt (MANNSCHAFT berichtete). Davon hat man sich nicht einschüchtern lassen. Aber das ist ohnehin nicht die Art der Israelis.
Es ist aber auch nicht die Art von Tel Aviv, die Pride Parade in einem Park zu verstecken. Damit droht die offene, liberale Stadt ihren Ruf zu verspielen. Und das wäre verdammt schade.
*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar oder eine Glosse zu einem aktuellen LGBTIQ-Thema. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
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