«Lili Elbe»: Erste Oper über trans Pionierin in St. Gallen uraufgeführt
Neues Werk von Tobias Picker und Aryeh Lev Stollman
Der preisgekrönte US-Komponist Tobias Picker hat mit seinem Lebenspartner Aryeh Lev Stollman eine zweiaktige Oper über die trans Pionierin Lili Elbe (1882-1931) geschrieben. In St. Gallen wurde damit die Spielzeit eröffnet.
Als der künstlerische Direktor von Konzert und Theater St. Gallen, Jan Henric Bogen, bei einem Lunch seinem Hauptsponsor erzählte, dass er plane, zur Wiedereröffnung des St. Galler Paillard-Baus eine Oper über trans Pionierin Lili Elbe auf den Spielplan zu setzen, bekam er anfangs keine allzu begeisterte Reaktion. Müsse es denn ausgerechnet so was «mit Gender» sein, lautete der Einwand. Darüber werde doch schon genug gestritten – anderswo.
Aber Bogen liess nicht locker und wies darauf hin, dass sein Haus 1968 auch mit einer «Gender»-Oper ersteröffnet worden war: in Beethovens «Fidelio» läuft die Titelfigur die meiste Zeit cross-dressed als Mann herum, um ihren Gatten aus dem Gefängnis zu befreien, zwischendurch verlobt sich Fidelio sogar mit einer Frau, die nicht ahnt, dass «er» gar kein Mann ist.
Bogen wies in seiner Rede vor geladenen Gästen beim Apéro im Malersaal des Theaters am Sonntagabend auch darauf hin, dass in der Barockoper die Kastraten ein kühnes Spiel mit «Gender» darstellten, ebenso im 18. Jahrhundert die Darstellung von jungen Männern durch Frauen in Hosenrollen. Da sei, so Bogen, eine Lili-Elbe-Oper mit einer trans Sängerin in der Titelrolle eigentlich nur die logische Fortsetzung in der Gegenart.
Tragische Lovestory Ausserdem geht es bei dieser Vertonung der Lili-Elbe-Geschichte durch den New Yorker Komponisten Tobias Picker, auf ein Libretto seines Lebenspartners Aryeh Lev Stollman, um eine intensive Liebesgeschichte: zwischen Lili Elbe und ihrer Frau Gerda. Und wenn Oper als Gattung eines schon immer gut konnte, dann waren das berauschende (oft auch tragische) Lovestorys. Kurz: das Bankhaus Julius Bär war nach dem Lunch mit Bogen überzeugt und steht nun gross auf allen Tickets überm Titel des Stücks; die speziell geladenen Gäste der Sponsoren waren auch zahlreich erschienen zur Uraufführung. Und klatschten begeistert mit, als zum Schluss alle Beteiligten auf die Bühne kamen.
Die ganze Eröffnungsspielzeit im frisch renovierten Haus steht unter dem Motto «Identitäten» und der Frage «Wer bin ich und wenn ja, wie viele?» (So steht es in der Saisonvorschau.) Für die Lili-Elbe-Oper in englischer Sprache, die nun der schwule Regisseur und Bühnenbildner Krystian Lada in dezent abstrahierter Form auf die Bühne gebracht hat (mit Videoprojektionen und vielen Zwischenvorhängen, auf denen zur Orientierung zu lesen ist, wo man sich gerade befindet, z.B. «Im Atelier von Wegener in Paris» oder «In der Frauenklinik in Dresden») geht es um die lange Transition von Einar Wegener zu Lili Elbe – an der Seite von Ehefrau Gerda Wegener. Das Kreativteam hat sich bemüht, die Geschichte von Gerda und Einar/Lili weniger auf dem erfolgreichen Spielfilm «The Danish Girl» zu basieren (MANNSCHAFT berichtete), sondern auf historischen Dokumenten. Um alles «authentischer» zu machen.
«Medizinisches Wunder» Gerda und Einar sind Maler*innen aus Dänemark, beide gehen nach Paris, wo Einar nach und nach beginnt als Frau unter dem Namen Lili zu leben. Was dazu führt, dass er* von seinem* Bruder Marius, einem Arzt, an den Spezialisten Professor Warnekros vermittelt wird, der verspricht, das «medizinische Wunder» einer geschlechtsangleichenden Operation durchführen zu können. Das gelingt auch, in Dresden. Weswegen sich Lili den Nachnamen «Elbe» zulegt. Der König von Dänemark erklärt Einar Wegener daraufhin zur Frau und löst die Ehe mit Gerda auf. Diese heiratet neu. Und Lili beginnt eine Beziehung mit dem Parfümier Claude LeJeune.
Sie glaubt allerdings – weil ihr die Umwelt das wiederholt so einredet –, dass die Beziehung mit Claude nur dann eine «richtige» Ehe werden könne, wenn die beiden Kinder hätten. Was zu einer fatalen weiteren Operation führt, bei der Lili eine Gebärmutter eingesetzt wird. An den Folgen dieser OP stirbt Lili Elbe 1931. Während sie in der Oper ein letztes (Liebes-)Duett mit Gerda singt, die bis zuletzt ihre wichtigste Bezugsperson bleibt – aber eine fortbestehende Ehe zwischen den zwei Frauen war in den 1920er Jahren undenkbar.
Die Dramaturgie für die Uraufführung hat trans Sängerin Lucia Lucas übernommen, deren Ehefrau – mit der sie bereits vor ihrer Transition verheiratet war – im Publikum sass. Lucas hat in Interviews erzählt, wie schmerzlich es ist, als Hauptdarstellerin Teile ihrer eigenen Lebensgeschichte im Porträt der Lili-Figur abermals zu durchleben. Aber Lucas bringt für die Lili Elbe eine grundsätzliche Glaubwürdigkeit mit, die wichtig ist. Komponist Picker hat seinerseits festgelegt, dass die Titelrolle nur von einer trans Sängerin oder einer nicht-binären Person gesungen werden darf. Im Ensemble des Theaters findet sich eine weitere trans Baritonistin, Sam Taskinen. Sie singt hier cross-dressed die Rolle von Lilis Bruder Marius Wegener. Ausserdem ist Taskinen das Cover von Lucas. Es wäre ihr sehr zu wünschen, dass sie die Chance bekommt, eine der folgenden fünf Aufführungen als Lili übernehmen zu können.
«Downton Abbey» Die Musik, die Picker über dieser Geschichte ausgiesst, ist eine «neoromantisch-postmoderne Klangsprache», wie es der SRF formuliert. Sie ist im Gegensatz zu vielen anderen zeitgenössischen Kompositionen «eingängig, melodiös, oft tonal, hat rhythmischen Drive und grosse Melodiebögen». Am Anfang klingt die Partitur ein bisschen wie die Eröffnungsmusik von «Downton Abbey», wandelt sich dann aber geschickt immer wieder in alle möglichen stilistischen Richtungen. Dabei entstehen atmosphärische Szenen, auch wenn die Musik selten direkt auf den Text eingeht und diesen eher pauschal behandelt – ein seltsamer Eindruck, der dadurch verstärkt wird, dass die Sänger*innen in St. Gallen die oft parlandohaften Passagen mit einer Lautstärke singen, als müssten sie Wagner aufführen. Ein Missverständnis, das Dirigent Modestos Pitrenas am Premierenabend (noch nicht) zurechtgerückt hat.
Auf der teils abstrahiert leeren Bühne wird die Geschichte klar strukturiert erzählt, unter Einbeziehung der Tanzkompanie St. Gallen, die als Alter Egos von Lili in verschiedenen Formen durch die Geschichte geistern. Lucia Lucas singt die Titelrolle mit imposantem Bariton, ist aber bedauerlicherweise eine ziemlich hölzerne Darstellerin. Was zur Folge hat, dass die emotionalen Wendepunkte der ergreifenden Geschichte nicht voll ausgekostet werden, darstellerisch gesprochen. (Ob Taskinen das anders machen würde, bleibt abzuwarten.) Dennoch trägt Lucas die Produktion souverän, die hier die weltweit erste abendfüllende Grosse Oper über eine trans Person markiert.
Notiz am Rande: In einem kleineren Rahmen haben bereits trans Frau Kimberly Reed (Libretto), Mark Campbell (Libretto) und Laura Kaminsky (Komposition) eine Kammeroper über eine trans Person geschrieben: «As One» feierte 2014 Uraufführung und wird diese Saison am Theater Regensburg gespielt. Im Genre Musical ist man da insgesamt schon sehr viel weiter, u.a. schreibt der britische Komponist Alex Parker seit einiger Zeit an einem eigenen Lili-Elbe-Stück, wie er Till Randolf Amelung in einem Interview fürs Buch «Breaking Free: Die wunderbare Welt des LGBTQ-Musicals» erzählte und auf erste Aufnahmen der Lieder bei YouTube mit der afro-amerikanischen trans Sängerin L. Morgan Lee als Lilie Elbe verwies.
Neben Lucia Lucas brillieren in St. Gallen Sylvia D’Eramo als Gerda (viel zu laut, aber klangschön), der höhensichere Tenor Brian Michael Moore ist Claude und Msimelelo Mbali singt auffallend smart gekleideter den Professor Warnekros, der Lili zu der tödlichen zweiten OP überredet, weil er glaubt, dafür einen Medizin-Nobelpreis zu bekommen.
«Wer ist hier Opfer?» Die Szenen rund um die zweite Operation waren für mich die emotional verstörendsten Momente des Stücks: Denn Prof. Warnekros sucht für die Transplantation eine Organspenderin und benutzt dafür eine junge, arme, geistig instabile Frau in seiner Klinik, der er erklärt, er müsse sie vor ihrer Entlassung operieren. Sie will das nicht, weiss auch gar nicht warum sie operiert werden soll. Und singt ein tieftrauriges Lied über die beiden Babys, die ihr weggenommen wurden. Mack Wolz tut das (fast als Einzige an dem Abend) mit ganz leisen Tönen, die ans Herz greifen. Und die Frage aufwerfen, was für eine Form von Machtmissbrauch hier stattfindet, damit die vergleichsweise vermögende Lili Kinder bekommen könnte.
Wer ist hier «Opfer», wer «Täter*in»? Die Regie belässt das in der Schwebe. Stellt die Frage aber klar in den Raum.
Genauso gehen Momente unter die Haut, wo Lili ihre alte Mutter auf dem Land besucht und von dieser verstossen wird als «etwas», das diese nicht versteht und nicht akzeptieren will. Genauso reagiert auch Lilis Schwester – mit harscher Transphobie.
Im Gegensatz zur Filmversion mit Eddie Redmayne (MANNSCHAFT berichtete) ist Lucia Lucas ein komplett andere Lili Elbe, optisch nicht wirklich glaubhaft als die strahlende Schönheit, als die sie im Libretto beschrieben wird und darstellerisch (wie erwähnt) nur begrenzt in der Lage, das zu überspielen. Trotzdem funktioniert die Geschichte und ist eine nuanciertere Auseinandersetzung mit der Lili-Elbe-Story. Durch die Wucht der Musik und durch das unmittelbare theatrale Erben geht einem als Zuschauer*in das Geschehen viel näher. Dafür sorgen immer wieder die rauschhaften Klänge von Picker.
«Liebestod» Am Ende verschwindet Lili – umgeben von Tänzer*innen als Doppelgänger*innen ihrer selbst – im Nebel auf der Hinterbühne. Und Gerda bleibt bei der Beerdigung allein zurück, vorn an der Rampe. Es ist ein moderner Liebestod (mit Wagner-Anklängen), der nachdenklich stimmt, kein krachendes Finale – wie das 1968 bei der Gender-bending-Oper «Fidelio» der Fall war. (Damals sang übrigens Inge Borkh die Titelrolle.)
Ein (schwuler) Bekannter bei der Premierenfeier sagte zu mir, er finde es völlig fehl am Platz, mit solch einem Stück in St. Gallen das Theater zu eröffnen. Die «einfache Landbevölkerung», die hier ins Theater gehe, sollte man mit solch einem Stoff nicht «überfordern». Und «so etwas» eigne sich auch nicht für eine festliche Premiere zum Neustart des Hauses als «Signal». Dem würde ich vehement widersprechen. Denn wann, wenn nicht zu solch einem Anlass, sollte man in St. Gallen ein entsprechendes Signal setzen?
Starkes überregionales Interesse Immerhin sassen im Zuschauerraum bei der Uraufführung die Intendant*innen und Operndirektor*innen von nah und fern (es waren auch Kameras und Mikrophone aufgestellt, um die gesamte Aufführung mitzuschneiden). Das überregionale Interesse ist dieser «Lili Elbe» also jetzt schon sicher. Und ich hoffe sehr, dass das Stück auch vor Ort auf starkes Interesse stösst.
Es erzählt eine wichtige Geschichte so, dass sie völlig auf der Höhe der Zeit ist, gerade auch für alle, die etwas mit «Gender» schwierig finden. Die Musik ist zugängig und lohnt das wiederholte Hören. So sehr, dass ich überlege, wann ich nochmal nach St. Gallen kommen könnte. Denn es ist klar, dass einen beim ersten Hören einer neuen Oper vieles überrumpelt. Ein zweites und drittes Hören wäre wichtig, um die vielen Eindrücke besser zu sortieren. Schön wäre es selbstredend, wenn dieses Stück bald auch anderswo nachgespielt und neu zur Diskussion gestellt würde.
Dafür, dass ausgerechnet das kleine St. Gallen hier eine Pionierleitung gewagt hat (und die Sponsoren an Bord geholt hat), kann man Operndirektor Jan Henric Bogen nur gratulieren. Für alle, die es «populärer» und mit weniger «Gender» wollen, gibt’s im Dezember das Megamusical «Les Misérables» von Alain Boubil und Claude-Michel Schönberg – in einer Inszenierung des Regisseurs Josef Köpplinger. Ob der seinen Ehemann für eine der Tenor-Hauptrollen mitbringen wird, muss man abwarten.
Der renommierte Hörspielpreis der Kriegsblinden ging zuletzt an die Produktion «Die Arbeit an der Rolle» von Noam Brusilovsky und Sängerin Lucia Lucas (MANNSCHAFT berichtete).
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