«Ein wenig Farbe»: Noch 9,5 Stunden bis zur Geschlechtsangleichung
Premiere in Leipzig
In der Musikalischen Komödie Leipzig spielt zum ersten Mal eine trans Darstellerin den Rückblick Helenas neuneinhalb Stunden vor ihrer operativen Geschlechtsangleichung in «Ein wenig Farbe»
Seit der Uraufführung 2018 an der Theatercouch Wien erlebte der Musical-Monolog «Ein wenig Farbe» von Rory Six einige Transformationen durch die Besetzung. Mit Pia Douwes ist die Weltpremiere in der Regie von Andreas Gergen auf DVD erhältlich. Die Musicalstars Rob Pelzer und Mark Seibert übernahmen später den Part der trans Frau Helena, die von einem Mann und einer Frau gespielt werden kann. Im Apollosaal der Musikalischen Komödie Leipzig spielt seit 25. Oktober zum ersten Mal eine trans Musicaldarstellerin den Rückblick Helenas neuneinhalb Stunden vor ihrer operativen Geschlechtsangleichung.
Die Darstellerin Amy war noch unter ihrem früheren Geburtsnamen als Leo Bloom ein Star in der Leipziger Produktion des Musicals «The Producers». Ausserdem tritt sie in Mitteleuropa mit Gastspielen des Kultmusicals «Hedwig And The Angry Inch» in der Inszenierung von Jens Daryousch Ravari auf.
Es gibt nur einen wesentlichen Unterschied zwischen Amy und den bisherigen Besetzungen von «Ein wenig Farbe». Mit 28 Jahren ist sie wesentlich jünger als alle bisher weitaus reiferen Darsteller der Helena, die sich nach langem Eheleben und erst, als sich die zwei von Helena als Familienvater gezeugten Söhne studieren, zur Geschlechtsangleichung entschliesst. Da ist ein noch grösserer Lebenseinschnitt als eine Angleichung in jungen Jahren – das wird auch durch Amys überaus sensible und empathische Darstellung offenbar. Für trans Frauen und trans Männer in fortgeschrittenem Alter ist die nach aussen sichtbare Geschlechtsangleichung ein noch intensiverer und mit noch grösseren Schmerzen verbundener Schritt. Denn Lebenspartner*innen und Kinder brauchen Zeit zur Orientierung für die neue, weil nach aussen sichtbaren und heteronormativen Konstellationen aufgebrochene Situation. Repressive Erfahrungen, die zu einer fast vollkommenen sozialen Neuorientierung von trans Personen führen, bleiben auch für deren enge Angehörige fast nie aus.
Auch in dieser Hinsicht ist Six' Musical als Mittel der Information von Bedeutung. Helenas Ehefrau findet in «Ein wenig Farbe» nur nach längerem zeitlichen Abstand und erst durch den Kontakt mit einer trans Kollegin zur freundschaftlichen Annäherung mit dem früheren Ehepartner. Aber einer der Söhne hält die Funkstille langfristig aufrecht. Aus dem früheren Umfeld bleiben der Bühnenfigur Helena zwei Freund*innen – durchaus realistisch.
Zu Beginn sind wir alle Helena oder Helena ein Teil von uns: Vier Spiegelwände als Frank Schmutzlers Bühnenbild sind Richtung Zuschauerraum gerichtet, in denen das Publikum sich selbst und dann die durch dessen Mitte auftretende Amy sehen kann. Darauf drehen die Spiegelwände und werden zu Schränken, in denen sich grosse Spielfiguren befinden – dazu ein Krankenhausbett. Das als szenische Methode verwendete Therapiemodell der Familienaufstellung ermöglicht, dass Amy die Dialoge ihrer imaginären Gesprächspartner zwar zitiert, aber nicht ausspielen muss. Es gibt nur ein Kostüm und wenige Accessoires (Melchior Silbersack): Weisses Hoodie und Schlaghose mit applizierten Glassteinchen, also Gala und Alltag für «1 Darsteller*in, 13 verschiedene Rollen und 13 Sichtweisen auf das Leben». In 80 Minuten muss man diesen sicher auch sportiven Alleingang mit einer Salon-Band unter der durch ihren Job als Korrepetitorin an der Oper Leipzig besonders stimmsensiblen Kathryn Bolitho ergänzen.
Bis zur kurzen und in der leisen Bestimmtheit noch mehr nachdrücklichen Setzung von Helenas Hymne zum Schritt in die vor der Öffentlichkeit ehrlich vertretene und authentische Identität ereignet sich ein punktgenaues Protokoll ihrer psychischen Entwicklung und Selbstermutigung. Das beinhaltet Lernwert für Alle ohne direkte Kontakte zu trans Personen: Deutlich wird der Unterschied zwischen dem Begehren von Homosexuellen und trans Personen. Deutlich wird der Unterschied zwischen der eigenen Identität und dem von trans Personen aus Angst oft praktiziertem Verschweigen ihres Geschlechts: Das Bewusstsein der eigenen Identität ist nur ein Schritt.
Der andere erfordert immense Stärke zum Sprung aus der ersten körperlichen und sozialen Prägung in die neue, authentische. Deutlich werden in Rory Six' Text und den Gesprächen Helenas mit nicht präsenten Figuren also auch die dazu nötigen Anstrengungen des Lernens, Loslassens, Aneignens und der Entschluss zum Glauben an den Sinn, aber auch die Richtigkeit der Entscheidung zur Geschlechtsangleichung: Vor der Mutter, der Psychotherapeutin, mit der beim Lernen des öffentlichen Auftretens als Frau helfenden Drag Queen bis zum Kampf gegen gleichgültige Ärzte und verständnislose Chefs.
Je mehr die Szenenfolge in Fahrt kommt und damit auf Konfrontationskurs zum normativen Alltagsverhalten geht, desto deutlicher wird in «Ein wenig Farbe» die Allgemeingültigkeit des thematisierten Schritts zur selbstbewussten Leben mit der eigenen wahrhaften Identität. Tatsächlich liest sich das Musical wie der Katalog all jener Blessuren und sozialen Stigmata, welche auch viele Homosexuelle noch immer von einem vollständigen Coming-out abhalten und sie veranlassen, sich in einem schmerzhaften und für ihr Umfeld irritierenden Doppelleben zu verbarrikadieren.
Lucia Reichard gelingt in enger Umschliessung von Text und Musik eine genaue und gerade deshalb glaubwürdige Inszenierung. Die beste Regie sei jene, die man nicht merkt, lautet ein verbreitetes Theaterbonmot. Dieses gerät durch Reichard zur Bestätigung und Wahrheit. Amy ist ganz bei sich und schöpft gewiss aus ihrem eigenen Erfahrungsspektrum, spielt aber nicht sich selbst. Die Ausdrucksbreite der riesigen Rolle – Singen, Sprechen, Mimik, Gestik – sind eine intensive Herausforderung.
Die grosse Hit-Mitte hat «Ein wenig Farbe» nicht. Dafür werden viele der durch die Bank sinnigen und schönen Songs fast zu Chansons, welche das Gesagte verdichten und vertiefen. Wichtig für die Musikalische Komödie ist diese Produktion, bei der queere Initiativen einen Informationstisch präsentieren und die Dramaturgin Inken Meents im Anschluss an jede Vorstellung Nachgespräche anbietet, weil es die in letzter Zeit ab und an in Frage gestellte Diskursrelevanz von Theater mit einem wesentlichen Informations- und Aufklärungsgehalt eindrücklich bestätigt. Langer zustimmender Applaus in einem der nur zwei deutschen Repertoiretheater für Operette und Musical.
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