Manchmal vermischt sich Kunst mit Lust – Fotograf Andreas Tobias
Die Fotostory aus der Sommer-Ausgabe 2023 des MANNSCHAFT Magazins
Sein Weg zur Kunst ist ein verschlungener: Als Junge spielt Andreas Tobias die Mini-Playbackshow nach. Als Teenager verliert er seine Mutter, als aufstrebender Schauspieler sich selbst. In der Fotografie verbindet er sich mit nackten Männern und weinenden Gesichtern – und sucht sich dabei selbst.
Wenn Andreas Tobias von seinem Leben spricht, klingt es wie ein Drehbuch. Ein kleiner Junge will Arielle, die Meerjungfrau, sein und schlüpft dafür in ein grünes Pyjamahosenbein und tackert eine Papierflosse daran. Für seine Mama führt er im Garten eine Mini-Playback-Show auf.
Als sie sich umbringt, ist Andreas elf. Seine Freundin verlässt ihn für seinen besten Freund, in den Andreas selbst verliebt ist. In der Schule schreibt er sein erstes Theaterstück, in dem er die Ereignisse verarbeitet. Die Lehrerin lehnt es ab, das Stück aufzuführen, mit der Begründung, es sei zu persönlich und sie wolle Andreas schützen vor Hänseleien.
«Ich wollte nur noch weg aus Garmisch-Partenkirchen, aus diesem engen bayrischen Tal, in dem meine ganze Energie steckenblieb. Ich fühlte mich von niemandem verstanden.»
Vor dem Vater hält er geheim, dass er für Schauspielstunden nach München reist. Die Oma steckt ihm das Geld dafür zu. Als 18-Jähriger bekommt er eine Rolle in einer deutschen Fernsehserie und zieht allein nach Hamburg. Jahre des Höhenflugs folgen.
Absturz In Hamburg und München spielt er mehrere Theaterrollen gleichzeitig, arbeitet beim Radio, dreht einen Kinofilm über Reinhold Messner, die lebende Bergsteigerlegende, und irgendwo zwischendrin verliert sich Andreas.
Durch den Verlust meiner Mutter habe ich Schwierigkeiten, jemanden an mich heranzulassen.
«Durch den Verlust meiner Mutter habe ich Schwierigkeiten, jemanden an mich heranzulassen. Vor der Kamera war ich immer echt, aber im echten Leben hatte ich eine Schutzwand vor mir. Ich war nur noch auf der Bühne und vor der Kamera, wahrscheinlich um mich selbst zu spüren. Aber dann fühlte ich mich bloss noch leer und einsam.»
Andreas bricht zusammen. Er kündigt beim Theater, den Vertrag mit der Schauspielagentur. Und er flüchtet nach Brüssel. Dort studiert er an einer Privatuni Französisch und findet einen Freund, der jedoch genauso orientierungslos ist wie er selbst zu dieser Zeit. Mit ihm verprasst er sein ganzes Geld, das er mit seiner Schauspielkarriere angehäuft hat.
Hoffnung Andreas flüchtet in die nächste Stadt: Nach Berlin, wo er viele Freund*innen kennt und seine Schauspielkarriere wieder in Gang bringen will. Um nebenher Geld zu verdienen, kellnert er und fragt seine Schauspielfreund*innen, ob er sie fotografieren darf. Was aus einem Geldgedanken entsprungen ist, fliesst weiter in einen Strom aus Shootings, die Andreas zu inselhaften Momenten führen: Er lernt sich wieder zu verbinden – mit sich selbst und mit dem, was er mit der Kamera findet.
Weinen Doch weder die Schauspielerei noch die Fotokarriere kommen richtig ins Fliessen. Eines Nachts kehrt Andreas gefrustet und betrunken von einer Restaurantschicht zurück und schreibt einen Aufruf auf Facebook, er suche Menschen, die für ihn vor der Kamera weinen.
Es war eine Art Hilferuf, um mich dem Weinen anzunähern.
«Ich konnte nie weinen, war wie verstopft mit einem Korken. Es war eine Art Hilferuf, um mich dem Weinen anzunähern.» Als er am nächsten Mittag verkatert aufwachte, hatten sich 60 Menschen auf seinen Aufruf gemeldet. «Ich war geschockt und hatte Angst, weil ich mit dem Weinen ja eigentlich nicht in Kontakt kommen wollte. Deshalb ignorierte ich die Rückmeldungen.» Doch die Menschen hören nicht auf nachzufragen und Andreas überwindet sich, es zu probieren.
Das war 2018. Bis heute hat er 50 weinende Menschen fotografiert, darunter befindet sich auch ein Selbstporträt. «Die Shootings haben bei mir Räume geöffnet, die verschlossen waren. Schlussendlich half mir die Nähe zu anderen Menschen, die weinten, selbst zu weinen.» Anfang nächsten Jahres kommen die Bilder in ein Buchprojekt der «School of Life» aus England.
Heilen Andreas versucht, mit seiner Kunst die Welt zu verstehen. Eine seiner Fragen lautet: Was ist Intimität und wie drückt sie sich aus? «Mit jeder Person, die ich fotografiere, gehe ich eine Verbindung ein. Sie will sich zeigen und ich will, dass sie sich gesehen fühlt. Es ist magisch, wenn sie verborgene Orte öffnet. Im Grunde folge ich dabei meiner eigenen Sehnsucht, mich in einem geschützten Raum zu öffnen, damit ich heilen kann. Und das will ich meinen Modellen auch ermöglichen: einen Heilungsraum in einem geschützten Rahmen.»
Lust Mitunter kommt es mit männlichen Modellen zu gar leidenschaftlicher Intimität. Dann vermischt sich Kunst mit Lust. «Als ich einen festen Freund hatte, wehrte ich mich meist dagegen, wenn sich ein Typ auf mich stürzte», erinnert sich Andreas. Aber wenn die Chemie stimmt, lässt er sich darauf ein, zum Beispiel als sich ein ungeouteter Italiener in einer verlassenen Villa mit ihm ausleben will oder ein Schweizer ihn zwei Wochen nach Paris einlädt, um Bilder zu machen. Andreas folgt dabei seinem Forscherdrang: «Ich will spielerisch mit dem Körper und der Sexualität umgehen. Diesen Schleier heben, der in meinen Augen über vielen heutigen Erotikaufnahmen hängt. Sie strahlen oft eine Härte aus, die mir keineswegs zusagt.»
Mut Sein Weg als Künstler ist verschlungen: von der Mini-Playbackshow für die Mutter im Garten, zum Theaterstückschreiben in der Schule, über das Rumklettern als Schauspieler mit Reinhold Messner in den Bergen. Wer ist Andreas Tobias heute? Auf diese Frage antwortet er halb scherzhaft, halb nachdenklich: «Das versuchen Andreas und Tobias immer noch herauszufinden.»
Er definiert sich am ehesten als Künstler, der mit Fotografie arbeitet, Lichtobjekte entwirft, Bücher macht, zwischendurch dreht er noch den einen oder anderen Film, spricht in Hörspielen. Ein Künstler, der ehrlich sein will: «Als junger Schauspieler versuchte ich immer eine Fassade aufrechtzuerhalten. Doch im Grunde geht es doch darum, den Mut zu haben, man selbst zu sein.» Ein Gedanke wie geeignet für das Ende eines Drehbuchs. andreas-tobias.com
In seiner Heimat Frankreich hat er vergeblich gesucht, was er schliesslich im Ausland gefunden hat: Anerkennung. Romain Berger inszeniert mit seinen Bildern das geheime Leben der Menschen, ihre dunklen Seiten, sonst verborgen aus politischer Korrektheit (MANNSCHAFT+).
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