«Unsere Familien haben schon Todesdrohungen erhalten»

10 Europa-Konzerte spielt die libanesische Band Mashrou' Leila im März - hauptsächlich in Frankreich, aber auch einmal in Deutschland

Die libanesische Band Mashrou’ Leila wird in Europa und in den USA gefeiert. Doch den Regierungen vieler nahöstlicher Länder sind die Jungs ein Dorn im Auge. Greg Zwygart sprach mit Frontsänger Hamed Sinno über Auftrittsverbote und die Verhaftungen nach dem Konzert in Kairo.

Viele westliche Medien hypen die Indie-Folk-Band Mashrou’ Leila als die Ausnahmeerscheinung des Nahen Ostens. Eine libanesische Gruppe, die mit einem schwulen Frontsänger und pointierten Songtexten über sexuelle Freiheit singt, Geschlechterrollen in Frage stellt und die patriarchale Gesellschaft über den Haufen werfen will. Für Hamed Sinno werden solche Einleitungen langweilig. «Superlangweilig», sagt er im Interview mit der Mannschaft, nur wenige Stunden vor dem Konzert seiner Band am «Montreux Jazz Festival» im Juli. Er nehme es den Medien aber nicht übel, es sei ja gut gemeint. «Ich bin nur eine Person, die mit drei anderen auf der Bühne steht. Ihre Geschichten sind genauso interessant wie meine, wenn nicht noch interessanter. Ich finde es bemerkenswert, wenn nichtqueere Personen sich für unsere Anliegen einsetzen.»

Vielschichtige Problematik, vielschichtige Texte Solche Einleitungen laufen auch Gefahr, den Nahen Osten und seine Bevölkerung zu pauschalisieren – als konservativ und religionsfanatisch, frauenfeindlich und homophob. Westliche Medien interpretieren auch gerne den Islam und den Terrorismus in die Texte von Mashrou’ Leila. So handle der Songtext von «Are You Certain?» – eine Zusammenarbeit mit dem New Yorker Musikprojekt «Hercules & Love Affair» – vom Attentat im Pariser Bataclan und vom doppelten Selbstmordanschlag in Beirut und darüber, was diese Geschehnisse mit dem islamischen Glauben zu tun haben.

«Ich finde es bemerkenswert, wenn nichtqueere Personen sich für unsere Anliegen einsetzen.»

«Nicht wirklich», sagt Hamed. «Der Song handelt vom Unwissen und fordert Menschen heraus, die in ihrem Glauben unbeirrt sind. Als hätten sie einen uneingeschränkten Zugang zur absoluten Wahrheit.»

Die Songtexte von Mashrou’ Leila strotzen nur so von Symbolik und Idealen, vom Traum einer freien Gesellschaft. «Erhebt eure Stimme im Gesang, Lieder sind immer noch erlaubt», singt Hamed etwa im Song «Tayf (Ghost)», der nach der gleichnamigen und mittlerweile geschlossenen Schwulenbar in Beirut benannt ist. Hamed singt von einem queeren Menschen, der Neonfarbe weint und Elektrizität trinkt. Damit spielt der Text auf die Kriminalisierung von Homosexualität im Libanon an. «Das Gesetz spricht mit keinem Wort von der Homosexualität, lediglich von unnatürlichem Sex», erklärt Hamed. «Und so singe ich davon, wie wir Unnatürliches aus unserer Umgebung nehmen und etwas Natürliches daraus machen.» Der 30-Jährige singt aber nicht nur in Metaphern. «Mein Leben vergeht, während meine Rechte von deinen Gefühlen gepfändet werden. Du radierst mich aus den Geschichtsbüchern, als läge es an dir, sie zu schreiben», heisst es in der zweiten Strophe.

Mashrou’ Leila als revolutionär zu bezeichnen, wäre aber ebenso falsch, wie den Nahen Osten zu pauschalisieren. Im Song «Shim el Yasmine» («Riech den Jasmin») singt Hamed, dass er die Traditionen nicht befolgen könne, weil er seinen Liebhaber nicht seinen Eltern vorstellen darf. «Gerne hätte ich dein Essen gekocht, dein Haus geputzt, deine Kinder verwöhnt. Gerne wäre ich deine Hausfrau.»

Obschon Hamed fast ausschliesslich auf Arabisch singt, sei die Sprachbarriere im Westen kein Problem. «Viele Konzertbesucher*innen googeln die Texte, bevor sie an unser Konzert kommen. Ich finde das toll», sagt er.

Aus Amateuren werden Senkrechtstarter Hamed und seine Bandkollegen gründeten Mashrou’ Leila vor zehn Jahren, im Februar 2008, als sie noch Studenten an der Amerikanischen Universität von Beirut waren. Ihre Hauptmotivation war es, sich mit der Musik vom Prüfungsstress und von der politisch unsicheren Lage in der libanesischen Hauptstadt abzulenken.

Im darauffolgenden Jahr nahm die Band am Musikwettbewerb eines Radiosenders teil und gewann mit dem Song «Raksit Leila» («Leilas Tanz») sowohl die Publikums- als auch die Jurystimme. Der Hauptpreis war ein Plattenvertrag, aus dem ihr Debütalbum «Mashrou’ Leila» entstand. Der Bandname ist ein Wortspiel und hat zwei Bedeutungen, einerseits «Leila’s Projekt», andererseits «Nachtprojekt». Ob der Name nun auf eine Freundin namens Leila anspielt, oder sich auf ihre allnächtlichen Jamsessions bezieht, lässt die Band bei Interviews jeweils schmunzelnd offen.

Aus vielen nahöstlichen Ländern verbannt Hamed ging von Anfang an offen mit seiner Homosexualität um. Eine Alternative gab es nicht. «Ich kann mir nicht vorstellen, eine öffentliche Karriere zu haben und ständig über meine Sexualität zu lügen», sagt er. «In Beirut kenne ich viele Musiker und Sänger, die auf Instagram mit einer Frau posieren und so tun, als sei es ihre Freundin. Das wäre einfach zu viel für mich.»

Die Offenheit des Sängers wurde im Ausland viel gelobt und bescherte der Band eine treue LGBTIQ-Fanbase. Doch sie hatten ihren Preis, nicht zuletzt auch wegen den Songtexten, die von vielen nahöstlichen Regierungen als kontrovers taxiert werden. «In vielen Ländern des Nahen Ostens dürfen wir nicht spielen, unsere Familien haben schon Todesdrohungen erhalten», so Hamed. Dann gebe es sicherlich auch andere Konsequenzen, die sie nicht zu spüren bekämen. «Wenn wir von Radiosendern nicht gespielt oder nicht für Konzerte gebucht werden, kriegen wir das nicht mit.»

Zurzeit spielt Mashrou’ Leila vor allem im Westen, in vielen nahöstlichen Ländern ist ein Auftritt nicht denkbar. «Nach Syrien können wir nicht wegen des Kriegs. Palästina steht wegen der israelischen Besetzung ausser Frage», sagt er. «Und in Saudi-Arabien zu spielen geht aus naheliegenden Gründen nicht.»

Veranstalter luden die Band zweimal nach Jordanien ein. Die Konzerte wurden vom jordanischen Innenministerium allerdings kurzfristig abgesagt, gegenwärtig darf Mashrou‘ Leila im Land nicht auftreten. Hamed schliesst einen erneuten Anlauf vorläufig aus. «Es bräuchte viel Überzeugungsarbeit seitens der Veranstalter, damit wir in unseren Kalendern die Tage freihalten und uns mental auf ein Konzert vorbereiten», sagt er. «Das erste Mal war schon herz­zerreissend genug, beim zweiten Mal zogen wir einen Schlussstrich.» Dabei spielte Mashrou’ Leila schon mehrere Male in Jordanien. Für viele Fans aus Palästina sei es die einzige Möglichkeit gewesen, die Band live zu sehen.

Schicksalhaftes Konzert in Kairo Seit zehn Jahren nimmt Mashrou’ Leila kein Blatt vor den Mund und spricht sich für eine offenere Gesellschaft aus. Ob man im Nahen Osten langsam die Hoffnung verliert? «Schwer zu sagen. Die meisten Menschen schwanken zwischen vollkommener Hoffnungslosigkeit und vorsichtigem Optimismus», sagt Hamed. «Vieles im Libanon macht einem das Leben schwer. Das Wasser und die Landschaft sind beispielsweise so stark verschmutzt, dass sie toxisch sind. Das bewegt mich dazu, nicht länger dort leben zu wollen.»

Wir wussten, dass wir eines Tages aufgrund unserer Texte und unserer Offenheit Probleme kriegen würden. Wir rechneten aber nicht damit, dass unser Publikum die Konsequenzen tragen müsste.

Seit dem letztjährigen Vorfall in Kairo darf Mashrou’ Leila auch nicht mehr in Ägypten auftreten. Ende September 2017 spielte die Band im Rahmen eines Musikfestivals dort vor über 35000 Menschen. Hamed schwärmt auch heute noch von der Stimmung, die an jenem Abend herrschte: «Das Konzert war einfach magisch. Das Publikum fühlte sich so glücklich an, voller Liebe.» Doch während ihres Auftritts wurden Fans mit der Regenbogenfahne fotografiert – Bilder, die in Ägypten in den Tagen darauf für viel Aufruhr sorgten. Die Behörden reagierten mit einer Razzia und nahmen über 70 Menschen fest, darunter zwei Konzertgänger, die die Regenbogenfahne geschwenkt hatten.

Der Vorfall hatte verheerende Auswirkungen auf die vierköpfige Band und stürzte sie in ein schwarzes Loch. «Die Erfahrung hat meine mentale Gesundheit belastet, ich habe zwölf Kilo zugenommen», sagt Hamed. Noch heute sei die ganze Band traumatisiert. «Wir wussten, dass wir eines Tages aufgrund unserer Texte und unserer Offenheit Probleme kriegen würden. Wir rechneten aber nicht damit, dass unser Publikum die Konsequenzen tragen müsste. Es ist wie eine schallende Ohrfeige.»

Während Mashrou’ Leila im Westen auf Tournee geht, treffen die Bandmitglieder immer wieder Fans, die aus dem Nahen Osten ziehen mussten. «Wir haben erst gerade jemanden in Köln getroffen, in Kanada werden wir ebenfalls jemanden kennen lernen. Das macht uns jeweils schwer zu schaffen.»

(K)eine Flucht in fiktive Welten Drei Jahre sind seit «Ibn El Leil», dem letzten Album von Mashrou’ Leila, vergangen. Seit dem Vorfall in Ägypten tut sich die Band schwer damit, zusammenzusitzen und neue Musik zu produzieren. Man komme nicht darum herum, sich irgendwie für das Geschehene verantwortlich zu fühlen. Soll man die Einschränkung der Persönlichkeitsrechte und die Verfolgung von LGBTIQ-Menschen stillschweigend hin- nehmen oder jetzt erst recht thematisieren? «Wir werden auch weiterhin nicht in Ägypten oder Jordanien auftreten dürfen, wenn wir ein neues Album über Gender oder Homosexualität schreiben», sagt Hamed.

Die Band spielt mit dem Gedanken, für ihr neues Album fiktive Texte zu schreiben und eine komplett andere Welt zu erfinden. Sich mit anderen Dingen zu beschäftigen als Gender oder sexueller Orientierung, zum Beispiel Rasse. «Der Libanon ist ein so vielfältiges Land, und trotzdem grenzen sich alle voneinander ab», sagt Hamed. Die Libanesen bleiben unter sich, ebenso die Gastarbeiter*innen aus Asien und Afrika, wie auch die Flüchtlinge aus dem Irak, Syrien oder Palästina. Die LGBTIQ-Community sei in dieser Hinsicht auch kein Musterkind. «In den USA halten mich weisse Menschen oft für einen Mexikaner. Nicht selten sickert dabei auch Rassismus durch.»

Gibt es ein voraussichtliches Erscheinungsdatum für neue Musik? «Auf keinen Fall», sagt Hamed und lacht während dem Gespräch zum ersten Mal. Es stellt sich heraus, dass es gar nicht so einfach ist, über fiktive Welten zu schreiben. «Je mehr Musik wir schreiben, desto mehr wird uns bewusst, dass wir für fiktive Texte genauso Probleme kriegen werden wie für unsere jetzigen Texte. Wir haben uns vorgenommen, nicht über unsere Welt zu schreiben. Das ist aber unvermeidbar.»

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