Lieben und lieben lassen in Indien – Scherben eines Paragrafen
Für eine Entwurzelung der kolonialen Sexualmoral braucht es mehr als eine politische Entscheidung
150 Jahre war Homosexualität in Indien kriminalisiert. 2018 wurde der Paragraf 377 abgeschafft. Die Fotografin Gina Bolle, der Fotograf Francesco Giordano und die beiden Journalistinnen Maria Christoph und Stefanie Witterauf sind in das südasiatische Land gereist, um die LGBTIQ-Community zu treffen und herauszufinden, wie sich ihr Leben seither entwickelt hat.
Am Entstehungsort des Kamasutra, des ältesten Erotikguides der Welt, ist Sex ein Tabu. Verliebte Jugendliche treffen sich am Rand vielbefahrener Strassen, heimlich. Küsse werden hinter geschlossenen Schlafzimmertüren ausgetauscht. Liebesszenen aus Hollywood-Filmen geschnitten, bevor sie im Kino laufen dürfen. Ehen werden überwiegend von den Eltern organisiert, sie sind eine soziale Absicherung für die ganze Familie, nur jede zehnte wird aus Liebe geschlossen. In Indien krachen Kulturen, Religionen und Moralvorstellungen aufeinander. Lücken klaffen zwischen Arm und Reich, zwischen Fortschritt und Tradition. Es ist ein Land der Gegensätze. Doch eins scheint die Gesellschaft zu einen: Indien ist prüde.
Jahrhunderte nach der Verfassung der indischen Liebeslehre war der Subkontinent von britischen Kolonialisten eingenommen, die ihre konservativen Wertvorstellungen und Sexualmoral mit Gesetzen durchsetzten. Unter der Kolonialmacht wurde 1861 durch «Sektion 377» «widernatürlicher fleischlicher Verkehr» kriminalisiert und folglich Homosexualität in Indien zur Straftat. Selbst nach Indiens Unabhängigkeit im Jahr 1947 blieben das homophobe Erbe und die viktorianische Prüderie der britischen Kolonialmächte tief in der Gesellschaft verwurzelt und stand weiterhin im Gesetzbuch.
Das Ende von 377 Tatsächlich waren Verurteilungen nach Paragraf 377 selten, doch bot er die Rechtsgrundlange für mehr als 150 Jahre der Diskriminierung von nichtheterosexuellen Menschen. Schon 2009 hatte das höchste Gericht in Delhi einen Verstoss gegen die Grundrechte festgestellt, doch wurde 2013 diese Entscheidung rückgängig gemacht. Erst seit drei Jahren ist Homophobie nicht mehr rechtlich gestützt. 2018 wurde «Sektion 377» vom obersten Gerichtshof abgeschafft, weil der Paragraf «irrational, nicht zu verteidigen und offensichtlich willkürlich» sei und gegen die Verfassung verstosse, so die Begründung des Richters Dipak Mishra.
Doch für eine Entwurzelung der kolonialen Sexualmoral braucht es mehr als eine politische Entscheidung, es braucht eine Bewegung. Damit zum Beispiel Agenturen für arrangierte gleichgeschlechtliche Ehen entstehen können. Es braucht Mutige, die sich einsetzen, indem sie sich der Gesellschaft aussetzen. Um sie, ihre Ängste und Hoffnungen kennen zu lernen, sind wir nach Indien gereist. In die grösste Demokratie der Welt, in ein Land mit mehr als einer Milliarde Einwohner*innen. Wir beginnen in Mumbai, einer Megametropole an der Westküste des Subkontinents, direkt am Arabischen Meer.
Im Herzen der Community November 2019. Der Smog hängt tief in der Luft, sie wirkt, als könne man sie durchschneiden. Alles vor unseren Augen wirkt wie mit einem Sepiafilter überzogen. 20 Millionen Menschen leben hier, es ist eine der bevölkerungsreichsten Städte der Welt. Eine rasselnde Klimaanlage bläst kalte Luft in unsere Gesichter. Im Vorbeirauschen des Taxis mischt sich das Bunt der Fassaden von Hütten, Häusern und Tempeln mit den Farben der Kleidung der hier Lebenden.
Schnell sind wir mitten im Gewirr dieser überfüllten Metropole angekommen. Steigen aus und stehen zwischen hupenden Rikschas und Menschen, die in weiche Tücher gehüllt geschäftig die breiten Boulevards queren. Nach eineinhalb Jahren der Corona-Pandemie sind diese Bilder, Beschreibungen fast undenkbar – doch wir wollen von der Reise erzählen, die Menschen vorstellen, ihnen Gehör verschaffen, auch wenn sich das Leben aller verändert hat. Corona wird erst Monate später global ausbrechen, Mutationen in Grossbritannien, Südafrika und Indien das Virus noch tödlicher machen.
Wir treffen Johann Arora im Stadtteil Santacruz West. Er ist der erste, den wir in Indien persönlich kennen lernen. Dieses Treffen haben wir über Social Media vereinbart. Vor seiner Haustür winken die Leute von Marktständen, preisen Obst und Gemüse, Klamotten und Elektrozeugs an, die vor ihnen liegen, fächern sich die Hitze vom Leib. In seiner Wohnung ist es still. Ein Minitempel steht am Eingang zur Küche, gleich links neben der Haustür auf einem Tisch. Davor stecken Räucherstäbchen, liegen Gaben wie Bananen und Süssigkeiten aufgereiht. Und eine kleine Figur mit Elefantenkopf: die indische Gottheit Ganesha. Ein Glücksbringer, der Hindernisse aus dem Weg räumen soll.
Die Familie als Altersvorsorge Johann will uns mit den Menschen vernetzen, die ihn inspirieren. Er stellt uns seine Freund*innen, Bekannte und seinen Zwillingsbruder vor. Er half ihm, seinen Eltern zu sagen, dass er Männer liebt. Wir essen an vielen Abenden gemeinsam, reden, meditieren und machen Yoga. Johann bleibt die gesamte Zeit fester Bestandteil unserer Reise durch Indien und in die LGBTIQ-Community. Die Verbindungen, die Johann Arora zwischen queeren Menschen knüpft, sind für viele eine Art Ersatzfamilie, erzählen sie uns. Gerade hier in Indien, einem Ort, wo die Familie wie eine Art Sozialversicherung im Alter ist, sind sie von besonderer Bedeutung, eng verbunden mit der Akzeptanz gegenüber sich selbst und der eigenen Sexualität.
Noch heute haben wir mit Johann Kontakt. Er erzählt von seiner Familie, die sich mit Corona infizierte. Von seiner Mutter, die ins Krankenhaus zum Beatmen musste. Davon, dass er dreimal die Woche Atemmeditationen online für die anbietet, die nach ihrer COVID-Erkrankung Beschwerden haben und ihnen so bei der Genesung helfen will.
Indien ist eins der Länder, die von Corona besonders stark betroffen sind. Mehr als 25 Millionen Fälle, mehr als 279 000 Tote, ein Gesundheitssystem, das zusammengebrochen ist, Krankenhäuser ohne Kapazitäten, schwindende Sauerstoffvorräte, die zur Behandlung der Intensivpatient*innen nötig sind. Keine Absicherung durch einen Sozialstaat, ein Fünftel der Bevölkerung lebt in Armut und würde einen weiteren Lockdown nur schwer überleben. Die Impfkampagne hat bereits Anfang des Jahres begonnen, doch der Impfstoff ist knapp. Immer mehr Menschen sterben, Tausende pro Tag. Es ist eine Katastrophe.
Wo das HIV-Stigma immer noch verharrt Doch dieser Artikel soll nicht von der Pandemie handeln, sondern beginnt in einer Zeit, in der Nähe erlaubt war und Umarmungen alltäglich. In der Männer auf der Strasse Händchen halten, das Zusammensein beim Meditieren, Beten, Tanzen etwas Heilendes hat, die Gedanken nicht bei der Angst vorm Infizieren verharren.
Es gibt viele Momente der Euphorie. So wie dieser: Aus kleinen Blechbechern dampft süsser, brauner Tee. Ein Ventilator steht in einer Ecke und wirbelt Luft in Richtung der Tische und Stühle aus Plastik. Wir sind mit Ganesh Acharya in einer Klinikums-Cafeteria und warten mit seinen Freund*innen darauf, dass der «Candle Walk» beginnt, ein jährliches Gedenken an die AIDS-Verstorbenen.
Als Aktivist verschreibt Ganesh sich dem Kampf gegen HIV, weil das Virus sein Leben verändert hat: Ein Verwandter hat ihn als Jugendlicher vergewaltigt und infiziert. Ganesh wurde damals sehr krank, er habe nicht arbeiten können, weswegen ihn seine Familie verstossen habe und er auf der Strasse landete. Er suchte in einem staatlichen Krankenhaus nach Hilfe. Doch die Ärzt*innen verweigerten ihm eine Behandlung – weil er schwul ist, sagt er.
«HIV zu haben, ist kein Verbrechen», sagt Ganesh. Es ist ein Satz, den er mehrmals am Tag sagt. Erst sagte er ihn zu sich selbst, nun um anderen zu helfen. 2,1 Millionen Menschen in Indien leben mit HIV. Wird es früh erkannt, können ein Ausbruch von Aids, die Ansteckung von anderen und ein schwerer Krankheitsverlauf verhindert werden. Doch dafür muss es erkannt werden. Laut Zahlen des indischen Gesundheitsministeriums weiss nur jeder Fünfte von seiner Erkrankung. Durch das homofeindliche Gesetz hätten viele schwule Männer Angst gehabt, sich untersuchen zu lassen, erklärt Ganesh. Doch selbst nach der Abschaffung von «Sektion 377» würden queere Patient*innen in Krankenhäusern diskriminiert und eine medizinische Versorgung abgelehnt.
Um eine Behandlung zu ermöglichen, gründete Ganesh vor zwei Jahren eine Klinik für queere Menschen in den Räumen der Hilfsorganisation Humsafar Trust, der grössten indischen Organisation für queere Menschen. Das kleine Krankenhaus ist spezialisiert auf HIV-Behandlungen und bietet kostenfreie Tests, Aufklärung und Medikamente an.
«Wärst du gern heterosexuell?» – «Ja.» Für den Candle Walk trägt Ganesh ein weisses T-Shirt. Eine trans Frau bedeckt ihren bunten Sari mit einem grossen Baumwolltuch. Der Tee ist ausgetrunken. Ganesh schultert seinen Rucksack. Wir gehen gemeinsam zum Tor, dort stehen schon mehr Menschen auf der Strasse, die ebenfalls weiss gekleidet sind, und es werden rote Schleifen ausgeteilt, an die Brust gepinnt und Kerzen angezündet. Die Parade startet, wir laufen langsam los. Neben uns hupen Autos, der Asphalt strahlt Hitze wie ein grosses Feuer aus, der Staub der Strasse vermischt sich mit den Abgasen und legt sich als dünne Schicht über unsere schwitzende Haut.
Angeführt wird der Candle Walk von Ashok Row Kavi, dem Gründer von Humsafar Trust. Ganesh stellt ihn uns vor und wir laufen neben Ashok an der Spitze der Parade. «Wir leben in einer sehr heterosexistischen, patriarchalischen Gesellschaft», sagt Ashok, der zur Gallionsfigur der Bewegung wurde, die sich seit den späten Achtzigern in Indien für ihre Rechte einsetzt. «Es wird noch mehr als 100 Jahre dauern, bis sich wirklich etwas verändert. In der Gesellschaft gibt es ein enormes Mass an Selbsthass und Stigma», sagt der 75-Jährige. «Ich habe schwule Männer gesehen, die 50 Jahre alt sind und die auf die Frage: Wärst du gern heterosexuell? Immer noch antworten: Ja. Wir wollen dieses Leben nicht.»
«Ich würde nicht wollen, dass meine Kinder schwul sind.»
Als einer der ersten Inder hat sich Ashok 1984 in der Öffentlichkeit als schwul geoutet, wenig später gründete das erste Szenemagazin Bombay Dost, 1999 lief er beim ersten Pride Walk mit. «Meine eigene Mutter sagte immer zu mir: Du bist das Ende der Fahnenstange. Sie hat mir nichts vererbt, als sie starb. Sie sagte nur: Schade, dass du nicht gleich nach deiner Geburt gestorben bist. Du bist ein Problem. Asiatische Gesellschaften sind einfach viel härter zu LGBTIQ, weil es einen sozialen Zwang gibt», sagt er. «Ganz ehrlich: Wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ich nicht wollen, dass meine Kinder schwul sind.»
Ashok spaziert mit uns entlang einer ruhigen Strasse, führt uns durch seine Erinnerungen an eine Zeit, in der es in Indien keine Rechte für Schwule gab, Homosexualität vom Staat bestraft wurde. Das sei heute vielleicht nicht mehr so, doch leicht sei es noch lange nicht für die Community. Das hat auch Ankit Bhuptani erfahren. Er engagiert sich für seine Rechte – und die der LGBTIQ-Gemeinde: «Meine Sexualität habe ich mir nicht ausgesucht. Dafür zu kämpfen aber schon!»
Er hat im Dezember 2013 vor laufender Kamera der ganzen Welt offenbart, dass er schwul ist. Genau an dem Tag, an dem der Paragraf 377 nach vier Jahren erneut in Kraft trat. Vielleicht ahnte er, dass dieser Moment sein Leben schlagartig verändern würde. Was er vielleicht nicht ahnte: Dass er als Aktivist in Züge bis in die abgeschiedensten Orte Indiens steigen würde, um Menschen von alternativen Arten zu lieben zu erzählen. Jungen, Alten, Gebildeten, Ungebildeten. Dass sich sein Leben von nun an nur noch darum drehen würde, den Menschen klarzumachen: «Es ist keine Sünde, schwul zu sein.»
Vor allem in ländlichen Regionen Indiens ist Homophobie noch weit verbreitet. Es fehlt an positiven Geschichten, an Vorbildern, die in alle Gesellschaftsschichten hineinwirken und gegen diskriminierende Vorurteile wirken. Dies sollte die Aufgabe der Filmbranche sein, fordert Schauspieler Palash Dutta.
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377 bleibt spürbar Mumbai ist die Stadt, in der Bollywoodfilme geboren werden: Geschichten von Liebenden, zwischen Romantik und Kitsch, zwischen Drama und Komödie, zwischen Mann und Frau. Für andere Formen von Liebe und Identität ist kaum Platz, wie uns Palash erzählt. Wer in Bollywood offen schwul ist, muss damit rechnen, nie wieder eine andere Rolle zu bekommen als den klischeebehafteten «Schwulen», sagt er. Davor hat er Angst, deswegen hat er sich bis heute nie öffentlich zu seiner Homosexualität geäussert. Die Abschaffung des Paragrafen hat den Schauspieler nicht aus dem Schatten geholt. Es wird dauern, bis sich das Mindset von einer Milliarde Menschen ändert. «Jeder dachte, sobald 377 weg ist, werden die Dinge einfach – aber sie werden nur härter», sagt Ashok.
Der Candle Walk hat sein Ziel erreicht, die Sonne ist untergegangen. Wir sind in einem Park und bekommen Papiertüten, gefüllt mit frittierten Samosas, und kleine Wasserflaschen werden verteilt. Ashok wirkt erschöpft. Er spricht davon, dass vielen queeren Menschen jetzt erst klar werde, wie weit die Benachteiligung eigentlich reiche, und wie weit der Weg zur Gleichberechtigung noch sei: Egal ob es um Ehe, Adoption oder Rente gehe. Allein sich gemeinsam mit dem Partner ein Haus zu mieten, sei im heutigen Indien noch undenkbar. «Es werden sehr schwierige Zeiten kommen.»
Bis heute ist Ashok eine strahlende Figur der indischen Schwulenbewegung, er hat den Weg für viele geebnet, nun müssen andere weiterkämpfen. Wir verabschieden uns, die Dunkelheit verschluckt Ashok, nur sein weisses Shirt leuchtet noch im Park.
Insgesamt haben wir 26 Menschen aus der LGBTIQ-Gemeinde kennen gelernt, ihre Geschichten gehört, durften kurz in ihr Leben, ihre Gedanken und Gefühle blicken. Unsere Recherche in Mumbai, Chennai, Kalkutta und Neu-Delhi haben wir in dem Fotobuch «377. Inside India‘s Queer Community» festgehalten. Dabei wurde für uns immer deutlicher: Ein Anfang ist geschafft. Ab der Entkriminalisierung von Homosexualität bis zur Ehe für alle – Indien steht gerade am wichtigsten Kipppunkt einer Entwicklung, für die einige Länder Europas Jahrzehnte gebraucht haben; manche stehen selbst noch ganz am Anfang. Wie lange diese Entwicklung in Indien dauern wird, ist unklar. Was jedoch klar ist: Sie hängt sicher nicht nur von Gesetzen ab, sondern vor allem von denjenigen, die nicht selbst Teil der Community sind, es geht um Kontakte, Kommunikation, Verständnis auf allen Seiten. Was wir nicht vergessen sollten: In Indien leben knapp 20 Prozent der Weltbevölkerung. Was hier passiert, könnte ein Fortschritt für einen grossen Teil der Community bedeuten.
Mehr über die Indien-Recherche und das Fotobuch «377. Inside India’s Queer Community» auf insideindiasqueer.community
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